Besteuerung von Gutscheinen

Der Bundesfinanzhof hat den Gerichtshof der Europäischen Union gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV zur Vorabentscheidung von Fragen zur Umsatzbesteuerung von Gutscheinen -konkret:  zur Auslegung von Art. 30a Nr. 2 und Art. 30b Unterabs. 2 der Mehrwertsteuersystemrichtlinie 2006/112/EG- angerufen:

Besteuerung von Gutscheinen
  1. Liegt ein Einzweck-Gutschein i.S. von Art. 30a Nr. 2 MwStSystRL vor, wenn
    • zwar der Ort der Erbringung von Dienstleistungen, auf die sich der Gutschein bezieht, insoweit feststeht, als diese Dienstleistungen im Gebiet eines Mitgliedstaats an Endverbraucher erbracht werden sollen,
    • aber die Fiktion des Art. 30b Abs. 1 Unterabs. 1 Satz 1 MwStSystRL, nach der auch die Übertragung des Gutscheins zwischen Steuerpflichtigen zur Erbringung der Dienstleistung, auf die sich der Gutschein bezieht, zu einer Dienstleistung im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats führt?
  2. Falls die Frage 1 verneint wird (und damit im Streitfall ein Mehrzweck-Gutschein vorliegt): Steht Art. 30b Abs. 2 Unterabs. 1 MwStSystRL, wonach die tatsächliche Erbringung der Dienstleistungen, für die der Erbringer der Dienstleistungen einen Mehrzweck-Gutschein als Gegenleistung oder Teil einer solchen annimmt, der Mehrwertsteuer gemäß Art. 2 MwStSystRL unterliegt, wohingegen jede vorangegangene Übertragung dieses Mehrzweck-Gutscheins nicht der Mehrwertsteuer unterliegt, einer anderweitig begründeten Steuerpflicht1 entgegen?

30a Nr. 2 MwStSystRL ist unproblematisch anwendbar, wenn zum Beispiel der im Inland ansässige Steuerpflichtige (A), der eine Dienstleistung (oder dem gleichgestellt eine Lieferung) zu erbringen beabsichtigt, hierüber einen Gutschein auf den gleichfalls im Inland ansässigen Empfänger (C) überträgt, der diese Dienstleistung als Endverbraucher zu beziehen beabsichtigt. Stehen der Ort und die Mehrwertsteuer im Sinne des Art. 30a Nr. 2 MwStSystRL für diese Dienstleistung fest, liegt ein sogenannter Einzweck-Gutschein vor, auf den Art. 30b Abs. 1 Unterabs. 1 MwStSystRL anzuwenden ist. Durch diese Bestimmung wird der Steuertatbestand vorverlagert. Denn danach gilt bereits die Übertragung des Gutscheins als Erbringung der Dienstleistung, so dass die (gegebenenfalls -ggf.- später erfolgende) tatsächliche Erbringung der Dienstleistung „nicht als unabhängiger Umsatz“ gilt und damit im Hinblick auf die bereits zuvor erfolgte Besteuerung der Gutscheinübertragung nicht mehr zu besteuern ist.

Demgegenüber bestehen Auslegungsschwierigkeiten für den Fall, dass A den Gutschein im eigenen Namen auf den in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Steuerpflichtigen B (als Zwischenhändler) überträgt, der diesen seinerseits im eigenen Namen auf C überträgt. Nach Art. 30b Abs. 1 Unterabs. 1 MwStSystRL kommt es dann zu einer Umsatzverdoppelung. Es gelten dann sowohl die Übertragung des Gutscheins von A auf B als auch die Übertragung von B auf C als Erbringung der Dienstleistung, auf die sich der Gutschein bezieht, während die (ggf. später erfolgende) tatsächliche Erbringung der Dienstleistung wiederum nicht mehr zu besteuern ist.

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Fraglich ist für diesen Fall der Abwandlung, welche Folgen sich aus Art. 30b Abs. 1 Unterabs. 1 Satz 1 MwStSystRL für Art. 30a Nr. 2 MwStSystRL ergeben. Denn damit ein Einzweck-Gutschein i.S. von Art. 30a Nr. 2 MwStSystRL vorliegt, muss der Ort der Dienstleistung, auf den sich der Gutschein bezieht, feststehen. Für den Fall der mehrfachen Gutscheinübertragung folgt aus Art. 30b Abs. 1 Unterabs. 1 Satz 1 MwStSystRL aber, dass die Dienstleistung, auf die sich der Gutschein bezieht, als mehrfach erbracht gilt.

Damit stellt sich die Frage, ob es aufgrund einer derart mehrfachen Leistungserbringung für Zwecke des Art. 30a Nr. 2 MwStSystRL nur einen oder auch mehrere Leistungsorte geben kann.

Bezieht sich die Fiktionswirkung des Art. 30b Abs. 1 Unterabs. 1 Satz 1 MwStSystRL auf die im Gutschein in Bezug genommene Dienstleistung nur ihrer Art nach, kann es zu unterschiedlichen Leistungsorten kommen, wenn sich die Ortsbestimmung für die im Gutschein in Bezug genommene Dienstleistung nach dem Empfängerort richtet. Auf dieser Grundlage könnte ein Einzweck-Gutschein zu verneinen sein. Denn die Dienstleistung, auf die sich der Gutschein bezieht, wird zweimal und dann (je nach Ansässigkeit des Zwischenhändlers) möglicherweise an unterschiedlichen Orten erbracht. Für diese Sichtweise könnte eine wörtliche Auslegung von Art. 30b Abs. 1 Unterabs. 1 Satz 1 MwStSystRL sprechen. Diese Auslegung würde dazu führen, dass sich der Anwendungsbereich des Einzweck-Gutscheins im Dienstleistungsbereich erheblich verkleinert. Denn ein Einzweck-Gutschein wäre zu verneinen, wenn er sich auf eine Dienstleistung bezieht, die bei ihrer Erbringung an einen Steuerpflichtigen dem Empfängerortprinzip des Art. 44 MwStSystRL unterliegt. Eine derartige Einschränkung könnte als vom Unionsgesetzgeber nicht gewollt anzusehen sein.

Die vorstehende Auslegung erscheint allerdings nicht zwingend. Zum einen kommt in Betracht, für das Feststehen des Orts der Dienstleistung i.S. von Art. 30a Nr. 2 MwStSystRL die Fiktion, dass die Übertragung des Gutscheins zur Erbringung der Dienstleistung führt, auf den sich der Gutschein bezieht, bei der Prüfung des Leistungsorts von vornherein außer Betracht zu lassen. Die Möglichkeit, dass der Gutschein auch an einen Zwischenhändler in einem anderen Mitgliedstaat übertragen werden darf beziehungsweise wird, wäre dann für die Anwendung von Art. 30a Nr. 2 MwStSystRL von vornherein ohne Bedeutung.

Zum anderen könnte der Fiktionswirkung des Art. 30b Abs. 1 Unterabs. 1 Satz 1 MwStSystRL eine weitergehende Bedeutung beizumessen sein. So könnte zu erwägen sein, ob bei einem Gutschein, der sich auf eine an einen Endverbraucher zu erbringende Dienstleistung bezieht, auch bei einer Übertragung zwischen zwei Steuerpflichtigen der Leistungsort der Übertragungsleistung am Ort der an den Endverbraucher zu erbringenden Dienstleistung liegt. Im Fall der Abwandlung befände sich danach der Ort der Übertragung von A an B im Inland, da hier die Dienstleistung erbracht werden soll, auf die sich der Gutschein bezieht. Ein nicht im Inland ansässiger Zwischenhändler könnte sich dann im Inland registrieren, inländische Umsatzsteuer im Inland anmelden und ggf. einen Vorsteuerabzug vornehmen oder Vorsteuer-Vergütung beantragen müssen.

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Durch Art. 9 Nr. 2 Buchst. b des Gesetzes zur Vermeidung von Umsatzsteuerausfällen beim Handel mit Waren im Internet und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften vom 11.12.20182 wurden auf der Grundlage von Art. 30a MwStSystRL § 3 UStG die Absätze 13 bis 15 angefügt, die gemäß § 27 Abs. 23 UStG erstmals auf Gutscheine anzuwenden sind, die nach dem 31.12.2018 ausgestellt werden.

Soweit die hier klagende Internethändlerin in dem hier beim Bundesfinanzhof anhängigen Rechtsstreit im Streitjahr nach dem 31.12.2018 ausgestellte Gutscheine übertrug und damit gemäß § 27 Abs. 23 UStG die Vorschriften des § 3 Abs. 13 bis 15 UStG Anwendung finden, ist fraglich, ob es sich bei diesen Gutscheinen um Einzweck-Gutscheine i.S. des § 3 Abs. 14 UStG handelt, deren Übertragung jeweils als Lieferung oder sonstige Leistung gilt. Denn hierfür müssten der Ort der Lieferung oder der sonstigen Leistung, auf die sich der Gutschein bezieht, und die für diese Umsätze geschuldete Steuer zum Zeitpunkt der Ausstellung des Gutscheins feststehen (Art. 30a Nr. 2 MwStSystRL, § 3 Abs. 14 Satz 1 UStG). Die X-Cards beziehen sich auf elektronisch erbrachte Dienstleistungen i.S. des Art. 58 Unterabs. 1 Buchst. c MwStSystRL, Art. 7 MwSt-DVO, § 3a Abs. 5 Satz 2 Nr. 3 UStG.

Nach § 3a Abs. 2 Satz 1 UStG wird eine sonstige Leistung, die an einen Unternehmer für dessen Unternehmen ausgeführt wird, grundsätzlich an dem Ort ausgeführt, von dem aus der Empfänger sein Unternehmen betreibt, das heißt (d.h.) vorliegend am Sitz von L1 und L2 im übrigen Gemeinschaftsgebiet. Ist der Empfänger der in § 3a Abs. 5 Satz 2 Nr. 3 UStG bezeichneten sonstigen Leistung hingegen kein Unternehmer, für dessen Unternehmen die Leistung bezogen wird -wie im Streitfall die Kunden der Internethändlerin-, wird die sonstige Leistung an dem Ort ausgeführt, an dem der Leistungsempfänger seinen Wohnsitz, seinen gewöhnlichen Aufenthaltsort oder seinen Sitz hat (§ 3a Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 UStG). Daraus folgt, dass für Leistungen an Unternehmer, die als solche handeln, und für Leistungen an Nichtunternehmer sowie an Unternehmer, die nicht als solche handeln, unterschiedliche Leistungsorte vorgesehen sind.

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Ausgehend davon ist unionsrechtlich zweifelhaft, ob zum Zeitpunkt der Ausstellung der X-Cards der Ort der sonstigen Leistung und die geschuldete Steuer feststanden. Denn fraglich ist, ob sich das für die Annahme eines Einzweck-Gutscheins bestehende Erfordernis, dass der Ort der Leistung feststehen muss (Art. 30a Nr. 2 MwStSystRL, § 3 Abs. 14 Satz 1 UStG), nur auf die Ausgabe („Verkauf eines Gutscheins an Kunden“ i.S. von Abschn.03.17 Abs. 1 Satz 11 des Umsatzsteuer-Anwendungserlasses -UStAE-)) oder auch auf eine dem vorausgehende Übertragung nach Art. 30b Abs. 1 Unterabs. 1 MwStSystRL, § 3 Abs. 14 Satz 2 UStG („Verkauf eines Gutscheins zwischen Unternehmern“ i.S. von Abschn.03.17 Abs. 1 Satz 10 UStAE) bezieht.

Bezieht sich das Erfordernis, dass der Ort der Leistung feststehen muss, nur auf die tatsächlich erbrachte Dienstleistung (im Sinne eines „Verkaufs eines Gutscheins an Kunden“), d.h. i.S. des Art. 30a MwStSystRL auf die elektronisch erbrachte Dienstleistung, auf die sich die X-Cards beziehen, liegt im Streitfall ein Einzweck-Gutschein vor. Denn der Ort der elektronischen Dienstleistung, auf die sich der Gutschein bezieht, wird sich bei Einlösung nicht nach Art. 44 MwStSystRL bestimmen, da selbst dann, wenn die einlösende Person an sich ein Steuerpflichtiger i.S. der Art. 2 und 9 MwStSystRL wäre, sie nicht i.S. des Art. 44 MwStSystRL als solcher handeln wird, weil sie die elektronisch erbrachte Dienstleistung der Y für private Zwecke beziehen wird (siehe Art.19 MwSt-DVO)3. Der Leistungsort bei Einlösung wird daher nach Art. 58 Unterabs. 1 Buchst. c MwStSystRL zu bestimmen sein.

Der Ort dieser Leistung steht fest, da nur eine Einlösung durch im Inland ansässige Endverbraucher in Betracht kommt. Denn nach den vom Finanzgericht festgestellten Bedingungen für die Nutzung der X-Cards besteht eine strikte Ländertrennung. Bei der Eröffnung eines Nutzerkontos sind Identität und Wohnsitz des Nutzers wahrheitsgemäß anzugeben; für den Fall einer Identitäts- oder Wohnsitztäuschung ist ausdrücklich die Sperrung des Nutzerkontos mit dem Verfall des eingezahlten Guthabens angedroht. Für Kunden mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthaltsort im Inland und einem deutschen X-Konto ist die Kennung DE vorgesehen. Diese Konten können nur mit einer Guthabenkarte mit der Länderkennung DE aufgeladen werden. Auf dieser Grundlage stehen für den Regelfall einer vertragsgemäßen Nutzung des X sowohl der Leistungsort als auch die Steuerschuld fest. Die hiergegen gerichteten Einwendungen der Internethändlerin greifen nicht durch. Insbesondere ändert § 3 Abs. 14 Satz 5 UStG wegen der Fiktion des § 3 Abs. 14 Satz 2 UStG daran nichts.

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Wenn die X-Cards deshalb Einzweck-Gutscheine wären, hätte Y als Ausstellerin der Gutscheine (über eine elektronisch erbrachte Dienstleistung), indem sie diese an Vertriebshändler entgeltlich übertrug, diesen gegenüber eine entgeltliche auf elektronischem Weg erbrachte Dienstleistung (§ 3 Abs. 14 Satz 2 UStG; vgl. zu Telekommunikationsdienstleistungen EuGH, Urteil Lebara vom 03.05.2012 – C-520/10, EU:C:2012:264, Rz 43) im Inland erbracht. Ebenso wäre jede weitere Übertragung (von L1 an L2, von L2 an die hier klagende Internethändlerin und von der Internethändlerin an ihre Kunden) eine auf elektronischem Weg erbrachte Dienstleistung im Inland. Dass die Übertragung unternehmerisch erfolgen kann, ändert daran, dass die Einlösung privat erfolgen wird, nichts.

Bezieht sich das Erfordernis, dass der Ort der Leistung feststehen muss, demgegenüber auch auf die Übertragung zwischen Steuerpflichtigen („Verkauf eines Gutscheins zwischen Unternehmern“), erscheint die Annahme eines Einzweck-Gutscheins hingegen fraglich.

Wäre für die Übertragung von Y an L1, von L1 an L2 und von L2 an die Internethändlerin eigenständig ein Leistungsort nach den Art. 43 ff. MwStSystRL zu bestimmen, handelten sowohl L1 und L2 als auch die Internethändlerin bei Erwerb der X-Cards „als solche“ i.S. des Art. 44 MwStSystRL; denn sie haben die X-Cards nicht erworben, um sie selbst für private Zwecke einzulösen, sondern um sie im Rahmen ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit gegen Entgelt an ihre Kunden weiterzuverkaufen. Fände Art. 44 MwStSystRL daher auf die Übertragungsumsätze von Y an L1, von L1 an L2 und von L2 an die Internethändlerin Anwendung, läge der Leistungsort der Übertragung von Y an L1 und von L1 an L2 nicht im Inland und der von L2 an die Internethändlerin im Inland. Der Leistungsort hätte dann bei Ausstellung des Gutscheins durch Y nicht festgestanden, weil es an einer Einschränkung in Bezug auf den Empfängerkreis (Unternehmer oder Nichtunternehmer) sowie deren Ansässigkeit fehlt, wie der Streitfall zeigt.

Die nationale Verwaltungspraxis geht in Abschn.03.17 Abs. 2 Satz 1 UStAE davon aus, dass ein Einzweck-Gutschein nach § 3 Abs. 14 Satz 1 UStG dadurch gekennzeichnet ist, dass der Ort der Lieferung oder sonstigen Leistung, zu deren Bezug der Gutschein berechtigt, sowie die geschuldete Umsatzsteuer, bei dessen Ausgabe oder dessen erstmaliger Übertragung durch den Aussteller des Gutscheins feststehen. Dies entspricht dem Wortlaut des Art. 30a Nr. 2 MwStSystRL, § 3 Abs. 14 Satz 1 UStG, nach dem es darauf ankommt, dass der Ort der Lieferung der Gegenstände oder der Erbringung der Dienstleistungen, auf die sich der Gutschein bezieht, und die für diese Umsätze geschuldete Steuer zum Zeitpunkt der Ausstellung des Gutscheins feststehen.

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Damit könnte im Streitfall für eine Bejahung der ersten Vorlagefrage der dritte Erwägungsgrund der Richtlinie (EU) 2016/1065 des Rates vom 27.06.2016 zur Änderung der Richtlinie 2016/112/EG hinsichtlich der Behandlung von Gutscheinen4 sprechen. Dort heißt es: „Angesichts der seit dem 1.01.2015 anwendbaren neuen Vorschriften über den Ort der Dienstleistung für Telekommunikations- und Rundfunkdienstleistungen sowie elektronisch erbrachte Dienstleistungen ist eine gemeinsame Lösung für Gutscheine erforderlich, um sicherzustellen, dass keine Diskrepanzen in Bezug auf zwischen den Mitgliedstaaten gelieferte Gutscheine entstehen. Dafür ist es unabdingbar, Vorschriften zur Klärung der mehrwertsteuerlichen Behandlung von Gutscheinen festzulegen.“ Dieser Zweck würde verfehlt, wenn die Übertragung ein und desselben Gutscheins unterschiedliche Rechtsfolgen nach sich zöge, je nachdem, ob der Gutschein ausschließlich über im Inland oder aber über im übrigen Gemeinschaftsgebiet ansässige Zwischenhändler oder aber nur direkt ohne Zwischenhändler an den im Inland ansässigen Endkunden vertrieben wird.

Folgte man der ersten Auslegung, hätte die Internethändlerin keine Einzweck-Gutscheine übertragen. Danach hätte X die Gutscheine nach Art. 44 MwStSystRL am Empfängerort der Steuerpflichtigen L1 und L2 in deren jeweiligen Mitgliedstaat zu dem dort gültigen Steuersatz erbracht, während die Übertragungen durch L1 und L2 an die Internethändlerin ebenso nach Art. 44 MwStSystRL am Ansässigkeitsort der Internethändlerin im Inland erbracht worden wären, was auch für die Übertragung durch die Internethändlerin an ihre Kunden gilt. Danach wäre das Erfordernis, dass der Ort und die Mehrwertsteuer für die Dienstleistung feststehen, auf die sich der Gutschein bezieht, nicht erfüllt. Die Revision hätte insoweit Erfolg.

Demgegenüber wäre im Rahmen der zweiten Auslegung am Vorliegen von Einzweck-Gutscheinen festzuhalten; die Revision würde erfolglos bleiben.

Falls die erste Vorlagefrage verneint wird, liegt ein Mehrzweck-Gutschein (Art. 30a Nr. 3 MwStSystRL, § 3 Abs. 15 Satz 1 UStG) vor. In diesem Fall unterliegt nach § 3 Abs. 15 Satz 2 UStG die tatsächliche Lieferung oder die tatsächliche Erbringung der sonstigen Leistung, für die der leistende Unternehmer einen Mehrzweck-Gutschein als vollständige oder teilweise Gegenleistung annimmt, der Umsatzsteuer nach § 1 Abs. 1 UStG, wohingegen jede vorangegangene Übertragung dieses Mehrzweck-Gutscheins nicht der Umsatzsteuer unterliegt.

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Der Bundesfinanzhof geht davon aus, dass die im Streitfall gehandelten X-Cards zum Bezug elektronisch erbrachter Dienstleistungen mehrwertsteuerrechtlich nicht anders zu behandeln sind als die dem EuGH, Urteil Lebara5 zugrundeliegenden Telefonkarten. Danach erbringt ein Telefonanbieter, der Telekommunikationsdienstleistungen anbietet, die darin bestehen, dass an einen Vertriebshändler Telefonkarten verkauft werden, die alle notwendigen Informationen zur Tätigung internationaler Anrufe über die von diesem Anbieter zur Verfügung gestellte Infrastruktur enthalten und die vom Vertriebshändler im eigenen Namen und für eigene Rechnung entweder unmittelbar oder über andere Steuerpflichtige wie Groß- und Einzelhändler an Endnutzer weiterverkauft werden, eine entgeltliche Telekommunikationsdienstleistung an den Vertriebshändler. Nach diesem EuGH, Urteil sind somit sowohl der ursprüngliche Verkauf einer Telefonkarte als auch ihr anschließender Weiterverkauf durch Zwischenhändler steuerbare Umsätze; Guthabenkarten werden danach wie eine Ware gehandelt6.

Auf dieser Grundlage wäre die Übertragung der X-Cards durch die Internethändlerin an ihre Kunden von der Internethändlerin als Erbringung einer elektronisch erbrachten Dienstleistung zu versteuern. Dass dies im Rahmen der Regelung der Art. 30a und Art. 30b MwStSystRL anders bezweckt sein sollte, obwohl diese Bestimmungen zu einer Vorverlagerung der Besteuerung führen sollen, erscheint dem Bundesfinanzhof fragwürdig. In welchem Verhältnis Art. 30b Abs. 2 Unterabs. 1 am Ende MwStSystRL zur Auffassung des EuGH im Urteil Lebara7 steht, ist aus Sicht des vorlegenden Bundesfinanzhofs unklar.

Außerdem könnte die Internethändlerin durch den Zwischenhandel mit Mehrzweck-Gutscheinen Vertriebs- oder Absatzförderungsleistungen i.S. des Art. 30b Abs. 2 Unterabs. 2 MwStSystRL an Y erbracht haben, die der Mehrwertsteuer unterliegen8, so dass die Gegenleistung der Internethändlerin für die Übertragung der Gutscheine durch L2 nicht nur in einer Zahlung, sondern auch in einer solchen Dienstleistung bestehen könnte (tauschähnlicher Umsatz)9.

Bundesfinanzhof, Beschluss vom 3. November 2022 – XI R 21/21

  1. EuGH, Urteil Lebara vom 03.05.2012 – C-520/10, EU:C:2012:264[]
  2. BGBl I 2018, 2338, BStBl I 2018, 1377[]
  3. EuGH, Urteil Wellcome Trust vom 17.03.2021 – C-459/19, EU:C:2021:209, Rz 39 f.[]
  4. ABl.EU 2016, Nr. L 177, 9[]
  5. EU:C:2012:264, Leitsatz und Rz 26 ff., 42 f.[]
  6. vgl. BFH, Urteil vom 10.08.2016 – V R 4/16, BFHE 254, 458, BStBl II 2017, 135, Rz 15[]
  7. EU:C:2012:264[]
  8. vgl. dazu zur früheren Rechtslage BFH, Urteil vom 15.03.2022 – V R 35/20, zur amtlichen Veröffentlichung bestimmt, BFH/NV 2022, 1406, Rz 28[]
  9. vgl. EuGH, Urteil Serebryannay vek vom 26.09.2013 – C-283/12, EU:C:2013:599[]