Der Bundesfinanzhof hat dem Gerichtshof der Europäischen Union Fragen zur Differenzbesteuerung nach Art. 311 ff. MwStSystRL zur Vorabentscheidung vorgelegt:

- Ist unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens, in denen sich ein Steuerpflichtiger aufgrund des EuGH-Urteils Mensing1 darauf beruft, dass auch die Lieferung von Kunstgegenständen, die er zuvor im Rahmen einer steuerbefreiten innergemeinschaftlichen Lieferung vom Urheber (oder dessen Rechtsnachfolgern) erworben hat, unter die Differenzbesteuerung der Art. 311 ff. MwStSystRL fällt, nach Rz 49 dieses Urteils die Bemessungsgrundlage ausschließlich nach Unionsrecht zu bestimmen, so dass die Auslegung einer Vorschrift des nationalen Rechts (hier: § 25a Abs. 3 Satz 3 UStG), dass die auf den innergemeinschaftlichen Erwerb entfallende Steuer nicht zur Bemessungsgrundlage gehört, durch das letztinstanzliche nationale Gericht nicht zulässig ist?
- Falls die Frage 1 bejaht wird: Sind die Art. 311 ff. MwStSystRL dahingehend zu verstehen, dass bei Anwendung der Differenzbesteuerung auf Lieferungen von Kunstgegenständen, die zuvor vom Urheber (oder dessen Rechtsnachfolgern) innergemeinschaftlich erworben wurden, die auf den innergemeinschaftlichen Erwerb entfallende Steuer die Handelsspanne (Marge) mindert, oder liegt insoweit eine planwidrige Lücke des Unionsrechts vor, die nicht von der Rechtsprechung im Wege der Rechtsfortbildung, sondern nur vom Richtliniengeber geschlossen werden darf?
Der Ausgangssachverhalt
In dem derzeit beim Bundesfinanzhof anhängigen Verfahren ist streitig, ob bei Anwendung der Differenzbesteuerung auf Lieferungen von Kunstgegenständen, die vom klagenden Kunsthändler zuvor von den Künstlern innergemeinschaftlich erworben wurden, die Steuer für den innergemeinschaftlichen Erwerb die zu besteuernde Handelsspanne (Marge) mindert.
Der Kunsthändler betreibt Galerien in mehreren deutschen Städten. Im Laufe des Jahres 2014 (Streitjahr) bezog er auch Kunstgegenstände von Künstlern, die im übrigen Unionsgebiet ansässig waren. Diese Lieferungen wurden von den Künstlern in ihren Ansässigkeitsstaaten jeweils als steuerbefreite innergemeinschaftliche Lieferungen behandelt. Der Kunsthändler versteuerte die innergemeinschaftlichen Erwerbe gemäß § 12 Abs. 2 Nr. 13 Buchst. a UStG mit dem ermäßigten Steuersatz. Mit einem Einspruch gegen einen geänderten Umsatzsteuer-Vorauszahlungsbescheid für den Voranmeldungszeitraum Dezember 2014 machte der Kunsthändler geltend, dass § 25a Abs. 7 Nr. 1 Buchst. a UStG, wonach die Differenzbesteuerung keine Anwendung auf die Lieferung eines Gegenstands findet, den der Wiederverkäufer innergemeinschaftlich erworben hat, wenn auf die Lieferung des Gegenstands an den Wiederverkäufer die Steuerbefreiung für innergemeinschaftliche Lieferungen im übrigen Gemeinschaftsgebiet angewendet worden ist, unionsrechtswidrig sei. Das Finanzamt wies den Einspruch als unbegründet zurück. In seiner Umsatzsteuer-Jahreserklärung für das Streitjahr 2015 erfasste der Kunsthändler die streitbefangenen Umsätze unter Anwendung der Differenzbesteuerung. Es ergab sich ein Erstattungsbetrag zu seinen Gunsten.
Später revidierte das Finanzamt die Anwendung der Differenzbesteuerung. Im nachfolgenden Klageverfahren machte der Kunsthändler wiederum geltend, dass § 25a Abs. 7 Nr. 1 Buchst. a UStG nicht unionsrechtskonform sei. Er berief sich auf die unmittelbare Anwendung von Art. 316 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28.11.2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (MwStSystRL).
In dem sich anschließenden Klageverfahren hatte das Finanzgericht Münster2 dem Gerichtshof der Europäischen Union gemäß Art. 267 Abs. 2 AEUV folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Ist Art. 316 Abs. 1 Buchst. b MwStSystRL dahingehend auszulegen, dass steuerpflichtige Wiederverkäufer die Differenzbesteuerung auch auf die Lieferung von Kunstgegenständen anwenden können, die ihnen vom Urheber oder von dessen Rechtsnachfolger, bei denen es sich nicht um Personen i.S.v. Art. 314 MwStSystRL handelt, innergemeinschaftlich geliefert wurden?
Falls die Frage 1 bejaht wird: Erfordert es Art. 322 Buchst. b MwStSystRL, dem Wiederkäufer das Recht auf Vorsteuerabzug aus dem innergemeinschaftlichen Erwerb der Kunstgegenstände zu versagen, auch wenn es keine nationale Vorschrift gibt, die eine entsprechende Regelung enthält?
Der Unionsgerichtshof hat mit seinem Urteil „Mensing“1 über das Vorabentscheidungsersuchen entschieden und die Vorlagefragen wie folgt beantwortet:
316 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28.11.2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem ist dahin auszulegen, dass ein steuerpflichtiger Wiederverkäufer für die Anwendung der Differenzbesteuerung auf eine Lieferung von Kunstgegenständen optieren kann, die er zuvor im Rahmen einer steuerbefreiten innergemeinschaftlichen Lieferung vom Urheber oder dessen Rechtsnachfolgern erworben hat, obwohl diese nicht zu den in Art. 314 der Richtlinie aufgeführten Personengruppen gehören.
Ein steuerpflichtiger Wiederverkäufer kann nicht sowohl für die Anwendung der in Art. 316 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2006/112/EG vorgesehenen Differenzbesteuerung auf eine Lieferung von Kunstgegenständen, die er zuvor im Rahmen einer steuerbefreiten innergemeinschaftlichen Lieferung erworben hat, optieren als auch in Fällen, in denen ein Vorsteuerabzug nach Art. 322 Buchst. b der Richtlinie, der nicht in nationales Recht umgesetzt wurde, ausgeschlossen ist, Anspruch auf einen solchen Abzug erheben.
Das Finanzgericht Münster gab daraufhin der Klage statt3. Nach dem im Streitfall ergangenen EuGH-Urteil Mensing4 müsse die Differenzbesteuerung auf die streitbefangenen Umsätze angewandt werden und sei die die innergemeinschaftlichen Erwerbe betreffende Steuer margenmindernd als Bestandteil der Einkaufspreise zu berücksichtigen. Die Ermittlung der Bemessungsgrundlage folge dem Unionsrecht; den Regelungen des Art. 317 Satz 1 in Verbindung mit Art. 316, 315 und Art. 312 MwStSystRL sei zu entnehmen, dass zum Einkaufspreis bei der Margenbesteuerung auch die Umsatzsteuer gehöre.
Auf die Revision des Finanzamtes setzte der Bundesfinanzhof das Verfahren erneut gemäß § 121 Satz 1 i.V.m. § 74 FGO aus und legt dem Gerichtshof der Europäischen Union nunmehr die im Tenor genannten Fragen gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV zur Vorabentscheidung vor.
Zur ersten Frage
Der Bundesfinanzhof ist im Rahmen der Beurteilung nach nationalem Recht der Ansicht, dass eine Berücksichtigung der streitigen Umsatzsteuer bei der Ermittlung der Bemessungsgrundlage für die Differenzbesteuerung aufgrund einer unionsrechtskonformen Auslegung des § 25a Abs. 3 Satz 3 UStG möglich ist. Jedoch ist fraglich, ob eine unionsrechtskonforme Auslegung nationalen Rechts erfolgen kann, wenn sich die Differenzbesteuerung an sich nach Unionsrecht richtet.
Der nationale Gesetzgeber hat mit § 25a UStG eine Regelung getroffen, die nicht in jeglicher Hinsicht unionsrechtskonform ist. § 25a Abs. 7 Nr. 1 Buchst. a UStG regelt die Nichtanwendung der Differenzbesteuerung, wenn ein gelieferter Gegenstand aus einem anderen Mitgliedstaat, den der Wiederverkäufer im Inland innergemeinschaftlich erworben hat, wegen einer innergemeinschaftlichen Lieferung im übrigen Gemeinschaftsgebiet steuerbefreit war. Danach wäre im Streitfall die Differenzbesteuerung nicht anwendbar.
Der Grund für die Nichtanwendung der Differenzbesteuerung in diesen Fällen liegt darin, dass der Liefergegenstand durch die Steuerbefreiung auf der Vorstufe in vollem Umfang von Umsatzsteuer entlastet wurde. Soweit der innergemeinschaftliche Erwerb nach § 12 Abs. 2 Nr. 13 Buchst. a UStG steuerpflichtig ist, konnte der Steuerpflichtige diese Steuer als Vorsteuer gemäß § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 UStG abziehen5. Deshalb wurde der Veräußerungsvorgang der Regelbesteuerung unterworfen, um eine vollständige Belastung herzustellen6.
Die Nichtanwendung der Differenzbesteuerung auf innergemeinschaftliche Lieferungen an den inländischen Wiederverkäufer ist jedoch unionsrechtswidrig. Der EuGH hat im Streitfall entschieden, dass Art. 316 Abs. 1 Buchst. b MwStSystRL dahin auszulegen ist, dass ein steuerpflichtiger Wiederverkäufer für die Anwendung der Differenzbesteuerung auf eine Lieferung von Kunstgegenständen optieren kann, die er zuvor im Rahmen einer steuerbefreiten innergemeinschaftlichen Lieferung vom Urheber oder dessen Rechtsnachfolgern erworben hat7.
Damit hat der Kunsthändler -da der EuGH in der Rechtssache Mensing4 ebenso entschieden hat, dass ein Vorsteuerabzug ausgeschlossen ist- nach Auslegung nationalen Rechts auch einen Anspruch auf Berücksichtigung der Umsatzsteuer aus dem Erwerb der Kunstgegenstände gemäß § 25a Abs. 3 Satz 3 UStG. Eine Berücksichtigung nach § 25a Abs. 3 Satz 5 i.V.m. § 25a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 UStG kommt dagegen nicht in Betracht.
Der Einkaufspreis im Rahmen der Berechnung der Bemessungsgrundlage für die Differenzbesteuerung beinhaltet nach § 25a Abs. 3 Satz 5 UStG auch die „Umsatzsteuer des Lieferers“, wenn nach § 25a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 UStG Kunstgegenstände an den Wiederverkäufer geliefert werden, deren „Lieferung an ihn steuerpflichtig war“ und nicht von einem Wiederverkäufer ausgeführt wurde.
Nach dem eindeutigen Wortlaut kommt eine Berücksichtigung der streitigen Umsatzsteuer nicht in Betracht, da die Künstler aus einem anderen Mitgliedstaat nicht steuerpflichtig geliefert haben. Die Lieferungen waren nach Art. 138 MwStSystRL umsatzsteuerbefreit. Nur der Erwerb war dagegen steuerpflichtig8.
Eine Berücksichtigung der Umsatzsteuer für den innergemeinschaftlichen Erwerb beim Einkaufspreis im Rahmen der Ermittlung der Bemessungsgrundlage bei der Margenbesteuerung kann aber -da unionsrechtskonform die Differenzbesteuerung bei Wiederverkäufern im Inland nach innergemeinschaftlichem Erwerb in Betracht kommt- nach § 25a Abs. 3 Satz 3 UStG erfolgen. Denn nach dieser Regelung gehört die Umsatzsteuer nicht zur Bemessungsgrundlage. Für die Steuer, die auf den betreffenden innergemeinschaftlichen Erwerb entfällt, kann nichts Anderes gelten; auch sie muss insoweit unberücksichtigt bleiben. Dies allein entspricht dem Zweck der Margenbesteuerung, die eine Doppelbesteuerung („Steuer auf die Steuer“) vermeiden will9.
Für den Bundesfinanzhof ist jedoch zweifelhaft, ob eine solche Auslegung der nationalen Vorschrift auch dann möglich ist, wenn die Differenzbesteuerung -wie im Streitfall- allein auf das Unionsrecht gestützt wird. Der EuGH hat mit seinem im Streitfall ergangenen Urteil Mensing4 zum Ausdruck gebracht, dass der Kunsthändler sich unmittelbar auf die in Art. 316 Abs. 1 Buchst. b MwStSystRL vorgesehene Option berufen kann, die in der nationalen Regelung im Streitfall für innergemeinschaftliche Lieferungen von Kunstgegenständen nicht vorgesehen ist. Er hat ferner ausgeführt, dass der Kunsthändler „nur unter den in der Richtlinie vorgesehenen Voraussetzungen in den Genuss der Differenzbesteuerung nach diesem Artikel kommen kann“10. Daraus erwachsen Zweifel, ob es für das letztinstanzliche nationale Gericht zulässig ist, unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens, in denen sich ein Steuerpflichtiger aufgrund des EuGH, Urteils Mensing4 darauf beruft, dass auch die Lieferung von Kunstgegenständen, die er zuvor im Rahmen einer steuerbefreiten innergemeinschaftlichen Lieferung vom Urheber (oder dessen Rechtsnachfolgern) erworben hat, unter die Differenzbesteuerung der Art. 311 ff. MwStSystRL fällt, die nationale Vorschrift des § 25a Abs. 3 Satz 3 UStG dahingehend auszulegen, dass die auf den innergemeinschaftlichen Erwerb entfallende Steuer nicht zur Bemessungsgrundlage gehört.
Zur zweiten Frage
Falls die Frage 1 zu bejahen ist, ergibt sich für den Bundesfinanzhof die Notwendigkeit, dem EuGH die Frage 2 vorzulegen. Der EuGH hat nach Art. 267 Abs. 1 AEUV die Aufgabe, die Unionsverträge auszulegen. Hierzu gehört nach Ansicht des vorlegenden Bundesfinanzhofs auch die im Streitfall möglicherweise erforderliche Rechtsfortbildung des Unionsrechts durch den EuGH.
Die MwStSystRL enthält im Titel XII Kapitel 4 Bestimmungen, die im Einzelnen die Differenzbesteuerung regeln. Nach Art. 317 Satz 1 MwStSystRL wird die Steuerbemessungsgrundlage bei Ausübung der Option zur Differenzbesteuerung unter anderem (u.a.) bei Lieferung von „Kunstgegenstände(n), die (…) vom Urheber (…) geliefert wurden“ (Art. 316 Abs. 1 Buchst. b MwStSystRL) nach Art. 315 MwStSystRL ermittelt. Nach Art. 315 Satz 2 MwStSystRL entspricht die in Art. 315 Satz 1 MwStSystRL in Bezug genommene Differenz (Handelsspanne) des steuerpflichtigen Wiederverkäufers dem Unterschied zwischen dem von ihm geforderten Verkaufspreis und dem Einkaufspreis des Gegenstands. Nach Art. 312 Nr. 1 MwStSystRL umfasst der „Verkaufspreis“ die gesamte Gegenleistung, die der steuerpflichtige Wiederverkäufer vom Erwerber oder von einem Dritten erhält oder zu erhalten hat, einschließlich der unmittelbar mit dem Umsatz zusammenhängenden (u.a.) Steuern. Nach Art. 312 Nr. 2 MwStSystRL ist der „Einkaufspreis“ „die gesamte Gegenleistung gemäß der Begriffsbestimmung unter Nummer 1, die der Lieferer von dem steuerpflichtigen Wiederverkäufer erhält oder zu erhalten hat“.
Der Richtliniengeber hat mit der Erfassung von „Kunstgegenstände(n), die (…) vom Urheber (…) geliefert wurden“ (Art. 316 Abs. 1 Buchst. b MwStSystRL) auch innergemeinschaftliche Lieferungen erfasst11. Es fehlt jedoch eine dem Art. 317 Satz 2 MwStSystRL entsprechende Regelung, nach der bei Einfuhr von Kunstgegenständen durch den steuerpflichtigen Wiederverkäufer selbst die von ihm geschuldete Steuer einzubeziehen ist12.
Aus Sicht des vorlegenden Bundesfinanzhofs könnte sich die zutreffende Lösung unionsrechtlich aus Art. 315 MwStSystRL ergeben, auf den Art. 317 Satz 1 MwStSystRL insoweit verweist.
315 Satz 1 MwStSystRL sieht in seiner deutschen Sprachfassung vor, dass Steuerbemessungsgrundlage die Handelsspanne „abzüglich des Betrags der auf diese Spanne erhobenen Mehrwertsteuer“ ist. Die Handelsspanne ist danach ein Bruttobetrag einschließlich Mehrwertsteuer, der zur Ermittlung der Bemessungsgrundlage, die keine Mehrwertsteuer enthalten soll, um die Mehrwertsteuer zu bereinigen, das heißt in einen Nettobetrag (ohne Mehrwertsteuer) umzurechnen ist. Der Wortlaut lässt es aus Sicht des vorlegenden Bundesfinanzhofs in der hier zu entscheidenden Fallkonstellation zu, ihn dahingehend auszulegen, dass zu der „auf diese Spanne erhobenen Mehrwertsteuer“ auch die vom Kunsthändler entrichtete Umsatzsteuer auf den innergemeinschaftlichen Erwerb gehört. Die Vorentscheidung wäre daher vom vorlegenden Bundesfinanzhof zu bestätigen.
Die vom Bundesfinanzhof für möglich erachtete Auslegung des Art. 315 Satz 1 MwStSystRL entspricht außerdem bei systematischer Auslegung dem Grundgedanken des Art. 78 Buchst. a am Ende MwStSystRL, wonach die Mehrwertsteuer selbst nicht in die Steuerbemessungsgrundlage einzubeziehen ist. Aus Sicht des vorlegenden Bundesfinanzhofs gilt für die Sonderregelung nach Art. 315 Satz 1 MwStSystRL nichts Anderes.
Für diese Auslegung spricht auch der Grundsatz der Neutralität. Wie bei einer Einfuhr durch den steuerpflichtigen Wiederverkäufer selbst (Fall des Art. 317 Satz 2 MwStSystRL) entspricht es diesem Grundsatz, die auf den innergemeinschaftlichen Erwerb entfallende Steuer nicht in die Marge einzubeziehen, da ansonsten die Handelsspanne systemwidrig zu hoch wäre. Es käme zu einer Doppelbesteuerung im Sinne einer „Steuer auf die Erwerbsteuer“13. Der MwStSystRL wohnt der Grundsatz der steuerlichen Neutralität inne, der es insbesondere nicht zulässt, dass Wirtschaftsteilnehmer, die gleichartige Umsätze tätigen, bei der Erhebung der Mehrwertsteuer unterschiedlich behandelt werden14.
Überdies ist zu beachten, dass innergemeinschaftliche Lieferungen und innergemeinschaftliche Erwerbe ein und derselbe wirtschaftliche Vorgang sind, dessen Aufspaltung nur bezweckt, die Steuereinnahmen in den Mitgliedstaat zu verlagern, in dem der Endverbrauch der gelieferten Gegenstände erfolgt15. Auch aus diesem Grunde ist unionsrechtlich eine Gleichbehandlung erforderlich16.
Auch der EuGH geht nach Ansicht des Bundesfinanzhofs inzident davon aus, dass die Einbeziehung der Erwerbsbesteuerung zu erfolgen hat. Denn er hat in seinem im Streitfall ergangenen Urteil Mensing4 den Vorsteuerabzug des steuerpflichtigen Wiederverkäufers bei innergemeinschaftlichen Erwerben insbesondere damit abgelehnt, dass die bei der Kaufpreiszahlung entrichtete Mehrwertsteuer nicht in der Steuer auf den Verkauf enthalten ist. Dies wäre aber der Fall, wenn die Erwerbsbesteuerung nicht einbezogen würde. Es entspricht der Systematik der Differenzbesteuerung, wenn zum Einkaufspreis auch die Umsatzsteuer aus der Erwerbsbesteuerung hinzugerechnet wird17.
Mit dieser Auslegung des Art. 315 Satz 1 MwStSystRL würde der vorlegende Bundesfinanzhof jedoch von der Auffassung des Generalanwalts Szpunar in Rz 54 seiner Schlussanträge18 abweichen. Generalanwalt Szpunar hat angenommen, dass seines Erachtens diese Lücke nicht durch Auslegung geschlossen werden könne und die Regelungslücke vom Gesetzgeber geschlossen werden müsse. Der Bundesfinanzhof sieht sich aufgrund dieser eindeutigen Ausführungen des Generalanwalts daran gehindert anzunehmen, dass die richtige Anwendung des Unionsrechts derartig offenkundig ist, dass keinerlei Raum für einen vernünftigen Zweifel an der Entscheidung der gestellten Frage bleibt19. Er sieht sich daher dazu verpflichtet, nach Art. 267 Abs. 3 AEUV den EuGH um Vorabentscheidung zu ersuchen.
Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen
Der Bundesfinanzhof benötigt die Antwort auf die Frage 1, um auf Grundlage der nationalen Vorschrift (§ 25a Abs. 3 Satz 3 UStG) sachgerecht entscheiden zu können. Die Antwort auf die Frage 2 benötigt der Bundesfinanzhof, wenn der unionsrechtliche Vorrang der Regelungen der MwStSystRL feststeht und insoweit das Recht im Wege der teleologischen Extension auf unionsrechtlicher Ebene fortzubilden ist.
Bundesfinanzhof, Beschluss vom 20. Oktober 2021 – XI R 2/20
- EuGH, Urteil Mensing vom 29.11.2018 – C-264/17, EU:C:2018:968[↩][↩]
- FG Münster, Beschluss vom 11.05.2017 – 5 K 177/16 U, EFG 2017, 1222[↩]
- FG Münster, Urteil vom 07.11.2019 – 5 K 177/16 U, EFG 2020, 408[↩]
- EU:C:2018:968[↩][↩][↩][↩][↩]
- vgl. zum Beispiel Bunjes/Heidner, UStG, 20. Aufl., § 25a Rz 52; Lippross, Umsatzsteuer, 24. Aufl., Seite 1263 f.[↩]
- vgl. Bunjes/Heidner, am angegebenen Ort -a.a.O.-[↩]
- vgl. EuGH, Urteil Mensing, EU:C:2018:968, Leitsatz 1[↩]
- vgl. allgemein Stadie in Rau/Dürrwächter, Umsatzsteuergesetz, § 25a Rz 111[↩]
- vgl. EuGH, Schlussanträge des Generalanwalts Szpunar, EU:C:2018:722, Rz 53[↩]
- vgl. EuGH, Urteil Mensing, EU:C:2018:968, Rz 49[↩]
- vgl. Rauch in Offerhaus/Söhn/Lange, § 25a UStG Rz 44c[↩]
- vgl. Stadie in Rau/Dürrwächter, a.a.O., § 25a Rz 111[↩]
- vgl. EuGH, Schlussanträge des Generalanwalts Szpunar, EU:C:2018:722, Rz 53; Lippross, Umsatzsteuer-Rundschau 2015, 618, 620; Janzen in Lippross/Seibel, Basiskommentar Steuerrecht, § 25a UStG Rz 29; Oelmaier in Sölch/Ringleb, Umsatzsteuer, § 25a Rz 71; Poggoda-Grünwald, Zeitschrift für das gesamte Mehrwertsteuerrecht -MwStR- 2019, 235; Pickelmann, MwStR 2017, 719, 720; Grebe in Wäger, UStG, § 25a Rz 39[↩]
- vgl. z.B. EuGH, Urteile ATP PensionService vom 13.03.2014 – C-464/12, EU:C:2014:139, Rz 42 und 44, mit weiteren Nachweisen; Mensing, EU:C:2018:968, Rz 32[↩]
- vgl. EuGH, Urteil Teleos vom 27.09.2007 – C-409/04, EU:C:2007:548, BStBl II 2009, 70, Rz 23[↩]
- ebenso Pickelmann, MwStR 2017, 719, 720[↩]
- ebenso Oelmaier in Sölch/Ringleb, a.a.O.[↩]
- EU:C:2018:722[↩]
- vgl. dazu EuGH, Urteile CILFIT vom 06.10.1982 – 283/81, EU:C:1982:335, NJW 1983, 1257, Rz 21; Intermodal Transports vom 15.09.2005 – C-495/03, EU:C:2005:552, HFR 2005, 1236; Gaston Schul Douane-expediteur vom 06.12.2005 – C-461/03, EU:C:2005:742, HFR 2006, 416[↩]