Der Streit um den Vorsteuerabzug – und die verweigerte Akteneinsicht

Nach der mittlerweile ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäische Union1 ist der allgemeine unionsrechtliche Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte dahin auszulegen, dass es in Verwaltungsverfahren zur Überprüfung und Festlegung der Bemessungsgrundlage für die Mehrwertsteuer dem Einzelnen möglich sein muss, bereits im Verwaltungsverfahren auf Antrag Zugang zu den Informationen und Dokumenten zu erhalten, die in den Akten der Behörde enthalten sind und die von ihr für den Erlass ihrer Entscheidung berücksichtigt werden.

Der Streit um den Vorsteuerabzug – und die verweigerte Akteneinsicht

Eine Ausnahme gilt dann, wenn eine im nationalen Recht vorgesehene Beschränkung des Zugangs zu diesen Informationen und Dokumenten durch dem Gemeinwohl dienende Ziele (u.a. zum gebotenen Schutz der Vertraulichkeit oder des Geschäftsgeheimnisses, zum Schutz des Privatlebens Dritter, deren personenbezogener Daten oder der Wirksamkeit der Strafverfolgung) gerechtfertigt ist.

Beabsichtigt die Steuerverwaltung, ihre Entscheidung auf Beweise zu stützen, die sie im Rahmen von Strafverfahren und „konnexen“ Verwaltungsverfahren gegen die Lieferanten des Steuerpflichtigen erlangt hat, so muss diesem Zugang auch zu diesen Beweisen ermöglicht werden. Zugang muss außerdem zu denjenigen Dokumenten ermöglicht werden, die nicht unmittelbar dazu dienen, die Entscheidung der Steuerverwaltung zu stützen, aber für die Ausübung der Verteidigungsrechte zweckdienlich sein können, insbesondere entlastende Gesichtspunkte, die die Steuerverwaltung möglicherweise zusammengetragen hat. Ggf. muss die Steuerverwaltung prüfen, ob ein teilweiser Zugang möglich ist.

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Dagegen steht dem Leistungsempfänger kein uneingeschränktes Recht auf Akteneinsicht in sämtliche vollständigen (Steuer- und Straf-)Akten Dritter (etwa der Leistenden und der für sie handelnden Personen) zu, weil diese theoretisch entlastende Umstände enthalten könnten, was erfordern würde, dass das Finanzgericht die Akten zum Verfahren beiziehen würde. Auch das Unionsrecht sieht ein solches Recht (und damit eine weitreichende Einschränkung des Schutzes der Daten Dritter) gerade nicht vor, sondern nur in dem genannten Umfang2

Auch das Argument, es liege im Streitfall kein klassisches Umsatzsteuerkarussell vor, auf das die Rechtsprechung des EuGH abziele, und das Finanzgericht Berlin-Brandenburg vertrete die Auffassung, dass die Missbrauchs-Rechtsprechung des EuGH nur auf solche oder ähnliche besondere Konstellationen anwendbar sei, führt angesichts der Antwort des EuGH im Urteil Finanzamt Wilmersdorf3 nicht zum Erfolg.

Bundesfinanzhof, Beschluss vom 20. Oktober 2021 – XI R 19/20

  1. vgl. zum Nachfolgenden insgesamt EuGH, Urteile Ispas vom 09.11.2017 – C-298/16, EU:C:2017:843; Glencore Agriculture Hungary, EU:C:2019:861; C.F. (Contrôle fiscal) vom 04.06.2020 – C-430/19, EU:C:2020:429, Rz 29 ff.[]
  2. vgl. EuGH, Urteil Glencore Agriculture Hungary, EU:C:2019:861, Rz 43, 55, 56 und 57[]
  3. EuGH, Finanzamt Wilmersdorf vom 14.04.2021 – C-108/20,  EU:C:2021:266[]

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