Kann sich ein Notar auf § 23 Abs. 1 Nr. 1 UStG i.V.m. § 69 UStDV berufen, der vor dem Streitjahr nicht unternehmerisch tätig war und dessen Umsätze im Streitjahr die Umsatzgrenze gemäß § 69 Abs. 3 UStDV übersteigen?

Das Finanzgericht Baden-Württemberg lehnt dies ab:
Nach § 23 Abs. 1 Nr. 1 UStG in Verbindung mit § 69 Abs. 3 UStDV kann der Unternehmer, dessen Umsatz im Sinne von § 69 Abs. 2 UStDV im vorangegangenen Kalenderjahr 61.356,- € überstiegen hat, die Durchschnittssätze nicht in Anspruch nehmen. Der Kläger des hier vom Finanzgericht Baden-Württemberg entschiedenen Fall erzielte 134.069,- €, allerdings in 2006. In 2005 war er dagegen nicht als Unternehmer tätig.
Der Verordnungsgeber hat keine Regelung für Unternehmungsgründungen innerhalb des laufenden Kalenderjahrs getroffen. In diesen Fällen des Beginns einer selbständigen gewerblichen oder beruflichen Tätigkeit, in denen, wie im Streitfall, nicht auf den Umsatz im vorangegangenen Kalenderjahr zurückgegriffen werden kann, ist im ersten Kalenderjahr der unternehmerischen Betätigung der voraussichtliche Umsatz dieses Jahres maßgebend. Das hat der Bundesfinanzhof so bereits für die Anwendung der Kleinunternehmerregelung in § 19 UStG im Fall des Beginns einer selbständigen gewerblichen oder beruflichen Tätigkeit1 sowie für den Fall der Berechnung der abziehbaren Vorsteuerbeträge nach Durchschnittssätzen gemäß § 23a UStG entschieden2 und wird auch in der Literatur einhellig vertreten3. Auch die Finanzverwaltung ist dieser Auffassung4.
Diese Auslegung ist nach dem Sinn des § 23 UStG in Verbindung mit § 69 UStDV geboten. Die Vorschriften sollen – wie sich aus der Umsatzgrenze in § 69 Abs. 3 UStDV ergibt – nur für kleinere Unternehmen gelten. Mit diesem Sinn wäre es unvereinbar, wenn die Vorschrift im Fall der Aufnahme der unternehmerischen Tätigkeit im ersten Kalenderjahr unabhängig von der in § 69 Abs. 3 UStDV vorgesehenen Umsatzgrenze anwendbar wäre.
Die Beschränkung des § 23 UStG auf Kleinunternehmen folgt auch aus Art. 24 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern 77/388/EWG. Die Bestimmung sieht unter der Überschrift „Sonderregelung für Kleinunternehmen“ vor, dass Mitgliedstaaten, in denen die normale Besteuerung von „Kleinunternehmen“ wegen deren Tätigkeit oder Struktur auf Schwierigkeiten stoßen würde, unter den von ihnen festgelegten Beschränkungen und Voraussetzungen – vorbehaltlich der Konsultation nach Art. 29 der Richtlinie 77/388/EWG – vereinfachte Modalitäten für die Besteuerung und Steuererhebung, insbesondere Pauschalregelungen, anwenden können, die jedoch nicht zu einer Steuerermäßigung führen dürfen. Auf dieser Bestimmung beruht § 23 UStG5.
Finanzgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 21. Januar 2011 – 14 K 4140/10
- BFH, Urteil vom 19.02.1976 – V R 23/73, BStBl II 1976, 400[↩]
- BFH, Beschluss vom 27.06.2006 – V B 143/05, BStBl II 2006, 732[↩]
- vgl. Heidner in Bunjes/Geist, UStG, 9. Aufl. 2009, § 23 Rn. 7; Birkenfeld, Umsatzsteuer-Handbuch, § 228 Rn. 59; Hundt-Eßwein in Offerhaus/Söhn/Lange, Umsatzsteuer, § 23 Rn. 12; Stadie in Rau/Dürrwächter, UStG, § 23 Rn. 12; Püschner in Reiß/Kraeusel/Langer, UStG, § 23 Rn. 36; Stadie, UStG, § 23 Rn. 9; Radeisen in Vogel/Schwarz, UStG, § 23 Rn. 33; wohl auch Wagner in Sölch/Ringleb, Umsatzsteuer, § 23 Rn. 65[↩]
- Umsatzsteuer-Richtlinien 2005 Abschnitt 260 Abs. 3 Sätze 3 und 4[↩]
- vgl. BRDrucks. 145/78; BTDrucks. 8/1779, 48[↩]