Nach den Erwägungen des Gesetzgebers setzt der (verschuldensunabhängige) Entschädigungsanspruch i.S. des § 198 GVG voraus, dass die Umstände, die zu einer Verlängerung der Verfahrensdauer geführt haben, innerhalb des staatlichen bzw. dem Staat zurechenbaren Einflussbereichs liegen müssen.

Eine zu Beginn der Corona-Pandemie hierdurch verursachte Verzögerung beim Sitzungsbetrieb führt nicht zur Unangemessenheit der gerichtlichen Verfahrensdauer i.S. des § 198 Abs. 1 GVG, da sie nicht dem staatlichen Verantwortungsbereich zuzuordnen ist. Bei der Corona-Pandemie und den zur Eindämmung getroffenen Schutzmaßnahmen handelt es sich nicht um ein spezifisch die Justiz betreffendes Problem, da sie -was ihr Personal und die Verfahrensbeteiligten anbelangt- ebenso betroffen ist wie andere öffentliche und private Einrichtungen und Betriebe.
Eine Verzögerung beim Sitzungsbetrieb eines Finanzgerichts, die durch den Beginn der Corona-Pandemie verursacht wurde, führt nach Ansicht des Bundesfinanzhofs daher nicht zur Unangemessenheit der gerichtlichen Verfahrensdauer.
Ein an einem gerichtlichen Verfahren Beteiligter hat gemäß § 198 GVG einen eigenständig einklagbaren Entschädigungsanspruch für immaterielle Nachteile, die ihm dadurch entstehen, dass sein Gerichtsverfahren nicht in angemessener Zeit beendet wird. Bei der Frage der Angemessenheit der Dauer finanzgerichtlicher Verfahren geht der Bundesfinanzhof im Regelfall von der Vermutung aus, dass der Finanzrichter bei einem typischen durchschnittlichen Klageverfahren gut zwei Jahre nach dem Eingang der Klage konsequent auf die Erledigung des Verfahrens hinwirken muss. Andernfalls kann ein Verfahrensbeteiligter für jeden einzelnen Verzögerungsmonat eine Entschädigung von 100 € beanspruchen. Voraussetzung hierfür ist u.a., dass er die Verzögerung des Verfahrens rechtzeitig gerügt hat.
Im hier vom Bundesfinanzhof entschiedenen Streitfall hatte der Kläger im Rahmen seiner gegen Umsatzsteuerbescheide gerichteten Klage zwei Jahre nach Klageeingang eine Verzögerungsrüge wegen der Besorgnis erhoben, dass das Verfahren nicht in angemessener Zeit abgeschlossen wird. Das Klageverfahren wurde acht Monate später -nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung- mit Zustellung des Urteils beendet.
Die nachfolgend vom Kläger erhobene Klage auf Entschädigung wegen überlanger Verfahrensdauer in Höhe von mindestens 600 € wies der Bundesfinanzhof ab. Er begründete dies im Wesentlichen damit, dass der Entschädigungsanspruch zwar verschuldensunabhängig sei, so dass es nicht auf ein pflichtwidriges Verhalten bzw. Verschulden der mit der Sache befassten Richter ankomme. Somit könne die unangemessene Verfahrensdauer auch nicht mit dem Hinweis auf eine chronische Überlastung der Gerichte, länger bestehende Rückstände oder eine angespannte Personalsituation gerechtfertigt werden. Nach den Erwägungen des Gesetzgebers müssten aber die verfahrensverzögernden Umstände zumindest innerhalb des staatlichen bzw. dem Staat zurechenbaren Einflussbereichs liegen. Dies hat der Bundesfinanzhof im vorliegenden Fall verneint. Die mehrmonatige Verzögerung des Ausgangsverfahrens beruhe auf Einschränkungen des finanzgerichtlichen Sitzungsbetriebs ab März 2020. Diese seien Folge der Corona-Pandemie und der zu ihrer Eindämmung ergriffenen Schutzmaßnahmen. Es handele sich nicht um ein spezifisch die Justiz betreffendes Problem, da andere öffentliche und private Einrichtungen und Betriebe ebenso betroffen (gewesen) seien. Die Corona-Pandemie sei -jedenfalls zu Beginn- als außergewöhnliches und in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschlands beispielloses Ereignis anzusehen, die weder in ihrem Eintritt noch in ihren Wirkungen vorhersehbar gewesen wäre. Von einem Organisationsverschulden der Justizbehörden im Hinblick auf die Vorsorge für die Aufrechterhaltung einer stets uneingeschränkten Rechtspflege könne daher ebenfalls nicht ausgegangen werden.
Wer infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erleidet, wird angemessen entschädigt (§ 198 Abs. 1 Satz 1 GVG). Gemäß Satz 2 der Vorschrift richtet sich die Angemessenheit der Verfahrensdauer nach den Umständen des Einzelfalles, insbesondere nach der Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens und nach dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter.
Diese gesetzlichen Maßstäbe beruhen auf der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des Bundesverfassungsgerichts1.
Nach dieser Entscheidung ist der Begriff der „Angemessenheit“ für Wertungen offen, die dem Spannungsverhältnis zwischen dem Interesse an einem möglichst zügigen Abschluss des Rechtsstreits einerseits und anderen, ebenfalls hochrangigen sowie verfassungs- und menschenrechtlich verankerten prozessualen Grundsätzen -wie dem Anspruch auf Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes durch inhaltlich möglichst zutreffende und qualitativ möglichst hochwertige Entscheidungen, der Unabhängigkeit der Richter und dem Anspruch auf den gesetzlichen Richter- Rechnung tragen. Danach darf die zeitliche Grenze bei der Bestimmung der Angemessenheit der Dauer des Ausgangsverfahrens nicht zu eng gezogen werden; dem Ausgangsgericht ist ein erheblicher Spielraum für die Gestaltung seines Verfahrens -auch in zeitlicher Hinsicht- einzuräumen. Zwar schließt es die nach der Konzeption des § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG vorzunehmende Einzelfallbetrachtung aus, im Rahmen der Auslegung der genannten Vorschrift konkrete Fristen zu bezeichnen, innerhalb der ein Verfahren im Regelfall abschließend erledigt sein sollte. Gleichwohl kann für ein finanzgerichtliches Klageverfahren, das im Vergleich zu dem typischen in dieser Gerichtsbarkeit zu bearbeitenden Verfahren keine wesentlichen Besonderheiten aufweist, die Vermutung aufgestellt werden, dass die Dauer des Verfahrens angemessen ist, wenn das Gericht gut zwei Jahre nach dem Eingang der Klage mit Maßnahmen beginnt, die das Verfahren einer Entscheidung zuführen sollen, und die damit begonnene („dritte“) Phase des Verfahrensablaufs nicht durch nennenswerte Zeiträume unterbrochen wird, in denen das Gericht die Akte unbearbeitet lässt. Dies gilt nicht, wenn der Verfahrensbeteiligte rechtzeitig und in nachvollziehbarer Weise auf Umstände hinweist, aus denen eine besondere Eilbedürftigkeit des Verfahrens folgt2.
Im Streitfall liegen keine Besonderheiten vor, die dazu führen könnten, von der Anwendung der genannten Regelvermutung für die Angemessenheit der Dauer finanzgerichtlicher Verfahren abzusehen.
Die Anwendung der in § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG beispielhaft genannten Kriterien führt zu dem Ergebnis, dass es sich beim Ausgangsverfahren um ein durchschnittliches erstinstanzliches Klageverfahren handelte.
Diese Einschätzung ergibt sich im hier entschiedenen Fall zunächst im Hinblick auf die Schwierigkeit des Verfahrens.
Entgegen der Behauptung des Klägers standen nicht ausschließlich Rechtsfragen im Streit.
Zwar hat sich das Finanzgericht im Ausgangspunkt mit der Frage befasst, welche Rechtsgrundsätze zur Bestimmung des umsatzsteuerlichen Leistungserbringers bzw. -empfängers gelten, wenn die zivilrechtlichen Vereinbarungen -durch Zwischenschaltung eines lediglich „pro forma“ agierenden Leistungserbringers- von den tatsächlichen Verhältnissen abweichen. Den Kernbereich der finanzgerichtlichen Entscheidung bildet indes die Sachverhaltsfeststellung und -würdigung durch das Finanzgericht. Denn das Vorbringen des Klägers richtete sich vor allem gegen die Übernahme der zivilgerichtlichen Feststellungen im Urteil des LG Berlin vom 07.09.2011 durch das Finanzgericht. Es sollte eine hiervon abweichende Sachverhaltsfeststellung, insbesondere durch (erneute) Vernehmung des Gesellschafter-Geschäftsführers der GmbH als Zeugen, erwirkt und damit eine Neubewertung der Leistungsbeziehungen im Rahmen des hier in Rede stehenden Finanzgerichtsprozesses ermöglicht werden.
Der Einschätzung, dass allein der „Auslandsbezug“ -wie der Beklagte annimmt- eine wesentliche Besonderheit darstellte, die zu einer Qualifizierung als überdurchschnittlich schwieriges Verfahren führen würde, vermag der Bundesfinanzhof ebenso wenig zu folgen wie derjenigen, es habe sich -so der Kläger- um einen in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht „sehr einfachen Fall“ gehandelt, bei der sich eine Übertragung des Rechtsstreits auf den Einzelrichter angeboten hätte.
Soweit der Kläger dies aus dem (angenommenen) Umstand ableiten will, das Urteil des Finanzgericht sei bereits am Tag der mündlichen Verhandlung am 21.08.2020 vollständig abgefasst worden, ist schon die zugrundeliegende Annahme unzutreffend. Ausweislich der Sitzungsniederschrift wurde zum Ende der mündlichen Verhandlung am 21.08.2020 kein Urteil, sondern der Beschluss verkündet, dass eine Entscheidung den Beteiligten zugestellt werde. Nach der Eintragung in dem auf dem Original der Entscheidung vorhandenen Stempel ging das FG-Urteil erst am 28.08.2020 bei der Geschäftsstelle ein. Danach hat die vollständige Abfassung des Urteils -bis zur Unterschrift durch sämtliche Berufsrichter- mehrere Tage in Anspruch genommen.
Unabhängig von der zeitlichen Dauer der Urteilsabfassung, die auch aufgrund eines bereits vor der mündlichen Verhandlung vorliegenden fundierten Berichts oder Entscheidungsentwurfs, der üblicherweise zum Zweck der Vorberatung der Berufsrichter erstellt wird, sehr kurz ausfallen kann, so dass allein hieraus ein Rückschluss auf den Schwierigkeitsgrad des Verfahrens nicht möglich erscheint, hat das Finanzgericht die Entscheidung des Rechtsstreits nicht dem Berichterstatter als Einzelrichter übertragen und dadurch selbst zu erkennen gegeben, dass die Sache jedenfalls aus seiner Sicht nicht ohne besondere Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art war (vgl. § 6 Abs. 1 Nr. 1 FGO). Diese Einschätzung überschreitet die Grenzen des dem Finanzgericht für seine Verfahrensgestaltung zukommenden weiten Gestaltungsraums eindeutig nicht.
Das Finanzgericht hat zwar keine Sachaufklärung für erforderlich gehalten. Es musste sich aber vorliegend -dies ist anspruchsvoll- damit befassen, ob es im Hinblick auf die gegebenen Umstände von der Möglichkeit, sich die Feststellungen aus einer anderen Gerichtsentscheidung zu eigen zu machen, Gebrauch machen sollte, unter welchen Voraussetzungen eine solche Übernahme von Feststellungen verfahrensfehlerfrei möglich wäre, ob die Voraussetzungen hier vorlägen und ob den Beweisangeboten des Klägers im Hinblick auf die gerichtliche Sachaufklärungspflicht noch nachzugehen wäre.
Die Bedeutung des Verfahrens für den Kläger ist ebenfalls als durchschnittlich einzuschätzen. Der Streitwert bewegte sich im mittleren Bereich. Konkrete Darlegungen, aus denen sich eine für ihn überdurchschnittliche Bedeutung des Falles ergeben hätte, hat der Kläger dem Finanzgericht nicht unterbreitet.
Besondere Gründe für eine Eilbedürftigkeit hat der Kläger weder innerhalb der zweijährigen Regelfrist noch mit seinen Verzögerungsrügen dem Finanzgericht gegenüber geltend gemacht.
Daher ist eine Betrachtung der konkreten Verfahrensabläufe unter Berücksichtigung der Regelvermutung für die Angemessenheit der Dauer finanzgerichtlicher Klageverfahren vorzunehmen. Diese führt zu dem Ergebnis, dass die Dauer des Ausgangsverfahrens nicht unangemessen war.
Die Zeitspanne von gut zwei Jahren, für die in einem durchschnittlichen finanzgerichtlichen Klageverfahren bei typisierender Betrachtung jedenfalls keine unangemessene Verfahrensdauer anzunehmen ist, endete -ausgehend von der Erhebung der Klage am 19.01.2018- mit Ablauf des Monats Januar 2020.
Nach der Verzögerungsrüge des Klägers forderte der Berichterstatter mit Verfügung vom 23.01.2020 vom Finanzamt die den Streitfall 5 K 5009/18 betreffenden Verwaltungsakten mit Fristsetzung bis zum 21.02.2020 an, die am 05.02.2020 beim Finanzgericht eingingen. Da die Verfügung zeitlich in den Februar 2020 hineinwirkte, ist für diesen Monat von einer Aktivität des Finanzgericht auszugehen, zumal vor Erhalt und Durchsicht der umfangreichen Akten (drei Bände Steuerakten, zwei Leitzordner) -auch unter dem Gesichtspunkt der erforderlichen Bearbeitungszeit- keine weitergehenden Maßnahmen erwartet werden konnten.
Für die nachfolgenden Monate ab März 2020 bis einschließlich Juni 2020 (dem Monat vor der Ladung zur mündlichen Verhandlung am 08.07.2020) ist von einer pandemiebedingten Verzögerung des Klageverfahrens auszugehen, die dem Beklagten für die Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer gemäß § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG nicht zuzurechnen ist.
Diese Wertung beruht auf den gesetzgeberischen Erwägungen, die der Gesetzeshistorie zu § 198 GVG zu entnehmen sind.
Nach der im „Entwurf eines Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren“ der Bundesregierung vom 17.11.20103 enthaltenen Begründung zu § 198 Abs. 1 GVG ist der für einen Entschädigungsanspruch maßgebliche Tatbestand die Verletzung des Anspruchs eines Verfahrensbeteiligten aus Art.19 Abs. 4 GG, Art.20 Abs. 3 GG und aus Art. 6 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention auf Entscheidung eines gerichtlichen Verfahrens in angemessener Zeit.
In der Gesetzesbegründung wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es nicht entscheidend sei, ob sich der zuständige Spruchkörper pflichtwidrig verhalten habe. Die Feststellung unangemessener Verfahrensdauer impliziere dementsprechend umgekehrt auch für sich allein keinen Schuldvorwurf für die mit der Sache befassten Richter. Der Staat könne sich zur Rechtfertigung der überlangen Dauer des Verfahrens nicht auf Umstände innerhalb des staatlichen Verantwortungsbereichs berufen; vielmehr müsse er alle notwendigen Maßnahmen treffen, damit Gerichtsverfahren innerhalb angemessener Frist beendet werden könnten. Deshalb könne bei der Frage der angemessenen Verfahrensdauer nicht auf eine chronische Überlastung eines Gerichts, länger bestehende Rückstände oder eine allgemein angespannte Personalsituation abgestellt werden. Der hier normierte Anspruch sei ein staatshaftungsrechtlicher Anspruch sui generis auf Ausgleich für Nachteile infolge rechtswidrigen hoheitlichen Verhaltens und setze ein Verschulden des Gerichts nicht voraus4.
Für die Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer sei aber auch das Verhalten sonstiger Verfahrensbeteiligter sowie das Verhalten Dritter relevant. Werde eine Verzögerung durch das Verhalten Dritter ausgelöst, komme es darauf an, inwieweit dies dem Gericht zugerechnet werden könne. Ein Verzögerungen auslösendes Verhalten Dritter, auf das das Gericht keinen Einfluss habe, könne keine Unangemessenheit der Verfahrensdauer begründen5.
Nach den vorstehenden Erwägungen des Gesetzgebers setzt der (verschuldensunabhängige) Entschädigungsanspruch hoheitliches Verhalten voraus, dass die Umstände, die zu einer Verlängerung der Verfahrensdauer geführt haben, innerhalb des staatlichen bzw. des dem Staat zurechenbaren Einflussbereichs liegen müssen.
Die Berücksichtigung des Verhaltens der Verfahrensbeteiligten dient insoweit ebenfalls dazu, die Verantwortung für eine eingetretene Verzögerung bei wertender Betrachtung nach Verantwortungssphären zu verteilen. Entscheidend ist, ob eine Ursache letztlich der Sphäre des Beteiligten zugerechnet wird oder ob sie in den Verantwortungsbereich des Gerichts fällt6. Verlängerungen der Verfahrensdauer durch eine Tätigkeit Dritter, die das Gericht nicht beeinflussen kann, begründen keine dem Staat zurechenbare Verzögerung7.
Nach diesen Maßstäben führt eine zu Beginn der Corona-Pandemie hierdurch verursachte Verzögerung nicht zur Unangemessenheit der gerichtlichen Verfahrensdauer i.S. des § 198 Abs. 1 GVG, da sie nicht dem staatlichen Verantwortungsbereich zuzuordnen ist.
Nach Ansicht des Bundesfinanzhofs sind die zu Beginn der Corona-Pandemie eingetretenen Verzögerungen wertungsmäßig den durch das nicht gerichtlich beeinflussbare Verhalten eines Dritten bedingten Verzögerungen gleichzusetzen, da sie weder in die Verantwortungssphäre der Verfahrensbeteiligten noch des Gerichts fallen. Eine solche -dem Staat nicht zurechenbare- Verfahrensverlängerung soll nach den gesetzgeberischen Erwägungen keinen Entschädigungsanspruch auslösen.
Der weltweite Ausbruch der durch das neue Coronavirus SARS-CoV-2 ausgelösten Erkrankung COVID-19 wurde am 11.03.2020 von der Weltgesundheitsorganisation zur Pandemie erklärt.
Im Hinblick auf die Gefahr der Ansteckung mit dem Coronavirus, der Erkrankung vieler Personen, der Überlastung der gesundheitlichen Einrichtungen bei der Behandlung schwerwiegender Fälle und schlimmstenfalls des Todes von Menschen8 haben Bund und Länder frühzeitig durch Verordnungen Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des Virus und zum Schutz der Bevölkerung ergriffen, die ab März 2020 u.a. die Einhaltung von Abständen und Hygienevorschriften, Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen, eine weitgehende Untersagung von Veranstaltungen und Versammlungen, des Betriebs von Gastronomie- und Dienstleistungseinrichtungen sowie von Freizeit, Kultur, Sport- und Vergnügungsstätten vorsahen. Dies führte dazu, dass zahlreiche Arbeitnehmer von Präsenzaktivitäten im jeweiligen Betrieb bzw. in der jeweiligen öffentlichen oder privaten Einrichtung zu einer Tätigkeit im Homeoffice übergehen mussten bzw. hierzu angehalten wurden.
Für die Gerichte ergaben sich die vom Beklagten beschriebenen Folgen: Insbesondere kam es zur Einrichtung eines Notbetriebs und zur vorläufigen Einstellung des Sitzungsbetriebs, der erst nach Erstellung von Hygiene- und Schutzkonzepten und Umsetzung der zur Vermeidung von Infektionen erforderlichen Maßnahmen (Einhaltung von Mindestabständen zwischen den teilnehmenden Personen, Vermeidung von Begegnungsverkehr durch Nutzung nur eines Sitzungssaals pro Etage, Beschränkung auf Sitzungsräume mit ausreichender Größe und Belüftung, (bauliche) Anpassung der Sitzungsräume z.B. durch Ausstattung mit Trennwänden, usw.) stufenweise wieder aufgenommen werden konnte.
Bei der Pandemie handelt es sich um ein außergewöhnliches und in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland beispielloses Ereignis9.
Vor diesem Hintergrund kann von einem Organisationsverschulden dergestalt, dass die Justizbehörden im Hinblick auf eine -weder in ihrem Eintritt noch in ihren Wirkungen vorhersehbare- pandemische Lage Vorsorge für die Aufrechterhaltung einer stets uneingeschränkten Rechtspflege hätten treffen müssen, nicht ausgegangen werden.
Bei der Corona-Pandemie und den zur Eindämmung getroffenen Schutzmaßnahmen handelt es sich nicht um ein spezifisch die Justiz betreffendes Problem, da sie -was ihr Personal und die Verfahrensbeteiligten anbelangt- ebenso betroffen ist wie andere öffentliche und private Einrichtungen, Betriebe, usw. Die Infektionsgefahr ist zudem nicht arbeitsplatzbezogen10; vielmehr gehört ein gewisses Infektionsrisiko mit dem neuartigen Coronavirus derzeit für die Gesamtbevölkerung zum allgemeinen Lebensrisiko11.
Die beschriebenen Folgen der „ersten Welle“ der Corona-Pandemie haben auch konkret im Streitfall für die Monate ab März 2020 bis einschließlich Juni 2020 zu einer pandemiebedingten Verzögerung des Klageverfahrens geführt.
Der Argumentation des Klägers, der Beklagte habe sich selbst eine „sitzungsfreie Zeit“ verordnet und Umbaumaßnahmen im Finanzgerichtsgebäude veranlasst, so dass er im Rahmen des § 198 GVG als Verursacher der Verzögerungen anzusehen sei, vermag der Bundesfinanzhof nach den vorstehenden Darlegungen schon im Ausgangspunkt nicht zu folgen.
Die vom Ministerium der Justiz des Landes Brandenburg und dem Präsidenten des Finanzgericht getroffenen Einschränkungen und Vorkehrungen stellen sich lediglich als Teil der von den staatlichen Stellen für alle Lebensbereiche getroffenen pandemiebedingten Schutzmaßnahmen -hier für den Gerichtsbereich- dar. Eine Bewertung solcher -unvorhersehbar erforderlich werdender- Schutzmaßnahmen als mögliche Ursache für eine unangemessene Dauer des Verfahrens i.S. des § 198 GVG verbietet sich dem Bundesfinanzhof daher, zumal staatlichen Stellen bei der Erfüllung ihrer Schutzpflichten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ein erheblicher Einschätzungs, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zukommt12.
Aus diesem Grund scheidet auch eine -an den konkreten Verhältnissen beim jeweiligen Gericht orientierte- ex-post-Betrachtung aus, ob der Sitzungsbetrieb im Hinblick auf den vorstehenden Gesichtspunkt des Gesundheitsschutzes früher als geschehen wieder hätte aufgenommen werden können.
Im Streitfall waren aufgrund der besonderen, zu Beginn der Corona-Pandemie gegebenen Verhältnisse für die Monate März 2020 bis einschließlich Juni 2020 keine weitergehenden als die vom Finanzgericht ergriffenen Maßnahmen erforderlich.
Im Streitfall wäre die nächste -auf Verfahrensbeendigung gerichtete- Aktivität des Finanzgericht die Ladung zur mündlichen Verhandlung gewesen, die zur Vermeidung einer unangemessenen Dauer des Ausgangsverfahrens grundsätzlich im März 2020 hätte ergehen müssen.
Im Hinblick auf die bereits im Laufe des Monats März 2020 beginnende Pandemie kann dem Finanzgericht aber nicht angelastet werden, dass es noch in diesem Monat -soweit im Rahmen des Notbetriebs überhaupt möglich- keine Ladung für einen auf absehbare Zeit nicht möglichen Sitzungstermin mehr aussprach.
Für den Zeitraum April 2020 bis in den Folgemonat Mai hinein war ein Sitzungsbetrieb nicht möglich. Auch im Hinblick auf die nur stufenweise Wiederaufnahme des Gerichtsbetriebs, insbesondere des Sitzungsbetriebs, wäre es erst im Laufe des Mai 2020 wieder möglich gewesen, zu mündlichen Verhandlungen zu laden.
Auch wenn sich mit zunehmender Verfahrensdauer die Pflicht des Gerichts verdichtet, sich nachhaltig um eine Förderung, Beschleunigung und Beendigung des Verfahrens zu bemühen13, ist im Streitfall nicht zu erkennen, dass das Ausgangsgericht den ihm -zur Auflösung des pandemiebedingt entstandenen „Sitzungsstaus“- einzuräumenden Einschätzungsspielraum überschritten hätte und daher für die Monate Mai und Juni 2020 eine Verzögerung i.S. von § 198 Abs. 1 GVG vorläge.
Danach war es für diese Monate geboten, für das Ausgangsverfahren einen Sitzungstermin jedenfalls innerhalb des für Ladungen zur mündlichen Verhandlung noch als angemessen anzusehenden Zeitraums von drei Monaten zu bestimmen14. Der vom Finanzgericht angesetzte Termin zur mündlichen Verhandlung des in Rede stehenden Klageverfahrens am 21.08.2020 fällt in den im Mai 2020 beginnenden Drei-Monats-Zeitraum.
Es war angesichts der besonderen Situation im ersten Halbjahr 2020 nicht zwingend, das Ausgangsverfahren bereits tatsächlich im Mai 2020 für den August 2020 zu laden. Ebenso wenig war es notwendig, auf den nächstmöglichen Verhandlungstermin zu laden, da die ursprünglich für März/April 2020 anberaumten, wegen der Pandemiebeschränkungen allerdings aufgehobenen, Sitzungen noch nachzuholen waren und zur Ingangsetzung eines normalen Sitzungsbetriebs in ersten mündlichen Verhandlungen am 19.06.2020 und 03.07.2020 abgearbeitet werden mussten.
Vor diesem Hintergrund hält sich der unter den Bedingungen der Corona-Pandemie vom Finanzgericht gewählte Ladungsgang, von einer möglichen längerfristigen Ladung des Ausgangsverfahrens im Mai bzw.06.2020 abzusehen und stattdessen im Juli 2020 kurzfristig für August 2020 einen Termin zur mündlichen Verhandlung zu bestimmen, im Rahmen eines auch hinsichtlich der Monate Mai und Juni 2020 nicht als Verzögerung zu wertenden Verfahrensablaufs.
Soweit der Kläger geltend macht, das Finanzgericht hätte eine frühere Entscheidung durch Erlass eines Gerichtsbescheides oder -nach entsprechender Anfrage bei den Beteiligten- durch Urteil ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung herbeiführen können, rechtfertigt dies keine andere Entscheidung.
Eine solche gerichtliche Aktivität kann auch unter entschädigungsrechtlichen Aspekten nicht gefordert werden. Denn die Entscheidung über die Durchführung oder Nichtdurchführung einer mündlichen Verhandlung steht im Ermessen des Finanzgericht15. Ebenso liegt es im Ermessen des Gerichts, ob es von der Möglichkeit Gebrauch macht, gemäß § 90a Abs. 1 FGO ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid zu entscheiden16.
Unabhängig davon, dass der Kläger selbst derartige Formen der Entscheidung dem Finanzgericht nicht vorgeschlagen hatte, ist auch zu berücksichtigen, dass der Kläger -durchgehend- auf die Einvernahme von Zeugen gerichtete Beweisanträge gestellt hatte. Vor diesem Hintergrund musste das Finanzgericht von vornherein davon ausgehen, dass der Kläger einer Entscheidung ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung, in deren Rahmen die von ihm begehrte Beweisaufnahme allein hätte erfolgen können, nicht zustimmen würde bzw. es mit dem Erlass eines Gerichtsbescheides nicht sein Bewenden haben würde. Indem das Finanzgericht zur mündlichen Verhandlung geladen hat, hat es dem Kläger Gelegenheit gegeben, den im Ausland wohnhaften und zu einem Auslandssachverhalt benannten Gesellschafter-Geschäftsführer der GmbH zum Zweck der Zeugeneinvernahme zur Sitzung mitzubringen. Dass dem Kläger dies ermöglicht wurde, kann dem Finanzgericht in entschädigungsrechtlicher Hinsicht daher nicht vorgehalten werden.
Bundesfinanzhof, Urteil vom 27. Oktober 2021 – X K 5/20
- vgl. BFH, Urteil vom 07.11.2013 – X K 13/12, BFHE 243, 126, BStBl II 2014, 179, Rz 48 ff.[↩]
- vgl. BFH, Urteil vom 27.06.2018 – X K 3-6/17, BFH/NV 2019, 27, Rz 48[↩]
- BT-Drs. 17/3802[↩]
- vgl. BT-Drs. 17/3802, S.19[↩]
- vgl. BT-Drs. 17/3802, S. 18[↩]
- vgl. Röhl in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, § 198 GVG (Stand: 10.12.2020) Rz 45[↩]
- vgl. Röhl, a.a.O., § 198 Rz 50[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 10.04.2020 – 1 BvQ 31/20 Rz 13[↩]
- vgl. OVG NRW, Beschluss vom 06.04.2020 – 13 B 398/20.NE, Nordrhein-Westfälische Verwaltungsblätter 2020, 251, Rz 61[↩]
- vgl. LG Münster, Urteil vom 08.04.2021 – 115 O 150/20, Recht und Schaden 2021, 589, Rz 37[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 19.05.2020 – 2 BvR 483/20, NJW 2020, 2327, Rz 9[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss in NJW 2020, 2327, Rz 8[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 27.07.2004 – 1 BvR 1196/04, NJW 2004, 3320, unter II. 2.a, m.w.N.; BFH, Urteil in BFHE 243, 126, BStBl II 2014, 179, Rz 55[↩]
- vgl. BFH, Urteil vom 07.05.2014 – X K 11/13, BFH/NV 2014, 1748, Rz 56, zur Unbedenklichkeit eines Terminierungsvorlaufs von drei Monaten[↩]
- vgl. BFH, Urteil vom 31.08.2010 – VIII R 36/08, BFHE 231, 1, BStBl II 2011, 126, Rz 30[↩]
- vgl. BFH, Beschluss vom 31.08.2006 – II E 4/06, BFH/NV 2007, 73, unter II. 2.[↩]
Bildnachweis:
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