Überlange Verfahren vor den Finanzgerichten

Der Bundesfinanzhof hatte zum zweiten Mal1 über einen Entschädigungsanspruch zu entscheiden, der wegen der überlangen Dauer eines finanzgerichtlichen Klageverfahrens geltend gemacht worden war. In der aktuellen Entscheidung hat der für alle Entschädigungsklagen aus dem Bereich der Finanzgerichtsbarkeit in erster und letzter Instanz zuständige Bundesfinanzhof erstmals allgemeine Leitlinien für die Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer finanzgerichtlicher Verfahren aufgestellt:

Überlange Verfahren vor den Finanzgerichten
  1. Die Dauer eines Gerichtsverfahrens ist nur dann „unangemessen“ i.S des § 198 GVG, wenn eine deutliche Überschreitung der äußersten Grenze des Angemessenen feststellbar ist.
  2. Die gemäß § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG im Vordergrund stehende Einzelfallbetrachtung schließt es aus, konkrete Fristen für die Gesamtdauer eines Verfahrens zu bezeichnen, bei deren Überschreitung die Verfahrensdauer als unangemessen anzusehen ist. Allerdings spricht bei einem finanzgerichtlichen Klageverfahren, das im Vergleich zu dem bei derartigen Verfahren typischen Ablauf keine wesentlichen Besonderheiten aufweist, eine Vermutung dafür, dass die Dauer des Verfahrens angemessen ist, wenn das Gericht gut zwei Jahre nach dem Eingang der Klage mit Maßnahmen beginnt, die das Verfahren einer Entscheidung zuführen sollen, und die damit begonnene Phase der gerichtlichen Aktivität nicht durch nennenswerte Zeiträume unterbrochen wird, in denen das Gericht das Verfahren unbearbeitet lässt.
  3. Die genannte Angemessenheitsvermutung steht stets unter dem Vorbehalt der Betrachtung der besonderen Umstände des Einzelfalls. Sie gilt insbesondere nicht, wenn ein Verfahrensbeteiligter das Gericht rechtzeitig und in nachvollziehbarer Weise auf Gründe hinweist, die für eine besondere Eilbedürftigkeit des Verfahrens sprechen. Unabhängig davon verdichtet sich mit zunehmender Verfahrensdauer die Pflicht des Gerichts, sich nachhaltig um eine Förderung, Beschleunigung und Beendigung des Verfahrens zu bemühen.
  4. In einem Verfahren, das im Zeitpunkt des Inkrafttretens des ÜberlVfRSchG (3. Dezember 2011) bereits verzögert war, gilt eine Verzögerungsrüge als unverzüglich nach Inkrafttreten dieses Gesetzes erhoben und wahrt damit gemäß Art. 23 Satz 2 und 3 ÜberlVfRSchG Entschädigungsansprüche auch für die Zeit vor Inkrafttreten des Gesetzes, wenn sie spätestens drei Monate nach Inkrafttreten des Gesetzes beim Ausgangsgericht eingeht.

Wie der Bundesfinanzhof in der aktuellen Entscheidung betont, ist der Anspruch auf eine zügige Erledigung des Rechtsstreits stets abzuwägen mit dem Anspruch auf eine möglichst weitgehende inhaltliche Richtigkeit und eine möglichst hohe Qualität gerichtlicher Entscheidungen, dem Grundsatz der Unabhängigkeit der Richter und dem Anspruch auf den gesetzlichen Richter. Dem Ausgangsgericht steht ein erheblicher Spielraum für die Gestaltung seines Verfahrens zu. Mit zunehmender Verfahrensdauer verdichtet sich allerdings die Pflicht, sich nachhaltig um eine Förderung, Beschleunigung und Beendigung des Verfahrens zu bemühen.

Da die gesetzliche Regelung (§ 198 GVG) den konkreten Einzelfall in den Vordergrund stellt, können keine festen Fristen bezeichnet werden, in denen ein Verfahren im Regelfall abschließend erledigt sein muss. Angesichts der im Vergleich zu anderen Gerichtsbarkeiten relativ homogenen Fallstruktur in der Finanzgerichtsbarkeit können jedoch für bestimmte Abschnitte des Verfahrens in zeitlicher Hinsicht Angemessenheitsvermutungen aufgestellt werden. Bei finanzgerichtlichen Klageverfahren, die im Vergleich zu dem bei derartigen Verfahren typischen Ablauf keine wesentlichen Besonderheiten aufweisen, spricht eine Vermutung für die Angemessenheit der Verfahrensdauer, wenn das Gericht gut zwei Jahre nach dem Eingang der Klage mit Maßnahmen beginnt, die das Verfahren einer Entscheidung zuführen sollen, und die damit begonnene „aktive“ Phase des gerichtlichen Handelns nicht durch nennenswerte Zeiträume unterbrochen wird, in denen das Gericht die Akte unbearbeitet lässt.

Im konkreten Fall war ein Klageverfahren, mit dem ein höherer Kindergeldanspruch geltend gemacht wurde, insgesamt acht Jahre und neun Monate beim Finanzgericht anhängig. Da der Fall in rechtlicher Hinsicht schwierig war und Sachverhaltsermittlungen im Ausland erforderte, war dem Finanzgericht hier ein überdurchschnittlich langer Zeitraum zur Bearbeitung des Verfahrens einzuräumen. Gleichwohl hat der Bundesfinanzhof bei einer Betrachtung aller Umstände des Einzelfalls eine Verzögerung um insgesamt 43 Monate angenommen, weil das Verfahren, auch wegen mehrfachen Wechsels des zuständigen Berichterstatters, immer wieder über längere Zeiträume unbearbeitet geblieben ist.

Der Bundesfinanzhof hat hier zunächst durch Zwischenurteil nur über den Entschädigungsanspruch dem Grunde nach entschieden und diesen bejaht. Die Entscheidung über die Höhe der Entschädigung ist dem noch ausstehenden Endurteil vorbehalten.

Die erforderliche Verfahrensrüge

Der Kläger hat im Ausgangsverfahren eine Verzögerungsrüge so rechtzeitig angebracht, dass auch Entschädigungsansprüche für die Zeit vor dem Inkrafttreten des ÜberlVfRSchG gewahrt sind. Die Frage der Erhebung bzw. Rechtzeitigkeit einer Verzögerungsrüge betrifft entgegen der Auffassung des Beklagten nicht die Zulässigkeit, sondern allein die Begründetheit der Entschädigungsklage. Zwar kann der vom Kläger bereits vor Inkrafttreten des ÜberlVfRSchG angebrachte Hinweis auf die Verfahrensdauer nicht als Verzögerungsrüge i.S. des § 198 Abs. 3 GVG angesehen werden. Jedoch ist das Schreiben des Klägers vom 15.02.2012 als Verzögerungsrüge auszulegen. Diese Rüge ist noch als „unverzüglich“ nach Inkrafttreten des ÜberlVfRSchG erhoben anzusehen.

Anders als der Beklagte meint, hätte das Fehlen einer Verzögerungsrüge oder die nicht unverzügliche Erhebung einer solchen Rüge nicht die Unzulässigkeit der Entschädigungsklage zur Folge. Vielmehr ist die Verzögerungsrüge lediglich materielle Voraussetzung eines Anspruchs auf Geldentschädigung2. Dies folgt bereits aus der Regelung des § 198 Abs. 4 Satz 3 GVG, wonach die Feststellung einer überlangen Verfahrensdauer –die im Verfahren über eine Entschädigungsklage keinen gesonderten Antrag voraussetzt– auch dann ausgesprochen werden kann, wenn die in § 198 Abs. 3 GVG genannten Voraussetzungen nicht erfüllt sind.

Das Schreiben des Klägers vom 08.08.2011 kann nicht als Verzögerungsrüge i.S. des § 198 Abs. 3 GVG angesehen werden. Zwar hat der Kläger schon in diesem Schreiben eine überlange Verfahrensdauer ausdrücklich unter Hinweis auf den seinerzeit von den gesetzgebenden Körperschaften beratenen Entwurf des ÜberlVfRSchG gerügt. Zu diesem Zeitpunkt war das ÜberlVfRSchG –und damit die Vorschrift des § 198 Abs. 3 GVG– aber noch nicht in Kraft getreten. Das genannte Gesetz ist am Tage nach seiner Verkündung –d.h. am 3.12.2011– in Kraft getreten. Zwar gilt es auch für Verfahren, die bei seinem Inkrafttreten bereits anhängig waren (Art. 23 Satz 1 ÜberlVfRSchG). Für diese Verfahren enthält Art. 23 Satz 2 ÜberlVfRSchG aber die zusätzliche Maßgabe, dass die Verzögerungsrüge „unverzüglich nach Inkrafttreten“ erhoben werden muss. Eine bereits vor dem Inkrafttreten des Gesetzes erhobene Verzögerungsrüge erfüllt diese Voraussetzung nicht.

Allerdings ist nicht erst das Schreiben des Klägers vom 21.03.2012 –in dem er erstmals ausdrücklich den Begriff „Verzögerungsrüge“ verwendet hat–, sondern bereits das Schreiben vom 15.02.2012, das am 16.02.2012 beim Finanzgericht eingegangen ist, als Verzögerungsrüge i.S. des § 198 Abs. 3 GVG anzusehen.

Die genannte Vorschrift stellt keine besonderen Anforderungen an die Form oder den Mindestinhalt einer Verzögerungsrüge. In den Gesetzesmaterialien findet sich die –mit dem Gesetzeswortlaut in Einklang stehende– Auffassung, eine Verzögerungsrüge könne auch mündlich erhoben werden3; auch brauche sie nicht begründet werden, insbesondere genüge ein schlichter Hinweis auf die bisherige Verfahrensdauer4. Aus dem Wortlaut und der Entstehungsgeschichte des Gesetzes folgt daher, dass auch eine nicht ausdrücklich als „Verzögerungsrüge“ bezeichnete Äußerung eines Verfahrensbeteiligten im Wege der Auslegung als Verzögerungsrüge i.S. des § 198 Abs. 3 GVG angesehen werden kann.

Bei der Verzögerungsrüge handelt es sich auch nicht um eine Prozesshandlung im engeren Sinne, weil sie auf das im Ausgangsverfahren bestehende Prozessrechtsverhältnis nicht unmittelbar rechtsgestaltend einwirkt. Die an Prozesshandlungen zu stellenden Anforderungen im Hinblick auf die Klarheit, Eindeutigkeit und Bedingungsfeindlichkeit derartiger Äußerungen gelten für Verzögerungsrügen daher nicht.

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Die erforderliche Auslegung des Schreibens des Klägers vom 15.02.2012 führt zu dem Ergebnis, dass es sich dabei um eine Verzögerungsrüge gehandelt hat. Der Kläger hat darin erklärt, „ohne eine klare Richtungsvorgabe“ des Finanzgericht gegenüber der Familienkasse müsse die Entscheidung des EGMR vom 2. September 20105 „und die mittlerweile geschaffene Rechtsgrundlage“ Anwendung finden. Mit dem vom Kläger genannten Urteil des EGMR ist die Bundesrepublik Deutschland verpflichtet worden, innerhalb eines Jahres nach Endgültigkeit jener Entscheidung einen Rechtsbehelf gegen überlange Gerichtsverfahren einzuführen. Die vom Kläger bezeichnete „mittlerweile geschaffene Rechtsgrundlage“ ist das ÜberlVfRSchG.

Ein Hinweis eines Verfahrensbeteiligten in einem seinerzeit bereits seit über acht Jahren anhängigen Gerichtsverfahren auf die Rechtsprechung des EGMR zu überlangen Verfahren und die für derartige Fälle neu geschaffene nationale Rechtsgrundlage kann aber –was bisher weder vom Finanzgericht noch vom Beklagten erwogen worden ist– nicht anders verstanden werden, als dass der Verfahrensbeteiligte damit eine aus seiner Sicht überlange Verfahrensdauer rügen möchte. Dies gilt im Streitfall erst recht angesichts des Umstands, dass der Kläger bereits vor dem Inkrafttreten des ÜberlVfRSchG die Verfahrensdauer unter ausdrücklicher Bezugnahme auf den seinerzeitigen Entwurf des ÜberlVfRSchG gerügt hatte.

Die Verzögerungsrüge vom 16.02.2012 ist unverzüglich nach Inkrafttreten des ÜberlVfRSchG erhoben worden und hat damit Entschädigungsansprüche auch für die Zeit vor dem Inkrafttreten des ÜberlVfRSchG gewahrt.

Gemäß Art. 23 Satz 1 ÜberlVfRSchG gilt dieses Gesetz auch für Verfahren, die bei seinem Inkrafttreten am 3. Dezember 2011) bereits anhängig waren. War ein solches anhängiges Verfahren beim Inkrafttreten des Gesetzes bereits verzögert, gilt die in § 198 Abs. 3 GVG vorgesehene Obliegenheit zur Erhebung einer Verzögerungsrüge mit der Maßgabe, dass diese „unverzüglich nach Inkrafttreten erhoben werden muss“ (Art. 23 Satz 2 ÜberlVfRSchG). In diesem Fall wahrt die Verzögerungsrüge einen Anspruch nach § 198 GVG auch für den vorausgehenden Zeitraum (Art. 23 Satz 3 ÜberlVfRSchG).

Der Begriff „unverzüglich“ bedeutet ein Handeln „ohne schuldhaftes Zögern“ (§ 121 Abs. 1 Satz 1 BGB). Diese Legaldefinition gilt nach allgemeiner Auffassung auch über die Fälle des § 121 BGB hinaus, mithin gleichermaßen im öffentlichen Recht. Der BFH vermag dem Beklagten allerdings nicht darin zu folgen, dass auch die von der zivilgerichtlichen Rechtsprechung zu § 121 BGB in typisierender Betrachtungsweise vertretene Bejahung eines „schuldhaften Zögerns“ bei Überschreitung einer Zwei-Wochen-Frist unbesehen auf alle anderen Rechtsbereiche zu übertragen ist, in denen der Gesetzgeber den Begriff „unverzüglich“ verwendet.

Die angeführte Zwei-Wochen-Frist geht auf das Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 14. Dezember 19796 zurück. Darin wurde die für außerordentliche fristlose Kündigungen geltende zweiwöchige gesetzliche Ausschlussfrist des § 626 Abs. 2 Satz 1 BGB auch zur Auslegung des Begriffs der „Unverzüglichkeit” in Fällen der Irrtumsanfechtung herangezogen.

Diese Übertragung der in § 626 BGB genannten Frist ist aber nicht in allen Fällen, in denen der Gesetzgeber den Begriff „unverzüglich” verwendet, sachgerecht. Vielmehr ist eine normspezifische Auslegung dieses Tatbestandsmerkmals –bzw. der gesetzlichen Erläuterung „ohne schuldhaftes Zögern“– in Abhängigkeit vom betroffenen Sachbereich, des in diesem Sachbereich typischerweise anzutreffenden Grades der Dringlichkeit, der Interessenlage der Parteien bzw. Beteiligten und dem jeweiligen Zweck des Unverzüglichkeitserfordernisses geboten und wird von der Rechtsprechung und Rechtspraxis auch entsprechend vorgenommen.

So findet sich der Begriff „unverzüglich“ auch im Zusammenhang mit der Rügepflicht beim Handelskauf (§ 377 Abs. 1 HGB). Hier liegt auf der Hand, dass die schematische Anwendung einer Zwei-Wochen-Frist nicht sachgerecht wäre, insbesondere wenn es sich um verderbliche Waren handelt. § 377 Abs. 1 HGB ist im Interesse der im Handelsverkehr unerlässlichen schnellen Abwicklung der Handelsgeschäfte streng auszulegen7. Dementsprechend hat der Bundesgerichtshof in der vorstehend angeführten Entscheidung ein zweiwöchiges Zuwarten –das in den Fällen des § 121 BGB noch hinzunehmen wäre– nicht mehr als ausreichend angesehen. Vielmehr wird für den Regelfall –in Abhängigkeit von den Eigenschaften der betroffenen Ware– nur die Wahrung einer Frist, die zwischen einigen Stunden und einer Woche beträgt, noch als angemessen angesehen8.

Gemäß § 34b Abs. 4 Nr. 2 EStG müssen Schäden infolge höherer Gewalt „unverzüglich“ nach Feststellung des Schadensfalls der zuständigen Finanzbehörde mitgeteilt werden, damit die für außerordentliche Holznutzungen geltenden ermäßigten Steuersätze in Anspruch genommen werden können. Die Finanzverwaltung sieht dieses Erfordernis noch als gewahrt an, wenn die entsprechende Schadensmeldung spätestens bis zum Ablauf von drei Monaten nach Feststellung des Schadens eingereicht wird9.

Auch in seiner Rechtsprechung zur unverschuldeten verspäteten Geltendmachung von Betriebskosten-Nachforderungen durch den Vermieter (§ 556 Abs. 3 Satz 3 BGB) wendet der Bundesgerichtshof zur Bestimmung des Zeitraums, der dem Vermieter nach Wegfall des Hindernisses für die Nachholung der Geltendmachung zuzubilligen ist, nicht die aus der Rechtsprechung zu § 121 BGB abgeleitete Zwei-Wochen-Frist, sondern eine Drei-Monats-Frist an10.

Die gebotene normspezifische Auslegung führt im Falle des Art. 23 Satz 2 ÜberlVfRSchG zu dem Ergebnis, dass eine Zwei-Wochen-Frist nicht sachgerecht ist. Der BFH hält bei typisierender Betrachtung vielmehr eine Frist von drei Monaten für angemessen.

Die zu § 121 BGB ergangene Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts11 ist auf die Situation, wie sie der Gesetzgeber mit dem Inkrafttreten des ÜberlVfRSchG und der dazugehörigen Übergangsregelung geschaffen hat, bereits im Ausgangspunkt nicht übertragbar. § 121 BGB betrifft die Anfechtung eines Vertrags wegen eines Irrtums des Anfechtenden. Die Anfechtungsmöglichkeit besteht –in Abgrenzung zu den Fällen des § 123 BGB, für die der Gesetzgeber eine Jahresfrist vorsieht (§ 124 Abs. 1 BGB)– gerade dann, wenn der andere Teil nichts zu dem Irrtum beigetragen hat. Daher kommt im Rahmen der erforderlichen Abwägung zwischen dem Interesse des Anfechtungsberechtigten an seiner Lösung von dem Vertrag und dem Interesse des Anfechtungsgegners am rechtlichen Bestand des Vertrags dem Schutz des Anfechtungsgegners ein hoher Stellenwert zu. Hinzu kommt, dass die Frist des § 121 BGB –ebenso wie die vom BAG herangezogene zweiwöchige Frist für die außerordentliche fristlose Kündigung nach § 626 Abs. 2 BGB– erst beginnt, wenn der Anfechtungs- bzw. Kündigungsberechtigte positive Kenntnis von dem Anfechtungs- bzw. Kündigungsgrund hat; ein bloßes Kennenmüssen löst den Fristbeginn hingegen nicht aus.

Beide genannten Gesichtspunkte, die in den Fällen des § 121 BGB für eine eher strenge Auslegung des Tatbestandsmerkmals „unverzüglich“ sprechen, sind in den Fällen des Art. 23 Satz 2 ÜberlVfRSchG nicht einschlägig. Hier liegt die wesentliche Ursache für die Erforderlichkeit der unverzüglichen Abgabe einer Erklärung nicht beim Erklärenden –im Fall des § 121 BGB dem Anfechtungsberechtigten, im Fall des ÜberlVfRSchG dem späteren Entschädigungskläger–, sondern beim Erklärungsempfänger. Denn vor allem das Gericht hat durch sein zögerliches Verhalten –unterstellt, die Verzögerungsrüge sei berechtigt– die Ursache für die Erhebung der Verzögerungsrüge gesetzt. Zudem knüpft Art. 23 Satz 2 ÜberlVfRSchG den Beginn des zur Verfügung stehenden Zeitraums an ein rein objektives Kriterium –das Inkrafttreten des Gesetzes–; eine positive Kenntnis des Berechtigten von dem Ereignis, das den Fristenlauf auslöst, ist nicht erforderlich.

Beide Gesichtspunkte rechtfertigen und gebieten es, den Begriff der „Unverzüglichkeit“ hier deutlich weniger streng auszulegen als bei § 121 BGB.

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Gleichwohl lässt sich der in dieser Entscheidung11 enthaltene grundsätzliche methodische Ansatz des Bundesarbeitsgerichts, in verwandten Rechtsnormen genannte Fristen für eine normspezifische Konkretisierung des Begriffs „unverzüglich“ heranzuziehen, auch vorliegend fruchtbar machen. So gilt für die Erhebung einer Verfassungsbeschwerde gegen ein Gesetz –abweichend von der einmonatigen Regelfrist– eine Frist von einem Jahr (§ 93 Abs. 3 BVerfGG). Beschwerden zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte können innerhalb von sechs Monaten nach der endgültigen innerstaatlichen Entscheidung erhoben werden (Art. 35 Abs. 1 EMRK).

§ 93 Abs. 3 BVerfGG zeigt, dass der nationale Gesetzgeber in Fällen, in denen das Inkrafttreten eines Gesetzes einen Fristenlauf auslöst, die für die Erhebung von Rechtsbehelfen ansonsten allgemein übliche Monatsfrist nicht als ausreichend ansieht, sondern eine erheblich längere Frist gewährt. Die Sechs-Monats-Frist des Art. 35 Abs. 1 EMRK steht wiederum in einem sehr engen Zusammenhang zu dem in Entschädigungsklagefällen betroffenen Sachbereich, da mit dem ÜberlVfRSchG gerade die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte umgesetzt werden sollte und weitere Verurteilungen der Bundesrepublik Deutschland durch den EGMR vermieden werden sollten.

In seinen Entscheidungen, die nach Inkrafttreten des ÜberlVfRSchG ergangen sind, verweist der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Beschwerdeführer auch in solchen Verfahren, die bei ihm bereits vor Inkrafttreten des Gesetzes anhängig waren, auf den nationalen Rechtsbehelf der Entschädigungsklage. Er führt aber zugleich aus, dass er diese Position in Zukunft überprüfen werde, was insbesondere von der Fähigkeit der innerstaatlichen Gerichte abhängig sei, im Hinblick auf das ÜberlVfRSchG eine konsistente und den Erfordernissen der Europäischen Menschenrechtskonvention entsprechende Rechtsprechung zu etablieren12. Vor diesem Hintergrund hat der Bundesfinanzhof auch die Erfordernisse eines effektiven Menschenrechtsschutzes zu berücksichtigen, mit dem eine kurze –den auch für bereits anhängige Fälle erforderlichen Rechtsschutz eher verhindernde als ermöglichende– Zwei-Wochen-Frist nicht vereinbar wäre.

Hiervon ausgehend hält der Bundesfinanzhof eine Frist im Umfang der Hälfte der in Art. 35 Abs. 1 EMRK genannten Frist –d.h. drei Monate– für erforderlich, um den Anforderungen der EMRK Rechnung zu tragen, aber auch für ausreichend, damit Prozessbevollmächtigte sämtliche von ihnen geführte Verfahren auf mögliche Verzögerungen analysieren können13.

Diese Frist hat der Kläger im Streitfall mit seinem am 16.02.2012 beim Finanzgericht eingegangenen Schreiben gewahrt.

Verfahrensverzögerung

Gemäß § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG richtet sich die Angemessenheit der Verfahrensdauer nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach der Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens und nach dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter. Diese gesetzlichen Maßstäbe beruhen auf der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des Bundesverfassungsgerichts14.

Grundlage dieser Rechtsprechung ist zum einen die Regelung des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK, wonach jede Person ein Recht darauf hat, dass über Streitigkeiten von einem Gericht „innerhalb angemessener Frist verhandelt wird“. Zum anderen folgt aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art.20 Abs. 3 GG ein Anspruch auf gerichtliche Entscheidung über streitige Rechtsverhältnisse „in angemessener Zeit“15.

Bei der Konkretisierung dieses Anspruchs des Verfahrensbeteiligten und bei der Ableitung der in § 198 GVG vorgesehenen Rechtsfolgen für den einzelnen Fall ist zu berücksichtigen, dass der Begriff der „Angemessenheit“ für Wertungen offen ist. Dies ermöglicht es, dem Spannungsverhältnis zwischen einem möglichst zügigen Abschluss des Rechtsstreits und anderen, ebenfalls hochrangigen sowie verfassungs- und menschenrechtlich verankerten prozessualen Grundsätzen Rechnung zu tragen16. Die zügige Erledigung eines Rechtsstreits ist kein Selbstzweck17.

So könnte eine Überbeschleunigung von Verfahren in einen Konflikt mit dem –durch Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK, Art.19 Abs. 4, Art.20 Abs. 3 GG abgesicherten– Anspruch auf Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes geraten, zu dessen Kernbereich die Schaffung gerichtlicher Strukturen gehört, die eine möglichst weitgehende inhaltliche Richtigkeit von Entscheidungen und ihre möglichst hohe Qualität gewährleisten. Ferner könnte der Grundsatz der Unabhängigkeit der Richter (Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK, Art. 97 Abs. 1 GG) berührt sein, sofern die Entschädigungsgerichte mittelbar in die Freiheit der Richter eingreifen würden, ihr Verfahren frei von äußeren Einflüssen zu gestalten. Auch der Anspruch auf den gesetzlichen Richter (Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK, Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) könnte betroffen sein, wenn zunehmender Beschleunigungsdruck dazu führen würde, dass Verfahren bereits wegen kurzzeitiger, in der Person eines Richters liegender Erledigungshindernisse (z.B. einer nicht langfristigen Erkrankung oder einer lediglich als vorübergehend anzusehenden höheren Belastung durch anderweitige Verfahren) diesem Richter entzogen und einem anderen Richter zugewiesen werden.

Der Bundesfinanzhof ist daher, um diesen gegenläufigen, ebenfalls hochrangigen Rechtsgrundsätzen Rechnung zu tragen, der Auffassung, dass die zeitliche Grenze bei der Bestimmung der Angemessenheit der Dauer eines Verfahrens nicht zu eng gezogen werden darf. Die Dauer eines Gerichtsverfahrens ist nicht schon dann „unangemessen“, wenn die Betrachtung eine Abweichung vom Optimum ergibt. Vielmehr muss eine deutliche Überschreitung der äußersten Grenze des Angemessenen festzustellen sein18. Hinzu kommt, dass die Betrachtung des jeweiligen Verfahrensablaufs durch das Entschädigungsgericht notwendigerweise rückblickend vorgenommen wird und daher regelmäßig auf bessere Erkenntnisse gegründet ist als sie das Ausgangsgericht haben konnte.

Aus den genannten Gründen ist dem Ausgangsgericht ein erheblicher Spielraum für die Gestaltung seines Verfahrens einzuräumen19. So ist jedes Gericht –nicht nur ein Rechtsmittelgericht, das in besonderem Maße Verfahren von grundsätzlicher Bedeutung zu entscheiden hat– berechtigt, einzelne (ältere und jüngere) Verfahren aus Gründen eines sachlichen, rechtlichen, persönlichen oder organisatorischen Zusammenhangs zu bestimmten Gruppen zusammenzufassen oder die Entscheidung einer bestimmten Sach- oder Rechtsfrage als dringlicher anzusehen als die Entscheidung anderer Fragen, auch wenn eine solche zeitliche „Bevorzugung“ einzelner Verfahren jeweils denknotwendig zu einer längeren Dauer anderer Verfahren führt. Ebenso ist es hinzunehmen, wenn die –durch Art.19 Abs. 4, Art.20 Abs. 3 GG im Einzelfall als geboten erscheinende und zum Kernbereich der durch Art. 97 Abs. 1 GG geschützten richterlichen Unabhängigkeit gehörende– besonders intensive Befassung mit einem in tatsächlicher und/oder rechtlicher Hinsicht schwierig erscheinenden Verfahren notwendigerweise dazu führt, dass sich nicht allein die Dauer dieses Verfahrens verlängert, sondern während dieser Zeit auch eine Förderung aller anderen diesem Richter zugewiesenen Verfahren nicht möglich ist. Hinzu kommt, dass es aus nachvollziehbaren Gründen der öffentlichen Personalwirtschaft gerichtsorganisatorisch mitunter unvermeidbar ist, Richtern oder Spruchkörpern einen relativ großen Bestand an Verfahren zuzuweisen. Eine gleichzeitige inhaltlich tiefgehende Bearbeitung sämtlicher Verfahren, die bei einem Gericht anhängig oder einem Spruchkörper bzw. Richter zugewiesen sind, ist aber aus tatsächlichen Gründen nicht möglich und wird auch von Art.20 Abs. 3 GG bzw. Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK nicht verlangt.

Der damit vom Entschädigungsgericht den Ausgangsgerichten eingeräumte Gestaltungsspielraum dient dazu, dass Gerichte –ohne unangemessene Überbetonung allein des zeitlichen bzw. quantitativen Aspekts richterlicher Verfahrensgestaltung und Entscheidungsfindung– in innerer und äußerer Freiheit und Unabhängigkeit inhaltlich möglichst zutreffende und qualitativ möglichst hochwertige Entscheidungen treffen können. Stets ist zu beachten, dass sich mit zunehmender Verfahrensdauer die Pflicht des Gerichts verdichtet, sich nachhaltig um eine Förderung, Beschleunigung und Beendigung des Verfahrens zu bemühen20.

Die nach dem Wortlaut des § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG –sowie nach der im Gesetzeswortlaut zum Ausdruck kommenden Konzeption des EGMR und BVerfG– damit im Vordergrund stehende Einzelfallbetrachtung schließt es aus, im Rahmen der Auslegung der genannten Vorschrift konkrete Fristen zu bezeichnen, innerhalb der ein Verfahren im Regelfall abschließend erledigt sein sollte oder bei deren Überschreitung eine „absolute überlange Verfahrensdauer“ anzunehmen sein soll, die ohne weitere Einzelfallbetrachtung zur Zuerkennung einer Entschädigung führen soll.

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Überlange Gerichtsverfahren - die Verzögerungsrüge in Altfällen

In der Literatur wird mitunter vertreten, der Rechtsprechung des EGMR sei zu entnehmen, dass die angemessene Verfahrensdauer grob ein Jahr pro Instanz betrage21.

Daran ist zutreffend, dass sich in mehreren Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte die Formulierung findet, „one year per instance may be a rough rule of thumb in Article 6 § 1 cases“ (ein Jahr pro Instanz mag eine grobe Faustregel in Fällen des Art. 6 Abs. 1 EMRK sein). Tragend war diese Formulierung aber für keine der Entscheidungen des EGMR, in denen sie verwendet worden ist. Ganz überwiegend sind diese Entscheidungen von vornherein nicht zu Art. 6 Abs. 1 EMRK ergangen, der den Anspruch auf Entscheidung „innerhalb angemessener Frist“ enthält, sondern zu Freiheitsentziehungen i.S. des Art. 5 EMRK, der in Abs. 4 einen Anspruch auf gerichtliche Entscheidung „innerhalb kurzer Frist“ vorsieht22. Im Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK findet sich diese Formel –ebenfalls nicht tragend– in einer Entscheidung, die eine arbeitsrechtliche Streitigkeit wegen einer angeblichen Diskriminierung betraf23. Arbeitsrechtliche Streitigkeiten gehören aber grundsätzlich zu den Verfahrensarten, die besonders eilbedürftig sind24. Insoweit enthalten auch die Vorschriften des Arbeitsgerichtsgesetzes seit jeher besondere Beschleunigungsgebote, die sich in den für andere Gerichtszweige geltenden Verfahrensordnungen nicht finden (z.B. § 9 Abs. 1, § 17 Abs. 2 Satz 2, § 47 Abs. 2, § 61a ArbGG).

Eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, die tragend auf die „grobe Faustregel“ einer angemessenen Verfahrensdauer von einem Jahr pro Instanz gestützt oder in der gar ein geringfügiges Überschreiten dieser zeitlichen Grenze als unangemessen angesehen worden wäre, ist weder in der Literatur nachgewiesen noch sonst ersichtlich.

Jedenfalls im Anwendungsbereich des § 198 GVG wäre eine Auslegung dieser Vorschrift dahingehend, eine Jahresfrist als „Faustregel“ anzunehmen, schon durch die Entstehungsgeschichte dieser Norm ausgeschlossen. Im Gesetzgebungsverfahren war ausdrücklich beantragt worden, in das Gesetz eine Regelung aufzunehmen, wonach bei einer Verfahrenslaufzeit von mehr als einem Jahr die Unangemessenheit der Verfahrensdauer vermutet werden sollte. Dieser Antrag ist indes von der großen Mehrheit der Abgeordneten des Rechtsausschusses abgelehnt worden25.

Soweit die Auffassung vertreten wird, ab einer –im Streitfall gegebenen– Verfahrenslaufzeit von acht Jahren sei von einer „absoluten überlangen Verfahrensdauer“ auszugehen, die eine Einzelfallprüfung entbehrlich mache, vermag der Bundesfinanzhof dem ebenfalls nicht zu folgen. Zwar verdichtet sich mit zunehmender Verfahrensdauer die Pflicht des Gerichts, sich nachhaltig um eine Förderung, Beschleunigung und Beendigung des Verfahrens zu bemühen20. Eine Bewertung der Umstände des Einzelfalls bleibt aber stets erforderlich. Selbst wenn es eine Grenze der „absoluten überlangen Verfahrensdauer“ gäbe, wäre diese jedenfalls nicht bei acht Jahren zu ziehen26.

Gleichwohl können angesichts der besonderen Bedingungen, die die im Vergleich zu anderen Gerichtsbarkeiten eher homogene Fallstruktur in der Finanzgerichtsbarkeit und die relativ einheitliche Bearbeitungsweise der einzelnen Gerichte und Spruchkörper mit sich bringen, für bestimmte typischerweise zu durchlaufende Abschnitte finanzgerichtlicher Verfahren –nicht jedoch für ihre Gesamtdauer– zeitraumbezogene Konkretisierungen gefunden werden. Vorrang behält dennoch die stets vorzunehmende Einzelfallbetrachtung.

Hiernach kann ein Regel- oder auch nur Anhaltswert für die Gesamtdauer eines Verfahrens nicht genannt werden. Dies folgt schon daraus, dass der Schwierigkeitsgrad des einzelnen Verfahrens sowohl rechtstatsächlich von entscheidender Bedeutung für die konkrete Verfahrensdauer ist als auch nach der Konzeption des § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG zu den wesentlichen Merkmalen für die Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer gehört. Finanzgerichtliche Verfahren unterscheiden sich in ihrem Schwierigkeitsgrad und der dadurch hervorgerufenen Bearbeitungsintensität und -dauer so sehr voneinander, dass eine Generalisierung der Gesamtverfahrensdauer nicht möglich ist.

Auf der anderen Seite wird die höchstrichterliche finanzgerichtliche Rechtsprechung in Entschädigungssachen, schon zur Gewährleistung einer möglichst einheitlichen Rechtsanwendung und um der Rechtspraxis Anhaltspunkte für die Einschätzung der Erfolgsaussichten etwa zu erhebender Entschädigungsklagen zu geben, es nicht gänzlich vermeiden können, dort –unter Beachtung des Grundsatzes, dass die stets vorzunehmende Einzelfallbetrachtung Vorrang hat– zeitraumbezogene Konkretisierungen vorzunehmen, wo derartige Konkretisierungen aufgrund vorgefundener Übereinstimmungen sowohl in der Struktur zahlreicher finanzgerichtlicher Verfahren als auch ihrer Bearbeitung durch die Gerichte vertretbar sind.

Die Frage, ob zeitliche Konkretisierungen stets ausgeschlossen sind oder für bestimmte Fallgruppen eine Erleichterung der rechtlichen Beurteilung ermöglichen, wird in der bisherigen Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes zu § 198 GVG nicht einheitlich beurteilt. Dies beruht indes darauf, dass zwischen den einzelnen Gerichtsbarkeiten erhebliche Unterschiede sowohl in der Struktur und Streubreite der Verfahren als auch in den Verfahrensabläufen bestehen. So lehnt das BVerwG27 für instanzgerichtliche Verfahren der Verwaltungsgerichtsbarkeit jede Orientierung an Anhaltswerten ab und führt zur Begründung aus, die Struktur der zu entscheidenden Verfahren sei zu unterschiedlich. Demgegenüber sieht das BSG für Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde –deren Ablauf aufgrund der im Höchstfall drei Monate betragenden Begründungsfrist und des Umstands, dass in aller Regel Sachverhaltsermittlungen nicht vorgesehen sind, in besonderem Maße standardisiert ist, so dass die einzelnen Verfahren nur eine geringe Varianz zueinander aufweisen– eine Regelfrist für die Gesamtbearbeitungsdauer von zwölf Monaten vor28.

Dies vorausgeschickt, lässt sich für den ganz überwiegenden Teil der finanzgerichtlichen Klageverfahren zum einen feststellen, dass die jeweiligen Verfahrenssituationen und Streitgegenstände im Kern miteinander vergleichbar sind und eine erheblich geringere Varianz zueinander aufweisen als dies in der Verwaltungs- oder Zivilgerichtsbarkeit der Fall ist. In den meisten Fällen geht es darum, dass der Bürger sich gegen einen Geldanspruch wendet, den die Finanzverwaltung durch Steuerbescheid gegen ihn festgesetzt hat, oder –in Gestalt einer Steuervergütung– seinerseits einen Geldanspruch von der Finanzverwaltung begehrt.

Darüber hinaus lässt sich feststellen, dass der Ablauf der weitaus meisten finanzgerichtlichen Klageverfahren im Wesentlichen einer Einteilung in drei Phasen folgt: Die erste Phase besteht in der Einreichung und im Austausch vorbereitender Schriftsätze (§ 77 Abs. 1 Satz 1 FGO) durch die Beteiligten. Das Gericht wird in dieser Phase zumeist nur insoweit tätig, als es eingehende Schriftsätze an den jeweils anderen Beteiligten weiterleitet; die Erteilung rechtlicher Hinweise durch das Gericht beschränkt sich –auch mangels Vorliegens der Akten der beklagten Behörde– auf Ausnahmefälle. An das Ende dieses Schriftsatzaustausches schließt sich in der Regel eine Phase an, in der das Verfahren –gerichtsorganisatorisch durch die Gesamtanzahl der dem Spruchkörper oder Richter zugewiesenen Verfahren bedingt– wegen der Arbeit an anderen Verfahren nicht bearbeitet werden kann. Der Beginn der dritten Phase ist dadurch gekennzeichnet, dass das Gericht Maßnahmen trifft, die das Verfahren einer Entscheidung zuführen sollen (z.B. Handlungen der Sachaufklärung, Erteilung rechtlicher Hinweise, sonstige in § 79 FGO genannte Anordnungen, in einfach gelagerten Fällen auch die sofortige Ladung zur mündlichen Verhandlung). Diese dritte Phase ist in besonderem Maße vom Schwierigkeitsgrad des Verfahrens, dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter –insbesondere von deren Reaktionsgeschwindigkeit auf gerichtliche Anfragen und Ermittlungshandlungen– und der Intensität der Bearbeitung durch den hierfür berufenen Richter abhängig. Die Frage, welche Dauer für diese Phase –und damit auch für die Gesamtlaufzeit eines Verfahrens– „angemessen“ ist, entzieht sich daher jedem Versuch einer Typisierung oder zeitlichen Konkretisierung. Gleiches mag für die erste Phase gelten, da auch die Dauer des Wechsels vorbereitender Schriftsätze zwischen den Beteiligten häufig vom Schwierigkeitsgrad des Verfahrens sowie dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten abhängig sein wird.

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Kein Schadensersatz wegen überlanger Verfahrensdauer

Demgegenüber eignet sich die dargestellte zweite Phase eher für die Suche nach zeitlichen Konkretisierungen. Insbesondere ist sie in erster Linie gerichtsorganisatorisch bedingt, weist aber keinen Zusammenhang zum Schwierigkeitsgrad des einzelnen Verfahrens auf, da ein –vermeintlich– höherer Schwierigkeitsgrad eines Verfahrens nicht als sachlicher Grund anzusehen wäre, ein solches Verfahren länger als vermeintlich einfachere Verfahren unbearbeitet zu lassen. Zugleich ist diese zweite Phase typischer finanzgerichtlicher Verfahren im Hinblick auf den Schutzzweck der §§ 198 ff. GVG von besonderer Bedeutung, da gerade während eines Zeitraums, in dem weder die Beteiligten noch das Gericht Aktivitäten entfalten, für den Verfahrensbeteiligten mit zunehmender Dauer dieses Zeitraums die Frage Bedeutung gewinnt, wann denn mit einer Förderung und Entscheidung „seines“ Verfahrens zu rechnen sei. Demgegenüber ist in der ersten Phase, in der die Beteiligten aktiv sind, und in der dritten Phase, in der das Gericht das Verfahren in Richtung auf eine Entscheidung vorantreibt, die Betroffenheit des Verfahrensbeteiligten durch eine –unter Umständen längere– Dauer dieser Verfahrensabschnitte geringer, weil das Verfahren jeweils gefördert wird. Die Dauer dieser Verfahrensabschnitte wird daher im Wesentlichen nur durch den aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts folgenden Gesichtspunkt begrenzt, wonach sich mit zunehmender Verfahrensdauer die Pflicht des Gerichts verdichtet, sich nachhaltig um eine Förderung, Beschleunigung und Beendigung des Verfahrens zu bemühen20.

Vor diesem Hintergrund spricht bei einem finanzgerichtlichen Klageverfahren, das im Vergleich zu dem dargestellten Verfahrensablauf keine wesentlichen Besonderheiten aufweist, eine Vermutung dafür, dass die Dauer des Verfahrens angemessen ist, wenn das Gericht gut zwei Jahre nach dem Eingang der Klage mit Maßnahmen beginnt, die das Verfahren einer Entscheidung zuführen sollen29, und die damit begonnene („dritte“) Phase des Verfahrensablaufs nicht durch nennenswerte Zeiträume unterbrochen wird, in denen das Gericht die Akte unbearbeitet lässt.

Der Bundesfinanzhof hat diesen für die Dauer der ersten beiden Phasen genannten, in einem Verfahren ohne Besonderheiten die Vermutung der Angemessenheit begründenden „Karenzzeitraum“ von gut zwei Jahren anhand einer Abwägung der widerstreitenden Gesichtspunkte gewonnen. Ein solcher Zeitraum erscheint für den Regelfall als ausreichend, dem gerichtsorganisatorisch bedingten Faktum Rechnung zu tragen, dass zu einem richterlichen Dezernat zahlreiche Verfahren gehören, die aber nicht allesamt gleichzeitig mit dem erforderlichen Tiefgang bearbeitet werden können. Zugleich ermöglicht es dieser Zeitraum dem Richter an einem oberen Landesgericht (vgl. § 2 FGO), in Verantwortung für die inhaltliche Richtigkeit und das qualitativ hohe Niveau seiner Entscheidung sowie in Ausübung seiner richterlichen Unabhängigkeit gegebenenfalls von seinem Gestaltungsspielraum Gebrauch zu machen, indem er einzelne Verfahren zeitlich vorzieht oder besonders intensiv bearbeitet, und andere Verfahren dadurch notwendigerweise länger unbearbeitet lässt.

Auf der anderen Seite hält es der BFH dem Verfahrensbeteiligten noch für zumutbar, bis zu zwei Jahre auf den Beginn der zielgerichteten Bearbeitung durch das Finanzgericht zu warten. Dabei ist entscheidend zu berücksichtigen, dass der Gegenstand finanzgerichtlicher Klageverfahren –anders als etwa die typische Streitigkeit aus dem Bereich des Arbeits-, Familien- oder Statusrechts oder des Rechts existenzsichernder Sozialleistungen30– typischerweise nicht durch besondere Eilbedürftigkeit gekennzeichnet ist. Es geht in aller Regel um staatliche Geldansprüche, die zudem regelmäßig auf einen Bruchteil des Einkommens, Umsatzes oder der sonstigen Wirtschaftsteilhabe des Verfahrensbeteiligten beschränkt sind. Zudem gewähren Finanzverwaltung und -gerichte unter Anwendung relativ großzügiger Maßstäbe Aussetzung der Vollziehung, so dass die meisten Verfahrensbeteiligten während der Verfahrensdauer von der Pflicht zur Leistung der streitigen Steuern entweder befreit sind oder sich befreien lassen könnten.

Eine Frist von etwa zwei Jahren wird auch von großen Teilen der Literatur vertreten31. Sie entspricht zudem der tatsächlichen durchschnittlichen Dauer zulässiger Klageverfahren, die von den Finanzgerichten in den Jahren 2007 bis 2010 durch Urteil entschieden worden sind32. Auch das Bundesverfassungsgericht hat es –in Bezug auf sein eigenes Verfahren– nicht als unangemessen angesehen, wenn bis zur Entscheidung über einen Schadensersatz-Geldanspruch ein Zeitraum von 27 Monaten verstrichen ist33. Zwar beziehen sich alle vorstehend genannten Durchschnittswerte auf die gesamte Verfahrenslaufzeit, während der vom Bundesfinanzhof genannte Zeitraum nur die beiden ersten Phasen eines typischen finanzgerichtlichen Verfahrens erfasst. Die damit verbundene Gewährung eines zusätzlichen Bearbeitungszeitraums rechtfertigt sich aber daraus, dass eine entschädigungspflichtige menschenrechts- und grundgesetzwidrige Verzögerung nur bei einer deutlichen Überschreitung der äußersten Grenze des Angemessenen festzustellen ist. Hinzu kommt, dass gerade bei einfach gelagerten Verfahren die dritte Phase der Bearbeitung sich häufig auf die Ladung zur und Durchführung der mündlichen Verhandlung oder eines Erörterungstermins beschränken wird, also nicht zu einer wesentlichen weiteren Verlängerung der Verfahrensdauer führt.

Allerdings steht es jedem Verfahrensbeteiligten frei, das Gericht auf eine aus seiner Sicht gegebene besondere Eilbedürftigkeit des Verfahrens hinzuweisen. Dies zeigt auch die Regelung des § 198 Abs. 3 Satz 3 GVG, die Umstände erfasst, die für ein besonderes Beschleunigungsbedürfnis von Bedeutung sind34. Werden solche Gründe rechtzeitig und in nachvollziehbarer Weise vorgetragen, gilt die eingangs genannte Vermutung, die Verfahrensdauer sei angemessen, wenn die dritte Phase im Verfahrensablauf gut zwei Jahre nach dem Eingang der Klage beginnt, nicht. Vielmehr kommt es dann ausschließlich auf die besonderen Umstände des Einzelfalls an.

Bei Anwendung dieser Grundsätze ergibt sich, dass das Ausgangsverfahren während eines Zeitraums von 43 Monaten in unangemessener Weise verzögert worden ist.

Die Anwendung der in § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG beispielhaft genannten Kriterien vermittelt im Streitfall kein einheitliches Bild.

So war der Schwierigkeitsgrad des Verfahrens als überdurchschnittlich hoch anzusehen. Zum einen waren Sachverhaltsermittlungen im Ausland durchzuführen, die sich als äußerst langwierig gestalteten. Zum anderen waren sowohl ausländische als auch komplexe europäische Rechtsvorschriften anzuwenden. Die Auslegung der letztgenannten Vorschriften hat gerade während der Zeit der Anhängigkeit des Ausgangsverfahrens einer sehr dynamischen Entwicklung unterlegen.

Auf der anderen Seite war auch die Bedeutung des Verfahrens für den Kläger als überdurchschnittlich hoch einzuschätzen. Das Kindergeld stellt –obwohl es rechtstechnisch im EStG geregelt ist und als „Steuervergütung“ bezeichnet wird (§ 31 Satz 3 EStG)– eine Leistung zur Förderung der Familie (§ 31 Satz 2 EStG) dar, die ihren Förderzweck grundsätzlich nur erfüllen kann, wenn es den Berechtigten in zeitlichem Zusammenhang zum Anfallen der kindbedingten Unterhaltsaufwendungen ausgezahlt wird. Dies gilt ungeachtet dessen, dass der Kläger im vorliegenden Verfahren trotz eines entsprechenden Hinweises des Beklagten keine Angaben zu seinen Einkommens- und Vermögensverhältnissen gemacht hat, so dass nicht festgestellt werden kann, dass er auf die möglichst zügige Auszahlung des Kindergelds ebenso angewiesen war wie ein Empfänger solcher Sozialleistungen, die zur Existenzsicherung und ausschließlich in Fällen einer konkreten Bedürftigkeit gezahlt werden.

Das Verhalten Dritter hat in erheblichem Maße zu der letztlich erreichten Verfahrensdauer von mehr als acht Jahren beigetragen. So war lange Zeit unklar, ob E –die am Klageverfahren nicht beteiligt war und deren Verhalten dem Kläger nicht zuzurechnen ist– überhaupt einen Kindergeldantrag in Nordirland gestellt hatte. Auch erteilte E nur sehr schleppend Auskünfte über die ihr gegenüber ergangenen Entscheidungen der CBO; ebenso haben die CBO selbst sowie die nordirische Verbindungsstelle der Familienkasse jeweils längere Zeit benötigt, um Auskünfte gegenüber der Familienkasse zu erteilen. Die Familienkasse als Verfahrensbeteiligte hat insoweit zu einer nennenswerten Verfahrensverzögerung beigetragen, als sie die –letztlich streitentscheidende– Antwort der CBO nicht an das Finanzgericht weitergeleitet, sondern unbearbeitet zu ihren Akten genommen hat.

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Die Umsetzung im konkreten Fall:

Die vom Bundesfinanzhof im vorliegenden Fall erkannte Verzögerung um 43 Monate ergibt sich aus einer Betrachtung des konkreten Verfahrensablaufs. Das seit dem 20.02.2004 beim Finanzgericht anhängige Ausgangsverfahren ist bereits unmittelbar nach seinem Eingang sehr zielgerichtet durch den damaligen Vorsitzenden gefördert worden. Dieser hat am 7.06.2004 einen rechtlichen Hinweis an den Kläger gerichtet, der der rechtlichen und tatsächlichen Problematik des Falles umfassend gerecht geworden, vom Kläger aber nur unzureichend aufgegriffen worden ist. Weitere Hinweise des damaligen BFHsvorsitzenden folgten am 2.02.2005 und 24.03.2005. Danach hat das Finanzgericht seine Tätigkeit indes für einen mehrjährigen Zeitraum eingestellt.

Geht man nach den dargelegten Grundsätzen davon aus, dass die Angemessenheit der Verfahrensdauer zu vermuten ist, wenn das Gericht gut zwei Jahre nach dem Eingang der Klage mit Maßnahmen beginnt, die das Verfahren einer Entscheidung zuführen sollen, und berücksichtigt man zusätzlich, dass der damalige Senatsvorsitzende bereits während des Wechsels der vorbereitenden Schriftsätze zwischen den Beteiligten zielgerichtete rechtliche Hinweise erteilt hatte, was eine gewisse Verlängerung der Regelfrist rechtfertigt, hätte das Finanzgericht das Verfahren im zweiten Halbjahr 2006 wieder aufgreifen und durch kontinuierliches Tätigwerden zur Entscheidungsreife führen müssen. Da zu diesem Zeitpunkt allerdings bereits die Familienkasse eigenständig mit Ermittlungen in Nordirland begonnen hatte, war es unter den besonderen Umständen des Streitfalls für das Finanzgericht sachgerecht, den Ausgang dieser Ermittlungen zunächst abzuwarten. Daher ist die Regelfrist hier um weitere sechs Monate zu verlängern. Spätestens ab dem Beginn des Jahres 2007 –das Verfahren war seinerzeit bereits fast drei Jahre anhängig– genügte es aber nicht mehr, lediglich das eigenständige (und bisher nicht zu konkreten Ergebnissen führende) Handeln der Familienkasse zu beobachten. Vielmehr hätte das Finanzgericht entweder selbst –notfalls, wie wesentlich später auch tatsächlich geschehen, über den Kläger– darauf hinwirken müssen, dass E in Nordirland einen bearbeitungsfähigen Kindergeldantrag stellt, oder aber im Wege der ihm obliegenden Sachaufklärung den Inhalt des im Vereinigten Königreich geltenden Kindergeldrechts ermitteln müssen.

Seit Januar 2007 war das Verfahren daher als verzögert anzusehen. Die Verzögerung wurde auch nicht durch die zwischen November 2007 und Februar 2008 an die Familienkasse gerichteten Sachstandsanfragen des Finanzgericht unterbrochen. Denn in diesem Verfahrensstadium war –wie vorstehend dargelegt– das bloße Abwarten der Ergebnisse der eigenen Ermittlungen der Familienkasse nicht mehr ausreichend. Die Verzögerung des Verfahrens endete vielmehr –vorläufig– erst mit der im April 2009 ergangenen Ladung zum Erörterungstermin. Von Januar 2007 bis März 2009 ist danach eine unangemessene Verfahrensverzögerung von 27 Monaten zu verzeichnen.

Mit Zustimmung der Beteiligten hat das Finanzgericht am 15.06.2009 das Ruhen des Verfahrens angeordnet. Die Zeit eines einvernehmlichen förmlichen Ruhens des Verfahrens kann grundsätzlich nicht als unangemessen im Hinblick auf die Gesamtverfahrensdauer angesehen werden, da jeder Beteiligte die Möglichkeit hat, den Eintritt des Ruhens durch Versagung seiner erforderlichen Zustimmung zu verhindern.

Allerdings endet die Wirkung eines Ruhensbeschlusses von selbst, sobald das in diesem Beschluss genannte Ereignis eintritt35. Für den konkreten Zeitpunkt, zu dem die Wirkung eines Ruhensbeschlusses endet, ist dabei die Formulierung des jeweiligen Beschlusstenors maßgebend. So endet ein „bis zum Ergehen“ einer bestimmten obergerichtlichen Entscheidung angeordnetes Ruhen bereits mit dem –objektiven– Ergehen der Entscheidung im bezeichneten Musterverfahren; ob das Gericht oder die Beteiligten im bisher ruhenden Verfahren Kenntnis von der obergerichtlichen Entscheidung haben, ist ohne Belang36. Ebenso kommt es zur Beurteilung des vorliegenden Falles, in dem das Finanzgericht das Ruhen „bis zur Entscheidung“ über den Antrag der E angeordnet hatte, allein auf das objektive Ergehen dieser Entscheidung an, nicht aber auf die entsprechende Kenntniserlangung durch das Finanzgericht. Damit ruhte das Ausgangsverfahren ab dem 30.03.2010, dem Datum der Entscheidung der CBO, nicht mehr.

Dies bedeutet jedoch nicht, dass das Ausgangsverfahren ab diesem Zeitpunkt wieder als unangemessen verzögert anzusehen wäre. Vielmehr ist im Rahmen der Beurteilung der Angemessenheit zu berücksichtigen, dass das Finanzgericht vom objektiven Wegfall des Ruhensgrunds keine Kenntnis haben konnte. Zudem hat das Finanzgericht die Familienkasse bereits am 6.04.2010 gebeten, über deren nordirische Verbindungsstelle Ermittlungen zum Schicksal des Kindergeldantrags zu führen. Dies war sachgerecht.

Nach Auffassung des Bundesfinanzhofs durfte das Finanzgericht in diesem Verfahrensstadium allerdings nicht länger als sechs Monate auf eine Antwort warten. Zwar nehmen Ermittlungen, die im Wege der Einschaltung ausländischer Behörden geführt werden, erfahrungsgemäß deutlich längere Zeiträume in Anspruch als vergleichbare Ermittlungen im Inland. Auf der anderen Seite sind die Verbindungsstellen der Familienkassen gerade deshalb geschaffen worden, um im Interesse der Verfahrensbeschleunigung einen unmittelbaren Verkehr zwischen den beteiligten Fachbehörden zu ermöglichen (vgl. Art. 3 der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21.03.1972 über die Durchführung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern), ohne den komplizierten und zeitraubenden Weg eines Rechtshilfeersuchens zu gehen. Zudem war das Verfahren beim Beginn dieser Ermittlungen bereits seit über sechs Jahren anhängig und schon erheblich verzögert. In einem solchen Fall verdichtet sich –wie bereits ausgeführt– die Pflicht des Gerichts, auf eine ununterbrochene Förderung des Verfahrens hinzuwirken. Angesichts des Umstands, dass im gesamten Verlauf des bisherigen Verfahrens keine brauchbaren Unterlagen aus Nordirland beim Finanzgericht eingegangen waren, durfte es sich nicht allein auf die Antwortbereitschaft der ausländischen Behörde verlassen. Spätestens im November 2010 hätte das Finanzgericht daher auf anderem Wege tätig werden müssen. Tatsächlich ist es jedoch erst am 10.08.2011 –auf Drängen des Klägers– tätig geworden, indem es diesen um die Vorlage einer Bescheinigung des CBO gebeten hat. Für den Zeitraum von November 2010 bis Juli 2011 ist somit eine weitere unangemessene Verzögerung von neun Monaten zu verzeichnen.

Der Kläger reichte die angeforderte Bescheinigung am 6.12.2011 beim Finanzgericht ein. Danach hätte das Finanzgericht angesichts der bereits erreichten Verfahrensdauer von knapp acht Jahren umgehend mit der abschließenden Bearbeitung des Verfahrens beginnen müssen. Allein die kommentarlose Übersendung der Bescheinigung an die Familienkasse kann nach nahezu achtjähriger Verfahrensdauer nicht als ausreichende Verfahrensförderung angesehen werden, zumal das Finanzgericht selbst diese Bescheinigung angefordert hatte und sich daher gegenüber den Beteiligten zumindest dazu hätte äußern können, ob die Bescheinigung die Erwartungen, die das Finanzgericht bei dessen Anforderung hegte, erfüllen konnte.

Tatsächlich hat das Finanzgericht erst auf die wiederholten Verzögerungsrügen des Klägers am 26.03.2012 die Kindergeldakten bei der Familienkasse angefordert und die Akten im August 2012 durchgesehen; diese Aktendurchsicht führte dann am 15.08.2012 zu rechtlichen Hinweisen an die Beteiligten und –ohne weitere Verzögerung– zu einer Beendigung des Ausgangsverfahrens durch behördliche Abhilfe und die Abgabe von Hauptsacheerledigungserklärungen. Im Zeitraum von Januar bis Juli 2012 ist daher eine weitere unangemessene Verzögerung von sieben Monaten eingetreten.

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Dieser Beurteilung steht nicht entgegen, dass das Finanzgericht sich in der Zeit ab dem 20.04.2012 bemüht hat, die Erledigung eines Verfahrens über „Kindergeld ab Mai 2010“ zu erreichen. Ein solches Verfahren war zu keinem Zeitpunkt beim Finanzgericht anhängig. Die –auch teilweise– Ablehnung einer Kindergeldfestsetzung entfaltet vielmehr nur bis zum Ende des Monats der Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung Bindungswirkung37, hier also bis Januar 2004. Wenn das Finanzgericht sich um die Beendigung eines solchen, nur vermeintlich bei ihm anhängigen Verfahrens bemüht, kann dies nicht dazu führen, dass das tatsächlich anhängige, bereits erheblich verzögerte Verfahren während eines weiteren Zeitraums unbearbeitet bleiben darf. Soweit der Beklagte das Vorgehen des Finanzgericht damit zu erklären versucht, die dortige Berichterstatterin habe den Eintritt der Festsetzungsverjährung verhindern wollen, überzeugt dies nicht. Für Anspruchszeiträume ab Mai 2010 drohte im Jahr 2012 erkennbar noch keine Festsetzungsverjährung. Für Zeiträume ab Februar 2004 –für die aufgrund entsprechender Erklärungen der Familienkasse der Eintritt der Festsetzungsverjährung ebenfalls nicht drohte– sind keine Maßnahmen des Finanzgericht feststellbar, die zusätzlich zu den bereits für den Streitzeitraum (März 2001 bis Januar 2004) ergriffenen Maßnahmen getroffen worden wären und insoweit zu einer Verlängerung des Verfahrens hätten führen können.

Danach ist das Verfahren von Januar 2007 bis März 2009 (27 Monate), November 2010 bis Juli 2011 (neun Monate) und Januar bis Juli 2012 (sieben Monate) unangemessen verzögert worden, insgesamt also während eines Zeitraums von 43 Monaten.

Die vorstehend vorgenommene Beurteilung lässt keinen Raum mehr dafür, die unzutreffende Angabe des Klägers zu Beginn des Ausgangsverfahrens, in Nordirland sei bereits damals ein Kindergeldantrag gestellt worden, zur Rechtfertigung der langen Verfahrensdauer heranzuziehen. Vielmehr hat der Bundesfinanzhof die Wartezeit auf die Antragstellung, Antragsbearbeitung und Entscheidungsbekanntgabe in Nordirland im Rahmen der vorstehend vorgenommenen Würdigung der Umstände des Einzelfalls bereits hinreichend bei der Bemessung der noch als angemessen anzusehenden Verfahrensdauer berücksichtigt.

Umgekehrt vermag der Bundesfinanzhof auch der Auffassung des Klägers nicht zu folgen, das Verhalten aller in das Ausgangsverfahren einbezogenen in- und ausländischen Behörden sei dem Beklagten zuzurechnen, so dass die Wartezeit auf behördliche Entscheidungen keinerlei Verfahrensverlängerung rechtfertige. Das „Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter“ ist vielmehr gemäß § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG als eines von mehreren Merkmalen in die Bewertung und Gewichtung der Umstände des Einzelfalls einzubeziehen. Soweit das Finanzgericht das Verhalten von –insbesondere ausländischen– Behörden nicht beeinflussen kann, ist ihm dieses Verhalten nicht unmittelbar zuzurechnen. Es hat lediglich die –sich mit zunehmender Verfahrensdauer verdichtende– Pflicht, das Verfahren zu fördern.

Bundesfinanzhof, Urteil vom 7. November 2013 – X K 13/12

  1. nach BFH, Urteil vom 17.04.13 – X K 3/12[]
  2. ebenso BSG, Beschluss vom 27.06.2013 – B 10 ÜG 9/13 B, n.v., unter II.2.b[]
  3. BT-Drs. 17/3802, 22[]
  4. BT-Drs. 17/7217, 27[]
  5. EGMR, Urteil vom 02.09.2010 – 46344/06 [Rumpf/Deutschland], NJW 2010, 3355[]
  6. BAG, Urteil vom 14.12.1979 – 7 AZR 38/78, BAGE 32, 237, unter IV.2.[]
  7. BGH, Urteil vom 30.01.1985 – VIII ZR 238/83, BGHZ 93, 338, unter 5.c bb[]
  8. vgl. Emmerich/Hoffmann in Heymann, HGB, 2. Aufl., § 377 Rz 53 ff., m.w.N.[]
  9. OFD Magdeburg, Verfügung vom 05.02.2007 – S 2232-14-St-212, Einkommensteuer-Kartei Sachsen-Anhalt § 34b EStG Karte 1, unter 1.[]
  10. vgl. BGH, Urteile vom 05.07.2006 – VIII ZR 220/05, NJW 2006, 3350, unter II.2.b bb, und vom 12.12.2012 – VIII ZR 264/12, NJW 2013, 456[]
  11. BAGE 32, 237[][]
  12. so ausdrücklich EGMR, Entscheidung vom 29.05.2012 – 53126/07 [Taron/Deutschland], Europäische Grundrechte-Zeitschrift 2012, 514, Rz 45[]
  13. a.A. ohne Begründung in einer nicht tragenden Erwägung für eine am 13.02.2012 erhobene Verzögerungsrüge LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 13.09.2012 – L 38 SF 73/12 EK AS, n.v.; ebenso OLG Bremen, Urteil vom 04.07.2013 – 1 SchH 10/12 (EntV), NJW 2013, 3109, für eine am 23.01.2013 eingegangene Verzögerungsrüge[]
  14. näher dazu BFH, Urteil vom 17.04.2013 – X K 3/12, BFHE 240, 516, BStBl II 2013, 547, unter III.3.a[]
  15. BVerfG, Beschluss vom 27.07.2004 – 1 BvR 1196/04, NJW 2004, 3320, unter II.2.a, m.w.N.[]
  16. allgemein zu diesem Spannungsverhältnis bereits BSG, Urteil vom 21.02.2013 – B 10 ÜG 1/12 KL, Die Sozialgerichtsbarkeit 2013, 527, unter 2.a aa, m.w.N.[]
  17. so auch BVerwG, Urteil vom 11.07.2013 – 5 C 23.12 D, unter 1.b bb (3) []
  18. ebenso BSG, Urteil in SGb 2013, 527, unter 2.a aa[]
  19. vgl. auch BVerwG, Urteil vom 11.07.2013 – 5 C 23.12 D, unter 1.b bb (3) []
  20. BVerfG, Beschluss in NJW 2004, 3320, unter II.2.a, m.w.N.[][][]
  21. Böcker, DStR 2011, 2173, 2175, m.N. in Fn. 25; ders., DB 2013, 1930, 1931[]
  22. zu Strafverfahren in der Russischen Förderation vgl. EGMR, Entscheidungen vom 07.04.2005 – 54071/00 [Rokhlina]; vom 08.11.2005 – 6847/02 [Khudoyorov]; vom 24.05.2007 – 27193/02 [Ignatov], Rz 111; vom 09.10.2008 – 62936/00 [Moiseyev], Rz 160; und vom 26.11.2009 – 13591/05 [Nazarov], Rz 126; zur zwangsweisen Unterbringung eines als „Psychopathen“ eingestuften Straftäters in einer britischen Klinik vgl. EGMR, Urteil vom 20.02.2003 – 50272/99 [Hutchison Reid], Rz 79[]
  23. EGMR, Urteil vom 16.01.2003 – 50034/99 [Obasa], Rz 35[]
  24. vgl. Peukert in Frowein/Peukert, EMRK-Kommentar, 3. Aufl., Art. 6 Rz 262, m.w.N. auf die Rechtsprechung des EGMR[]
  25. zum Ganzen ausführlich BT-Drs. 17/7217, 25[]
  26. vgl. –unter Auswertung der Rechtsprechung des EGMR– Peukert in Frowein/Peukert, a.a.O., Art. 6 Rz 249: erst eine Verfahrensdauer von zehn und mehr Jahren werde „grundsätzlich als nicht angemessen“ bewertet[]
  27. BVerwG, Urteil vom 11. Juli 2013 – 5 C 23.12 D, unter 1.b aa (2) []
  28. BSG, Urteil in SGb 2013, 527, unter 2.a cc ccc[]
  29. vgl. hierzu bereits BFH, Urteil in BFHE 240, 516, BStBl II 2013, 547, unter III.3.a b[]
  30. vgl. die auf die Rechtsprechung des EGMR gestützte Zusammenstellung eilbedürftiger Verfahrensarten bei Peukert in Frowein/Peukert, a.a.O., Art. 6 Rz 262[]
  31. Peukert in Frowein/Peukert, a.a.O., Art. 6 Rz 249: 1,5 bis zwei Jahre; Meyer-Ladewig, EMRK, 3. Aufl., Art. 6 Rz 199: zwei Jahre; Remus, NJW 2012, 1403, 1404: zwei bis drei Jahre[]
  32. Geschäftsbericht der Finanzgerichte der Bundesrepublik Deutschland für die Jahre 2009 und 2010, EFG 2011, 1578, 1581; vgl. aber zur eingeschränkten Aussagekraft statistischer Werte für die Konkretisierung des § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG: BVerwG, Urteil vom 11.07.2013 – 5 C 23.12 D, unter 1.b aa (2) []
  33. BVerfG, Beschluss vom 03.04.2013 – 1 BvR 2256/10 – Vz 32/12, NJW 2013, 2341, unter II.1.c vor aa[]
  34. vgl. BT-Drs. 17/3802, 21[]
  35. BFH, Beschluss vom 09.08.2007 – III B 187/06, BFH/NV 2007, 2310[]
  36. BFH, Beschluss vom 08.01.2013 – V B 23/12, BFH/NV 2013, 748[]
  37. BFH, Beschluss vom 19.12.2008 – III B 163/07, BFH/NV 2009, 578, m.w.N. auf die ständige höchstrichterliche Rechtsprechung zu dieser Frage[]