Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistet jedem allgemeine Handlungsfreiheit, soweit er nicht Rechte anderer verletzt und nicht gegen das Sittengesetz oder gegen die verfassungsmäßige Ordnung verstößt. Zu dieser Ordnung gehören nicht nur die vom Normgeber gesetzten verfassungsmäßigen Vorschriften, sondern auch deren Auslegung durch den Richter und ebenso die im Wege zulässiger richterlicher Rechtsfortbildung getroffenen Entscheidungen [1]. Die Anwendung freiheitsbeschränkender Gesetze durch die Gerichte steht ihrerseits nur solange mit Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art.20 Abs. 3 GG) in Einklang, wie sie sich in den Grenzen vertretbarer Auslegung und zulässiger richterlicher Rechtsfortbildung bewegt [2].

Die Auslegung des einfachen Rechts, die Wahl der hierbei anzuwendenden Methoden sowie seine Anwendung auf den Einzelfall sind Sache der dafür zuständigen Fachgerichte; und vom Bundesverfassungsgericht nicht auf ihre Richtigkeit zu überprüfen. Nur wenn die Gerichte hierbei Verfassungsrecht verletzen, kann das Bundesverfassungsgericht auf eine Verfassungsbeschwerde hin eingreifen. Das ist nicht schon dann der Fall, wenn eine Entscheidung am einfachen Recht gemessen objektiv fehlerhaft ist [3]. Setzt sich die Auslegung jedoch in krassen Widerspruch zu den zur Anwendung gebrachten Normen und werden damit ohne entsprechende Grundlage im geltenden Recht Ansprüche begründet oder Rechtspositionen verkürzt, die der Gesetzgeber unter Konkretisierung allgemeiner verfassungsrechtlicher Prinzipien gewährt hat, so beanspruchen die Gerichte Befugnisse, die von der Verfassung dem Gesetzgeber übertragen sind [4].
Diese Verfassungsgrundsätze verbieten es dem Richter allerdings nicht, das Recht fortzuentwickeln. Angesichts des beschleunigten Wandels der gesellschaftlichen Verhältnisse und der begrenzten Reaktionsmöglichkeiten des Gesetzgebers sowie der offenen Formulierung zahlreicher Normen gehört die Anpassung des geltenden Rechts an veränderte Verhältnisse zu den Aufgaben der Dritten Gewalt [5]. Aus dem in Art.20 Abs. 3 GG angeordneten Vorrang des Gesetzes folgt kein Verbot für den Richter, gegebenenfalls vorhandene gesetzliche Lücken im Wege richterlicher Rechtsfortbildung zu schließen [6]. Der Aufgabe und Befugnis zur schöpferischen Rechtsfindung und Rechtsfortbildung sind jedoch mit Rücksicht auf den aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit unverzichtbaren Grundsatz der Gesetzesbindung der Rechtsprechung Grenzen gesetzt [7].
Die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung sind weiter, soweit die vom Gericht im Wege der Rechtsfortbildung gewählte Lösung dazu dient, der Verfassung, insbesondere verfassungsmäßigen Rechten des Einzelnen, zum Durchbruch zu verhelfen, da insoweit eine auch den Gesetzgeber treffende Vorgabe der höherrangigen Verfassung konkretisiert wird [8]. Umgekehrt sind die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung demgemäß bei einer Verschlechterung der rechtlichen Situation des Einzelnen enger gesteckt [9]; die Rechtsfindung muss sich umso stärker auf die Umsetzung bereits bestehender Vorgaben des einfachen Gesetzesrechts beschränken, je schwerer die beeinträchtigte Rechtsposition auch verfassungsrechtlich wiegt.
Im Bereich des Abgabenrechts werden die Anforderungen an eine über den Wortlaut hinausgehende Auslegung durch den aus dem Rechtsstaatsprinzip abzuleitenden Grundsatz der Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung verstärkt. Danach muss die eine Steuerpflicht begründende Norm nach Inhalt, Gegenstand, Zweck und Ausmaß hinreichend bestimmt und begrenzt sein, so dass eine Steuerlast in gewissem Umfang für den Bürger voraussehbar sowie überschaubar wird [10]. Adressat dieses Grundsatzes ist zunächst der Gesetzgeber [11], der um möglichst klare, bestimmte, exakt formulierte und in ihren Folgen vorhersehbare Normen bemüht sein muss [12]. Ein Verstoß eines Gerichts gegen den Grundsatz der Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung bei der Auslegung eines Steuergesetzes kommt dann in Betracht, wenn es einen gesetzlichen Steuertatbestand in verfassungswidriger Weise ausweitet [13]. Dementsprechend dürfen Steuerbegünstigungsvorschriften nicht in verfassungswidriger Weise einengend ausgelegt werden.
Das Bundesverfassungsgericht beschränkt seine Kontrolle darauf, ob die rechtsfortbildende Auslegung durch die Fachgerichte die gesetzgeberische Grundentscheidung und dessen Ziele respektiert [14] und ob sie den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung folgt [15]. Dabei umreißt die Auffassung, ein Richter verletze seine Gesetzesbindung gemäß Art.20 Abs. 3 GG durch jede Auslegung, die nicht im Wortlaut des Gesetzes vorgegeben ist, die Aufgabe der Rechtsprechung zu eng. Art.20 Abs. 3 GG verpflichtet die Gerichte, nach Gesetz und Recht zu entscheiden. Eine bestimmte Auslegungsmethode oder gar eine reine Wortinterpretation schreibt die Verfassung nicht vor [16]. Der Wortlaut des Gesetzes zieht im Regelfall keine starre Auslegungsgrenze [17]. Zu den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung gehört auch die teleologische Reduktion [18]. Sie ist dann vorzunehmen, wenn die auszulegende Vorschrift auf einen Teil der vom Wortlaut erfassten Fälle nicht angewandt werden soll, weil Sinn und Zweck der Norm, ihre Entstehungsgeschichte und der Gesamtzusammenhang der einschlägigen Regelungen gegen eine uneingeschränkte Anwendung sprechen [19].
Eine verfassungsrechtlich unzulässige richterliche Rechtsfortbildung ist dadurch gekennzeichnet, dass sie, ausgehend von einer teleologischen Interpretation, den klaren Wortlaut des Gesetzes hintanstellt, ihren Widerhall nicht im Gesetz findet; und vom Gesetzgeber nicht ausdrücklich oder – bei Vorliegen einer erkennbar planwidrigen Gesetzeslücke – stillschweigend gebilligt wird [17]. Richterliche Rechtsfortbildung überschreitet die verfassungsrechtlichen Grenzen, wenn sie deutlich erkennbare, möglicherweise sogar ausdrücklich im Wortlaut dokumentierte gesetzliche Entscheidungen abändert oder ohne ausreichende Rückbindung an gesetzliche Aussagen neue Regelungen schafft [20]. Auch darf sich der Rechtsanwender im gewaltenteilenden Rechtsstaat nicht über den klaren Wortlaut eines Gesetzes hinwegsetzen, um einem vermuteten Ziel des Gesetzgebers Wirkung zu verschaffen [21].
Diese Maßstäbe gelten auch in Bezug auf (kommunale Steuer-)Satzungen als Gesetze im materiellen Sinne [22].
Die Grenzen verfassungskonformer Auslegung ergeben sich grundsätzlich aus dem ordnungsgemäßen Gebrauch der anerkannten Auslegungsmethoden [23]. Eine Norm ist nur dann für verfassungswidrig zu erklären, wenn keine nach den anerkannten Auslegungsgrundsätzen zulässige und mit der Verfassung vereinbare Auslegung möglich ist. Lassen der Wortlaut, die Entstehungsgeschichte, der Gesamtzusammenhang der einschlägigen Regelung und deren Sinn und Zweck mehrere Deutungen zu, von denen eine zu einem verfassungsmäßigen Ergebnis führt, so ist diese geboten [24]. Die Möglichkeit einer verfassungskonformen Auslegung endet allerdings dort, wo sie mit dem Wortlaut und dem klar erkennbaren Willen des Normgebers in Widerspruch träte [25]. Anderenfalls könnten die Gerichte der rechtspolitischen Entscheidung des demokratisch legitimierten Normgebers vorgreifen oder diese unterlaufen [26]. Das Ergebnis einer verfassungskonformen Auslegung muss demnach nicht nur vom Wortlaut des Gesetzes gedeckt sein, sondern auch die prinzipielle Zielsetzung des Normgebers wahren [27]. Das gesetzgeberische Ziel darf nicht in einem wesentlichen Punkt verfehlt oder verfälscht werden [28].
Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 31. Oktober 2016 – 1 BvR 871/13
- BVerfGE 74, 129, 152[↩]
- vgl. BVerfGE 128, 193, 209[↩]
- vgl. BVerfGE 1, 418, 420; 18, 85, 92 f.; 113, 88, 103[↩]
- BVerfGE 128, 193, 209 m.w.N.[↩]
- vgl. BVerfGE 49, 304, 318; 82, 6, 12; 96, 375, 394; 122, 248, 267; 128, 193, 210[↩]
- vgl. BVerfGE 108, 150, 160[↩]
- vgl. BVerfGE 34, 269, 288; 49, 304, 318; 57, 220, 248; 74, 129, 152[↩]
- vgl. BVerfGE 34, 269, 284 ff., 291; 65, 182, 194 f.; 122, 248, 286 – abw. M.; 138, 377, 392 Rn. 41[↩]
- vgl. BVerfGE 65, 182, 194 f.; 71, 354, 362 f.; 122, 248, 286, 301 – abw. M.; 138, 377, 392 Rn. 41[↩]
- vgl. BVerfGE 13, 153, 160; 19, 253, 267; 34, 348, 365; 73, 388, 400[↩]
- vgl. BFH, Beschluss vom 01.04.2008 – XI B 223/07 3[↩]
- vgl. BVerfGE 108, 52, 75; 129, 1, 22 f.; 133, 143, 158 Rn. 41[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 24.04.1990 – 2 BvR 2/90 7[↩]
- vgl. BVerfGE 78, 20, 24; 111, 54, 82[↩]
- vgl. BVerfGE 96, 375, 395; 113, 88, 104; 122, 248, 258; 128, 193, 210 f.[↩]
- vgl. BVerfGE 88, 145, 166 f.[↩]
- vgl. BVerfGE 118, 212, 243[↩][↩]
- vgl. BVerfGE 35, 263, 279; 88, 145, 166 f.[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 07.04.1997 – 1 BvL 11/96, NJW 1997, S. 2230, 2231[↩]
- vgl. BVerfGE 126, 286, 306[↩]
- vgl. BVerfGE 118, 212, 244[↩]
- vgl. BVerfGE 65, 196, 210 ff.[↩]
- vgl. BVerfGE 119, 247, 274; 138, 64, 93 Rn. 86[↩]
- vgl. BVerfGE 88, 145, 166; 119, 247, 274[↩]
- vgl. BVerfGE 95, 64, 93; 99, 341, 358; 101, 312, 329 m.w.N.; 138, 64, 94 Rn. 86; stRspr[↩]
- vgl. BVerfGE 8, 71, 78 f.; 112, 164, 183[↩]
- vgl. BVerfGE 86, 288, 320; 119, 247, 274[↩]
- vgl. BVerfGE 119, 247, 274 m.w.N.; 138, 64, 94 Rn. 86[↩]