Drittwirkung einer Steuerfestsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung – und die Haftung des Geschäftsführers

Hat ein Geschäftsführer einer GmbH namens der GmbH die Änderung eines ihr gegenüber unter dem Vorbehalt der Nachprüfung ergangenen Steuerbescheids beantragt, ist er im Verfahren wegen Haftung für gegenüber der GmbH festgesetzte Steuer nicht mit Einwendungen gegen die Richtigkeit der Steuerfestsetzung ausgeschlossen, solange der Vorbehalt wirksam ist.

Drittwirkung einer Steuerfestsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung – und die Haftung des Geschäftsführers

Nach § 69 i.V.m. §§ 34, 35 AO haften die Geschäftsführer einer GmbH, soweit Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis (§ 37 AO) infolge vorsätzlicher oder grob fahrlässiger Verletzung der ihnen auferlegten Pflichten nicht oder nicht rechtzeitig festgesetzt oder erfüllt werden.

Die Geschäftsführerin der GmbH war deren gesetzliche Vertreterin (vgl. § 35 Abs. 1 GmbHG) und hatte als solche gemäß § 34 Abs. 1 Satz 1 AO deren steuerliche Pflichten zu erfüllen, insbesondere rechtzeitig Steuererklärungen abzugeben (§ 149 AO, § 18 Abs. 3 UStG) und die fälligen Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis (§ 37 Abs. 1 AO, § 18 Abs. 4 Satz 2 UStG) zu erfüllen (§ 34 Abs. 1 Satz 2 AO).

Im vorliegenden Fall hat die Geschäftsführerin die Umsatzsteuer-Jahreserklärung der GmbH für 2002 nicht bis zum 31.05.2003 (vgl. § 149 Abs. 2 Satz 1 AO), sondern erst am 23.03.2005 abgegeben. Zudem hat die Geschäftsführerin für die GmbH die einen Monat nach Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung fällige Umsatzsteuer (vgl. § 18 Abs. 4 Satz 2 UStG) sowie die festgesetzten Zinsen nicht entrichtet, obwohl die Vollziehung der -nicht mit einem Rechtsbehelf angefochtenen- Bescheide nicht gehemmt, insbesondere die Erhebung der Abgabe und der Nebenleistung nicht aufgehalten war (vgl. § 361 Abs. 1 Satz 1 AO).

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Dass die Geschäftsführerin für die GmbH am 24.11.2005 die Änderung der Steuerfestsetzung nach § 164 Abs. 2 Satz 2 AO beantragte, führt zu keiner anderen Beurteilung; denn dieser Antrag vermag die bereits erfolgte Pflichtverletzung, nämlich die Umsatzsteuer-Jahreserklärung für 2002 verspätet abgegeben zu haben, nicht entfallen zu lassen. Außerdem hätte die Geschäftsführerin, selbst wenn sie -unzutreffend- angenommen haben sollte, der betreffende Umsatz sei als innergemeinschaftliche Lieferung steuerbefreit, bei pflichtgemäßem Verhalten gemäß § 34 Abs. 1 Satz 2 AO gleichwohl dafür sorgen müssen, dass die festgesetzten Steuern aus den Mitteln der GmbH entrichtet werden1. Denn durch ihren Antrag wurde die Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsakts nicht gehemmt.

Diese objektive Pflichtwidrigkeit indiziert den gegenüber der Geschäftsführerin zu erhebenden Schuldvorwurf2.

Wer kraft Gesetzes für eine Steuer haftet, kann durch Haftungsbescheid in Anspruch genommen werden (§ 191 Abs. 1 Satz 1 AO). Haften i.S. des § 191 AO bedeutet Einstehenmüssen für eine fremde Schuld, weshalb die Inanspruchnahme eines Haftungsschuldners durch Haftungsbescheid u.a. voraussetzt, dass die Steuerschuld, für die gehaftet wird, im Zeitpunkt des Erlasses des Haftungsbescheides materiell-rechtlich noch besteht3.

Allerdings war die Geschäftsführerin nicht gehindert, Einwendungen gegen die Steuerschuld der GmbH geltend zu machen.

Ist die Steuer dem Steuerpflichtigen gegenüber unanfechtbar festgesetzt, so hat dies nach § 166 AO neben einem Gesamtrechtsnachfolger auch gegen sich gelten zu lassen, wer in der Lage gewesen wäre, den gegen den Steuerpflichtigen erlassenen Bescheid als dessen Vertreter, Bevollmächtigter oder kraft eigenen Rechts anzufechten.

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Die Drittwirkung der Steuerfestsetzung nach Unanfechtbarkeit (formeller Bestandskraft) gemäß § 166 AO lässt bei einer Steuerfestsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung den Anspruch des Steuerpflichtigen und seines Vertreters auf Änderung der Steuerfestsetzung nach § 164 Abs. 2 Satz 2 AO unberührt; beide Vorschriften haben einen voneinander unabhängigen Regelungs- und Anwendungsbereich4. Dies hat das Finanzgericht nicht beachtet.

Auch wenn eine unter dem Vorbehalt der Nachprüfung ergangene (§ 164 AO) Steuerfestsetzung die Rechtsfolge des § 166 AO auslöst, wenn die Steuer dem Steuerpflichtigen gegenüber „unanfechtbar“ festgesetzt worden ist -also mit einem förmlichen Rechtsbehelf (Einspruch, Klage, Nichtzulassungsbeschwerde, Revision) nicht (mehr) anfechtbar ist- kann eine solche Steuerfestsetzung aufgehoben oder geändert werden, solange der Vorbehalt wirksam ist (§ 164 Abs. 2 Sätze 1 und 2 AO).

Ein in Haftung genommener Vertreter des Steuerpflichtigen kann auf eine Aufhebung/Änderung einer solchen Steuerfestsetzung hinwirken und trotz Unanfechtbarkeit der (noch wirksamen) Vorbehaltsfestsetzung uneingeschränkt Einwendungen gegen die Richtigkeit dieser Steuerfestsetzung und gegen die Höhe der gegen ihn festgesetzten Haftungsschuld geltend machen5.

Aus dem BFH-Urteil vom 24.08.20046 sowie aus den Beschlüssen vom 04.02.20037 und vom 25.07.20038 ergibt sich nichts anderes.

In den den Entscheidungen in BFH/NV 2003, 798 und in BFHE 207, 5, BStBl II 2005, 127 zugrunde liegenden Sachverhalten war die Vertretungsmacht des Dritten bereits vor Erlass des Steuerbescheides bzw. während des Laufs der Rechtsbehelfsfrist erloschen, so dass die Bindungswirkung des § 166 AO erst gar nicht hat eintreten können; für die Entscheidung in BFH/NV 2003, 1540 kam es auf die Frage der materiellen Bestandskraft nicht an.

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Danach ist die Geschäftsführerin nicht gehindert, Einwendungen gegen den Umsatzsteuerbescheid der GmbH für 2002 geltend zu machen, weil die Geschäftsführerin nach den Feststellungen des Finanzgericht noch in ihrer Eigenschaft als Geschäftsführerin der GmbH am 24.11.2005 die Änderung der Umsatzsteuerfestsetzung 2002 gemäß § 164 Abs. 2 Satz 2 AO beantragt hat. Über diesen Antrag wurde bislang nicht entschieden mit der Folge, dass die Festsetzungsfrist nicht abgelaufen ist und der Vorbehalt der Nachprüfung noch besteht (§ 164 Abs. 4 Satz 1, § 169, § 171 Abs. 3 AO).

Bundesfinanzhof, Urteil vom 22. April 2015 – XI R 43/11

  1. vgl. z.B. BFH, Urteil vom 24.04.2014 – IV R 25/11, BFHE 245, 499, BStBl II 2014, 819, Rz 38[]
  2. vgl. z.B. BFH, Urteil vom 11.11.2008 – VII R 19/08, BFHE 223, 303, BStBl II 2009, 342[]
  3. ständige Rechtsprechung, vgl. BFH, Urteile vom 12.10.1999 – VII R 98/98, BFHE 190, 25, BStBl II 2000, 486; vom 11.07.2001 – VII R 28/99, BFHE 195, 510, BStBl II 2002, 267, jeweils m.w.N.[]
  4. BFH, Beschluss vom 04.06.1996 – VII S 9/96, BFH/NV 1996, 915, unter 2.a[]
  5. BFH, Beschluss vom 28.03.2001 – VII B 213/00, BFH/NV 2001, 1217, unter II. 2.b und 3.; vgl. auch Buciek in Beermann/Gosch, AO § 166 Rz 18 f.; Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 166 AO Rz 6; Klein/Rüsken, AO, 12. Aufl., § 166 Rz 10; Koenig/Cöster, Abgabenordnung, 3. Aufl., § 166 Rz 9; Frotscher in Schwarz, AO, § 166 Rz 5; Kruse in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 166 AO Rz 3[]
  6. BFH, Urteil vom 24.08.2004 – VII R 50/03, BFHE 207, 5, BStBl II 2005, 127[]
  7. BFH, Beschluss vom 04.02.2003 – VI B 70/02, BFH/NV 2003, 798[]
  8. BFH, Beschluss vom 25.07.2003 – VII B 240/02, BFH/NV 2003, 1540[]
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