Überlange Verfahrensdauer – und Wiedergutmachung auf andere Weise als durch Entschädigung

Ein PKH-Verfahren, das gleichzeitig neben einem rechtshängigen Hauptsacheverfahren geführt wird, ist entschädigungsrechtlich kein eigenständiges Gerichtsverfahren i.S. von § 198 Abs. 6 Nr. 1 Halbsatz 1 GVG. Dessen Bearbeitung ist dann als verfahrensfördernde Maßnahme des Hauptsacheverfahrens anzusehen, wenn es sich um eine solche handelt, die erkennbar eine verfahrensbeendende Zielrichtung hat.

Überlange Verfahrensdauer – und Wiedergutmachung auf andere Weise als durch Entschädigung

Ist dem Entschädigungskläger aufgrund der unangemessen langen Dauer eines Gerichtsverfahrens ein Nichtvermögensnachteil entstanden, ist allein der Gesichtspunkt, der Entschädigungskläger sei neben der Überlänge des Verfahrens keinen weitergehenden immateriellen Nachteilen ausgesetzt gewesen, im finanzgerichtlichen Verfahren regelmäßig nicht geeignet, dem Entschädigungskläger eine Geldentschädigung zu versagen und ihn auf eine Wiedergutmachung in anderer Weise zu verweisen. Auch eine bereits geleistete Geldentschädigung für die unangemessene Dauer eines Parallelverfahrens bei demselben Ausgangsgericht steht der Zuerkennung einer weiteren Entschädigung aufgrund der Verzögerungen des anderen Verfahrens regelmäßig nicht entgegen.

Wer infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erleidet, wird angemessen entschädigt (§ 198 Abs. 1 Satz 1 GVG). Nach Abs. 1 Satz 2 der Vorschrift richtet sich die Angemessenheit der Verfahrensdauer nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach der Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens und nach dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter.

Die unangemessene Dauer des Gerichtsverfahrens

Nach den hierzu vom Bundesfinanzhof entwickelten und in ständiger Rechtsprechung vertretenen Rechtsgrundsätzen ist bei einem finanzgerichtlichen Klageverfahren, das im Vergleich zu dem typischen in dieser Gerichtsbarkeit zu bearbeitenden Verfahren keine wesentlichen Besonderheiten aufweist, zu vermuten, dass die Dauer des Verfahrens i.S. von § 198 Abs. 1 GVG noch angemessen ist, wenn das Gericht gut zwei Jahre nach dem Eingang der Klage mit Maßnahmen beginnt, die das Verfahren einer Entscheidung zuführen sollen, und die damit begonnene letzte Phase des Verfahrenslaufs nicht durch nennenswerte Zeiträume unterbrochen wird, in denen das Gericht die Akte unbearbeitet lässt. Dies gilt allerdings nicht, wenn der Verfahrensbeteiligte rechtzeitig und in nachvollziehbarer Weise auf Umstände hinweist, aus denen eine besondere Eilbedürftigkeit des Verfahrens folgt1.

ach diesen rechtlichen Maßstäben sind im Streitfall Besonderheiten, die dazu führen könnten, von der Anwendung der Regelvermutung für die Angemessenheit der Dauer finanzgerichtlicher Verfahren abzusehen, nicht ersichtlich.

Das Ausgangsverfahren hatte im Hinblick darauf, dass die Säumniszuschläge vom Kläger bereits gezahlt worden waren, eine durchschnittliche Bedeutung. Zudem wies es eine durchschnittliche Schwierigkeit und aufgrund des Umfangs der eingereichten Schriftsätze sowie der Bezüge zum parallelen Verfahren 3 K 362/16 eine ebenso durchschnittliche Komplexität auf. Gründe für eine Eilbedürftigkeit hat der Kläger gegenüber dem Ausgangsgericht weder innerhalb der zweijährigen Regelvermutungsfrist noch mit seinen Verzögerungsrügen ausdrücklich geltend gemacht.

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Demzufolge begann für das im November 2016 rechtshängig gewordene Ausgangsverfahren mit Beginn des Dezembers 2018 diejenige Phase, in der das Ausgangsgericht das Verfahren ohne nennenswerte Unterbrechungszeiten hätte fördern und einer Entscheidung zuführen müssen.

Der Aktenlage ist allerdings weder für den Monat Dezember 2018 noch für den nachfolgenden Zeitraum bis einschließlich Oktober 2019 eine auf die Entscheidung des Verfahrens gerichtete Förderung zu entnehmen. Das Verfahren ist während dieses elfmonatigen Zeitraums nicht bearbeitet worden und gilt insoweit als verzögert. Für den Monat Oktober 2019 spricht hiergegen nicht, dass die dem Parallelverfahren 3 K 362/16 zugeordneten Verwaltungsvorgänge der Berichterstatterin trotz ihrer Bitte vom 08.10.2019 zunächst nicht vom 03. Bundesfinanzhof des Finanzgericht überlassen wurden. In Anbetracht der zu diesem Zeitpunkt bereits erheblich verzögerten Verfahrensdauer hätte durch innerorganisatorische Maßnahmen sichergestellt werden müssen, dass das Ausgangsverfahren gefördert werden kann (z.B. durch Erstellung einer kopierten Zweitakte).

Auch für den Monat November 2019 sind keine gerichtlichen Aktivitäten in einem Umfang zu verzeichnen, die im Hinblick auf das zu diesem Zeitpunkt bereits erheblich verzögerte Verfahren die Annahme einer unangemessenen Verfahrensdauer i.S. von § 198 Abs. 1 GVG ausschließen würden.

Die Akten zeigen für diesen Monat lediglich den schriftlichen Hinweis des Ausgangsgerichts vom 19.11.2019, dass die Verwaltungsvorgänge des Finanzamtes nach zwischenzeitlicher Beendigung des Verfahrens 3 K 362/16 nunmehr vorlägen. Hierbei handelt es sich nicht um eine verfahrensfördernde Maßnahme, sondern lediglich um die Ankündigung einer solchen.

Auch die an den Kläger gerichtete Bitte vom 27.11.2019, seine Angaben zu den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen wegen der noch ausstehenden PKH, Entscheidung zu aktualisieren, ist nicht als fördernde Maßnahme in Bezug auf das Hauptsacheverfahren zu werten.

Aus diesen Rechtsgrundsätzen folgt zum einen, dass Verzögerungen im Verfahren um die PKH-Bewilligung während der Dauer eines gleichzeitig rechtshängig gewordenen Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen sein können, wenn ein Gericht wegen eines solchen Nebenverfahrens die Hauptsache nicht so zügig bearbeitet wie dies ggf. erforderlich wäre2. Zum anderen ist die Bearbeitung eines PKH-Verfahrens dann als verfahrensfördernde Maßnahme des Hauptsacheverfahrens anzusehen, wenn es sich um eine solche handelt, die erkennbar eine verfahrensbeendende Zielrichtung hat. Dies ist hier nicht der Fall. Die gerichtliche Bitte vom 27.11.2019 betraf lediglich die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Klägers, deren Überprüfung ausschließlich Gegenstand eines PKH-Bewilligungsverfahrens ist.

 Auch während des Zeitraums von Dezember 2019 bis Februar 2020 ist für den Bundesfinanzhof nicht erkennbar, dass das Ausgangsgericht das Verfahren gefördert hätte.

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Anderes gilt für den Folgemonat März 2020. Das Ausgangsgericht hat dem Kläger mit Beschluss vom 31.03.2020 -wie bereits zuvor in Aussicht gestellt- PKH unter Ratenzahlung bewilligt. Die gesetzlichen Voraussetzungen für die Bewilligung von PKH gemäß § 142 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 der Zivilprozessordnung (ZPO) zwingen zu der Annahme, dass sich das Finanzgericht bereits zu dieser Zeit mit den Erfolgsaussichten des Ausgangsverfahrens auseinandergesetzt und dieses daher mit verfahrensbeendender Zielrichtung gefördert hat.

Auch für den nachfolgenden Zeitraum bis zum verfahrensbeendenden Erörterungstermin im Juli 2020 sind für den Bundesfinanzhof keine nennenswerten Unterbrechungen in der Bearbeitung des Ausgangsverfahrens ersichtlich, die zu einer weiteren Verzögerung gemäß § 198 GVG hätten führen können.

Im April 2020 wurde das Verfahren -wenn auch ohne Erfolg- dem Güterichter des Finanzgericht vorgelegt (§ 155 Satz 1 FGO i.V.m. § 278 Abs. 5 ZPO).

Am 29.05.2020 lud die Berichterstatterin -nach vorherigen Telefonaten mit den Vertretern der dortigen Beteiligten- zum Erörterungstermin am 27.07.2020. Der etwa zweimonatige Terminierungsvorlauf ist trotz der zu dieser Zeit bereits bestehenden Verzögerungen entschädigungsrechtlich unbedenklich3. Zudem ist aktenkundig, dass die Präsidentin des Ausgangsgerichts erst am 28.05.2020 den pandemiebedingt seit dem 16.03.2020 ausgesetzten allgemeinen Sitzungsbetrieb mit Wirkung zum 02.06.2020 wieder freigegeben hat; die Berichterstatterin hat somit die erstmögliche Gelegenheit zur Ladung ergriffen.

Die Höhe der Entschädigung

Für den vorgenannten Zeitraum einer unangemessenen Verfahrensdauer von insgesamt 15 Monaten liegen die Voraussetzungen für die Zuerkennung einer Geldentschädigung in Höhe von 1.500 € vor.

Die hierfür gemäß § 198 Abs. 3 Satz 1 GVG erforderliche Verzögerungsrüge hat der Kläger erstmals wirksam am 29.03.2019 erhoben. Nach der Bundesfinanzhofsrechtsprechung wirkt eine Verzögerungsrüge zwar nicht zeitlich unbeschränkt, im Regelfall aber sechs Monate vor deren Erhebung zurück4. Somit liegt selbst der erstmögliche Verzögerungsmonat (Dezember 2018) noch im Rückwirkungszeitraum.

Das Entstehen eines Nichtvermögensnachteils wird in Fällen unangemessener Verfahrensdauer gemäß § 198 Abs. 2 Satz 1 GVG vermutet. Diese Vermutungsregel findet auch vorliegend Anwendung.

Die Begründung der Bundesregierung zum Entwurf eines Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren geht unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) von einer „starken, aber widerlegbaren“ Vermutung aus, dass ein überlanges Gerichtsverfahren „in aller Regel“ einen Nichtvermögensnachteil zur Folge hat5. Diese Vermutung trägt auch der Tatsache Rechnung, dass der Verfahrensbeteiligte den Nachweis eines Nichtvermögensnachteils oft nur schwierig oder gar nicht führen kann6.

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Ein wiedergutmachungspflichtiger Nachteil liegt allerdings dann nicht vor, wenn sicher festgestellt wird, dass die -unangemessene- Verfahrensdauer nicht zu einem Nachteil geführt hat, sei es, dass kein Nachteil vorliegt oder sei es, dass kein Kausalzusammenhang zwischen Verfahrensdauer und Nachteil gegeben ist7. Hierzu bedarf es nach § 155 Satz 1 FGO i.V.m. § 292 Satz 1 ZPO des vollen Beweises des Nichtbestehens eines wiedergutmachungspflichtigen Nachteils; die bloße Erschütterung der gesetzlichen Vermutung genügt nicht8.

Die zuletzt genannten Voraussetzungen sind vorliegend nicht gegeben. Der Beklagte hat keine Umstände vorgetragen, die es erlaubten, die gesetzliche Vermutung eines Nichtvermögensnachteils als widerlegt anzusehen; solche Umstände sind auch sonst nicht ersichtlich. Vielmehr ist -der Vermutung entsprechend- davon auszugehen, dass die unangemessene Verfahrensdauer von 15 Monaten auch zu einem Nachteil beim Kläger geführt hat.

Unerheblich ist in diesem Zusammenhang, dass der Kläger parallele -in einem gewissen sachlichen Zusammenhang stehende- Streitverfahren vor dem Ausgangsgericht geführt und für die unangemessene Dauer des einen Verfahrens bereits eine Entschädigung bezogen hat. Andernfalls bliebe unberücksichtigt, dass es sich um jeweils gesondert zu betrachtende Gerichtsverfahren i.S. von § 198 Abs. 6 Nr. 1 Halbsatz 1 GVG handelte. Darüber hinaus ist zu beachten, dass der wiederholt gestellte Antrag des Klägers, die Verfahren gemäß § 73 Abs. 1 Satz 1 FGO zu verbinden; vom Ausgangsgericht unerhört blieb. Musste der Kläger somit weiterhin zwei getrennte -seit Juli 2019 zudem in den Zuständigkeitsbereich verschiedener Bundesfinanzhofe fallende- Verfahren führen, wird die gesetzliche Vermutung des Bestehens eines Nichtvermögensnachteils im Fall der Verzögerung beider Verfahren geradezu bestätigt.

Eine Wiedergutmachung der unangemessenen Verfahrensdauer auf andere Weise als durch die Zahlung einer Entschädigung gemäß § 198 Abs. 2 Satz 2, Abs. 4 Satz 1 GVG kommt nicht in Betracht.

Die schlichte Feststellung der Unangemessenheit der Verfahrensdauer durch das Entschädigungsgericht ist in § 198 Abs. 4 Satz 1 GVG ausdrücklich als eine der Möglichkeiten bezeichnet, Wiedergutmachung auf andere Weise als durch Zuerkennung eines Geldanspruchs zu leisten. Der Bundesfinanzhof hat bereits entschieden, dass für das Verhältnis zwischen einer „Geldentschädigung“ und einem „Feststellungsausspruch“ weder ein Vorrang der Geldentschädigung noch eine anderweitige Vermutungsregel gilt. Demzufolge ist jedenfalls nach dem Gesetzeswortlaut vor der Zuerkennung einer Geldentschädigung jeweils konkret zu prüfen, ob eine Wiedergutmachung durch die bloße Feststellung einer unangemessenen Verfahrensdauer möglich ist9. Dies kann nicht pauschal, sondern muss unter Abwägung aller Belange im Einzelfall entschieden werden10.

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Der Bundesfinanzhof hat einen Feststellungsausspruch nach § 198 Abs. 4 Satz 1 GVG mit Blick auf die beispielhaften Aufzählungen in der Gesetzesbegründung11 bislang auf solche Fälle beschränkt, in denen das Verfahren für den jeweiligen Beteiligten keine besondere Bedeutung haben konnte oder dieser durch sein eigenes Verhalten erheblich zur Verzögerung beigetragen hat. So hat er die Feststellung einer unangemessenen Verfahrensdauer genügen lassen bei einem unschlüssigen Klagevorbringen12, ebenso bei einer in der Sache nicht begründeten Weigerung, dem Ruhen des Verfahrens nach § 251 ZPO zuzustimmen13. Dagegen ist ein Feststellungsausspruch nicht ausreichend, wenn ein Verfahrensbeteiligter erkennbar an einer zügigen Entscheidung interessiert ist, das Ausgangsgericht aber auf die mehrfachen Versuche des Beteiligten, es zu einer Entscheidung innerhalb angemessener Frist zu bewegen, entweder nicht reagiert hat oder sich auf Standardantworten beschränkt und noch nicht einmal einen Zeitpunkt in Aussicht gestellt hat, ab dem mit einer Verfahrensförderung zu rechnen sei14.

Der Gesetzesbegründung ist zu entnehmen, dass die Feststellung einer unangemessenen Verfahrensdauer anstelle einer Geldentschädigung auch dann genügen kann, wenn ein Verfahrensbeteiligter keinen weitergehenden immateriellen Schaden erlitten hat und die Überlänge des Verfahrens den einzigen Nachteil darstellt11. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) und des BSG kann es darüber hinaus darauf ankommen, wie lange das Verfahren sich verzögert hat, ob das Ausgangsverfahren für den Verfahrensbeteiligten eine besondere Dringlichkeit aufwies oder ob diese inzwischen entfallen war. Bedeutung erlangen können hiernach auch durch die überlange Verfahrensdauer erlangten Vorteile, die das Gewicht der erlittenen Nachteile aufwiegen15.

All diese Erwägungen führen vorliegend nicht dazu, eine Geldentschädigung hinter einer Wiedergutmachung durch Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer zurücktreten zu lassen.

Es liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass das Ausgangsverfahren für den Kläger keine besondere Bedeutung hatte. Vielmehr wäre der Kläger in der Lage gewesen, im Fall des von ihm begehrten Erlasses der bereits gezahlten Säumniszuschläge von mehr als 50.000 € das von seinem Prozessbevollmächtigten u.a. hierfür gewährte Darlehen in entsprechender Höhe zurückzuführen. Ebenso wenig ist für den Bundesfinanzhof ersichtlich und wird vom Beklagten auch nicht behauptet, dass der Kläger durch sein eigenes Verhalten zur Verzögerung beigetragen hätte. Die mehrfachen Verzögerungsrügen -erstmals im Februar 2018- belegen, dass der Kläger ein deutliches Interesse an einer zügigen Entscheidung hatte, zumal die Zinslast für das Darlehen im Ergebnis umso geringer ausgefallen wäre, je eher er dieses mit den beanspruchten Mitteln aus dem Erlass der Säumniszuschläge zumindest teilweise hätte tilgen können. Demzufolge war die Zügigkeit der Entscheidung des Ausgangsgerichts durchgängig dringlich.

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Die weitere Erwägung der Gesetzesbegründung, eine Wiedergutmachung nach § 198 Abs. 4 Satz 1 GVG sei auch in Betracht zu ziehen, wenn der Verfahrensbeteiligte neben der Überlänge des Verfahrens keinen weitergehenden immateriellen Nachteil erlitten habe11, hat nach Ansicht des Bundesfinanzhofs für ein finanzgerichtliches Verfahren grundsätzlich keine Relevanz. Streitgegenstand sind -wie auch im vorliegenden Ausgangsverfahren- nahezu ausschließlich Steuerzahlungs- und -vergütungsansprüche im Verhältnis zwischen Staat und Steuerpflichtigem. Die von der Gesetzesbegründung an anderer Stelle benannten zusätzlichen Ausprägungen einer „seelischen Unbill“ (z.B. körperliche Beeinträchtigungen, Rufschädigungen, Entfremdungen eines Kindes von einem Elternteil bei einem unangemessen lang dauernden gerichtlichen Sorgerechtsstreit)16 stellen sich in einem finanzgerichtlichen Verfahren typischerweise nicht. Deren Fehlen kann aber nicht dazu führen, die -allein- aus der Überlänge des gerichtlichen Verfahrens erwachsenen immateriellen Nachteile grundsätzlich nur über eine Feststellung gemäß § 198 Abs. 4 Satz 1 GVG wiedergutzumachen.

Gegen eine Wiedergutmachung nach § 198 Abs. 4 Satz 1 GVG spricht vorliegend auch die nicht unerhebliche Verzögerung des Ausgangsverfahrens von 15 Monaten.

Die weiteren vom Beklagten angeführten Umstände rechtfertigen kein anderes Ergebnis. Zwar besteht zwischen dem vorliegenden Ausgangsverfahren und dem zuletzt unter dem Aktenzeichen 3 K 362/16 geführten parallelen Verfahren -neben der Identität der Streitbeteiligten- insofern ein Zusammenhang, als die Säumniszuschläge, deren Erlass der Kläger im vorliegenden Ausgangsverfahren erstrebte, darauf beruhten, dass er fällige Steuerforderungen, deren Rechtmäßigkeit er im Verfahren 3 K 362/16 bestritt, nicht rechtzeitig beglich. Dieser Zusammenhang ist im Rahmen einer Gesamtabwägung allerdings ebenso wenig wie der Umstand, dass der Kläger für die unangemessene Dauer des letztgenannten Verfahrens bereits entschädigt wurde, tragfähiger Grund dafür, ihm für die vorliegende Verfahrensverzögerung eine Geldentschädigung abzusprechen. Es handelt sich um zwei entschädigungsrechtlich gesondert zu beurteilende Gerichtsverfahren i.S. von § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG. Ferner muss auch insoweit berücksichtigt werden, dass das Ausgangsgericht die vom Kläger wiederholt beantragte Verbindung beider Verfahren nicht vorgenommen hat. Darüber hinaus besteht im Wesentlichen keine Deckungsgleichheit hinsichtlich der Zeiträume einer Verfahrensverzögerung.

Umstände dafür, dass der in § 198 Abs. 2 Satz 3 GVG genannte Regelbetrag von 1.200 € für jedes Jahr der Verzögerung unbillig i.S. von Abs. 2 Satz 4 der Vorschrift sein könnte, sind weder von den Beteiligten vorgetragen worden noch sonst ersichtlich. Obwohl im Gesetz ein Jahresbetrag genannt ist, ist dieser im konkreten Fall nach Monaten zu bemessen17.

Dem Kläger stehen ab dem Tag nach der Zustellung der Entschädigungsklage an den Beklagten Prozesszinsen unter dem Gesichtspunkt der Rechtshängigkeit zu (§ 291 i.V.m. § 288 Abs. 1 Satz 2 BGB, § 66 Satz 2 FGO)18.

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Bundesfinanzhof, Urteil vom 23. März 2022 – X K 6/20

  1. vgl. statt vieler BFH, Urteil vom 08.10.2019 – X K 1/19, BFH/NV 2020, 98, Rz 27 ff., m.w.N.[]
  2. zutreffend BSG, Entscheidungen in SozR 4-1720 § 198 Nr 14, Rz 29, sowie vom 18.02.2021 – B 10 ÜG 8/20 B Rz 6[]
  3. vgl. hierzu bereits BFH, Urteil vom 07.05.2014 – X K 11/13, BFH/NV 2014, 1748, Rz 56, in dem ein Terminierungsvorlauf von drei Monaten nicht als Verzögerung angesehen wurde[]
  4. BFH, Urteile vom 06.04.2016 – X K 1/15, BFHE 253, 205, BStBl II 2016, 694, Rz 40 ff., sowie vom 25.10.2016 – X K 3/15, BFH/NV 2017, 159, Rz 39[]
  5. BT-Drs. 17/3802, S.19; EGMR, Urteil vom 29.03.2006 – 36813/97, Neue Juristische Wochenschrift -NJW- 2007, 1259, Rz 204[]
  6. BT-Drs. 17/3802, S.19[]
  7. BFH, Urteil vom 20.11.2013 – X K 2/12, BFHE 243, 151, BStBl II 2014, 395, Rz 26[]
  8. vgl. hierzu BSG, Urteil vom 17.12.2020 – B 10 ÜG 1/19 R, SozR 4-1720 § 198 Nr 20, Rz 53, m.w.N.[]
  9. BFH, Urteil vom 17.04.2013 – X K 3/12, BFHE 240, 516, BStBl II 2013, 547, Rz 57[]
  10. BT-Drs. 17/3802, S.20; Urteil des Bundesgerichtshofs vom 23.01.2014 – III ZR 37/13, BGHZ 200, 20, Rz 62; BSG, Urteil vom 12.12.2019 – B 10 ÜG 3/19 R, SozR 4-1720 § 198 Nr 18, Rz 40, m.w.N.[]
  11. BT-Drs. 17/3802, S.20[][][]
  12. BFH, Urteil in BFHE 240, 516, BStBl II 2013, 547, Rz 62[]
  13. BFH, Urteile vom 04.06.2014 – X K 12/13, BFHE 246, 136, BStBl II 2014, 933, Rz 38, sowie vom 02.12.2015 – X K 4/14, BFH/NV 2016, 758, Rz 43[]
  14. BFH, Urteile vom 19.03.2014 – X K 8/13, BFHE 244, 521, BStBl II 2014, 584, Rz 35; vom 20.08.2014 – X K 9/13, BFHE 247, 1, BStBl II 2015, 33, Rz 36[]
  15. BVerwG, Urteile vom 11.07.2013 – 5 C 23/12 D, BVerwGE 147, 146, Rz 57, sowie vom 12.07.2018 – 2 WA 1/17 D, NJW 2019, 320, Rz 36; BSG, Urteil in SozR 4-1720 § 198 Nr 18, Rz 40[]
  16. vgl. BT-Drs. 17/3802, S.19[]
  17. BFH, Urteil in BFH/NV 2021, 1507, Rz 51, m.w.N.[]
  18. vgl. auch BFH, Urteil in BFH/NV 2021, 1507, Rz 52, m.w.N.[]