Überlange Gerichtsverfahren – und die Rückwirkung der Verzögerungsrüge

Es ist kein Zeichen eines unzulässigen „Duldens und Liquidierens“, wenn der Kläger auf die Ankündigung des Gerichts, das Verfahren zu einem bestimmten Zeitpunkt voraussichtlich abzuschließen, vertraut und ihm damit die Möglichkeit gibt, das Verfahren den eigenen Planungen entsprechend zu betreiben. In einem solchen Fall kann eine Verzögerungsrüge länger als nur den Regelzeitraum von sechs Monaten zurückwirken.

Überlange Gerichtsverfahren – und die Rückwirkung der Verzögerungsrüge

Die Entschädigung in Geld setzt nach § 198 Abs. 3 Satz 1 GVG voraus, dass der Verfahrensbeteiligte bei dem mit der Sache befassten Gericht die Dauer des Verfahrens gerügt hat (Verzögerungsrüge). Nach § 198 Abs. 3 Satz 2 Halbsatz 1 GVG kann die Verzögerungsrüge erst erhoben werden, wenn Anlass zur Besorgnis besteht, dass das Verfahren nicht in einer angemessenen Zeit abgeschlossen wird. Wird die Rüge zur Unzeit erhoben, geht die Rüge „ins Leere“1 und wird auch dann nicht wirksam, wenn später tatsächlich eine unangemessene Verfahrensdauer eintritt. Die Besorgnis der Verzögerung i.S. des § 198 Abs. 3 Satz 2 Halbsatz 1 GVG erfordert zwar noch nicht, dass eine Verzögerung bereits eingetreten ist2, ist aber auch nicht voraussetzungslos. Maßgeblich ist, wann ein Betroffener erstmals Anhaltspunkte dafür hat, dass das Verfahren als solches keinen angemessen zügigen Fortgang nimmt3.

So auch in dem hier vom Bundesfinanzhof entschiedenen Fall: Als die Klägerin im Januar 2013 und im August 2013 die beiden (ersten) Verzögerungsrügen erhob, waren solche Anhaltspunkte objektiv noch nicht erkennbar. Das Verfahren war zu diesem Zeitpunkt sechs Monate bzw. 13 Monate anhängig. Von der Schwelle der „gut zwei Jahre“ ab Klageeingang war auch der spätere Zeitpunkt noch zehn Monate entfernt. Nachvollziehbare Umstände, die seinerzeit dafür hätten sprechen können, dass das Finanzgericht das Verfahren nicht zügig bearbeiten würde, waren zu diesem Zeitpunkt noch nicht auszumachen.

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Die Klägerin hat eine wirksame Verzögerungsrüge am 14.07.2015 erhoben. Zu diesem Zeitpunkt war das Verfahren zwar bereits drei Jahre alt. Die Verzögerungsrüge war aber dennoch nicht verspätet und wirkt im konkreten Streitfall auch auf den Beginn der zu dem Zeitpunkt bereits seit knapp zwölf Monaten bestehenden Verfahrensverzögerung zurück.

Der Bundesfinanzhof hat in seinem Urteil in BFHE 253, 205, BStBl II 2016, 694, unter II. 3. die unbeschränkte Rückwirkung von Verzögerungsrügen verneint, da diese dem präventiven Aspekt des Gesetzeszwecks nicht entspricht, sondern diesen leerlaufen lässt. Um trotzdem die Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit der Rechtsprechung im Bereich der Entschädigungsklagen zu verbessern, erschien es dem Bundesfinanzhof notwendig, den in der Rechtspraxis nur schwer fassbaren Zeitraum eines unzulässigen „Duldens und Liquidierens“ durch eine Vermutungsregel zu typisieren. Er hat für den Regelfall einen Zeitraum von gut sechs Monaten, für den eine Verzögerungsrüge zurückwirkt, als angemessen und zumutbar angesehen.

Ein solcher Regelfall ist vorliegend nicht gegeben, denn aufgrund der Besonderheiten des Streitfalls wäre eine nur beschränkte Rückwirkung der Verzögerungsrüge nicht gerechtfertigt. Die Klägerin hatte auf ihre zweite Verzögerungsrüge im August 2013 die Antwort des Vorsitzenden des zuständigen Bundesfinanzhofs des Finanzgericht erhalten, der Bundesfinanzhof sei bestrebt, das Verfahren im Jahr 2014 abzuschließen. In einer solchen Konstellation ist es kein Zeichen eines unzulässigen „Duldens und Liquidierens“ eines Klägers, wenn dieser auf die Ankündigung des Gerichts vertraut und diesem die Möglichkeit gibt, den eigenen Planungen entsprechend das Verfahren zu betreiben. Die Geduld eines Klägers soll nämlich nach der Begründung des Regierungsentwurfs eines Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren nicht „bestraft“ werden4.

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Aus demselben Grund ist es unschädlich, dass die Klägerin nicht sofort nach Ablauf des vom Finanzgericht angekündigten Bearbeitungszeitraums Ende 2014, sondern erst sechs Monate später zum dritten Mal die Verzögerung gerügt hat. Dass sie dem Finanzgericht noch eine weitere Karenzzeit von sechs Monaten gewährt hat, deutet ebenfalls nicht auf ein „Dulden und Liquidieren“ hin, sondern stellt vielmehr ein nachvollziehbares Abwarten dar. Eine Begrenzung der Rückwirkung der Verzögerungsrüge ist in einer solchen Konstellation nicht angemessen.

Bundesfinanzhof, Urteil vom 29. November 2017 – X K 1/16

  1. BT-Drs. 17/3802, S.20[]
  2. vgl. BFH, Urteil vom 17.06.2014 – X K 7/13, BFH/NV 2015, 33, unter II. 2.[]
  3. BGH, Urteil vom 21.05.2014 – III ZR 355/13, NJW 2014, 2443, unter II. 3.a[]
  4. BR-Drs. 540/10, S. 28[]