Erneute EuGH-Vorlage zur Organschaft

Der Bundesfinanzhof hat dem Gerichtshof der Europäischen Union erneut zwei Rechtsfragen zur Organschaft zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Erneute EuGH-Vorlage zur Organschaft
  1. Führt die Zusammenfassung mehrerer Personen zu einem Steuerpflichtigen nach Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG dazu, dass entgeltliche Leistungen zwischen diesen Personen nicht dem Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer nach Art. 2 Nr. 1 dieser Richtlinie unterliegen?
  2. Unterliegen entgeltliche Leistungen zwischen diesen Personen jedenfalls dann dem Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer, wenn der Leistungsempfänger nicht (oder nur teilweise) zum Vorsteuerabzug berechtigt ist, da ansonsten die Gefahr von Steuerverlusten besteht?

Dieses zweite Vorabentscheidungsersuchen in diesem beim Bundesfinanzhof anhängigen Rechtsstreit bezieht sich auf entgeltliche Leistungen zwischen den Personen, die i.S. von Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG eng miteinander verbunden sind und damit auf Umsätze zwischen Mitgliedern einer Mehrwertsteuergruppe (sogenannte Innenumsätze). Zu entscheiden ist, ob derartige Innenumsätze dem Anwendungsbereich der Steuer i.S. von Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 77/388/EWG unterliegen und sie daher steuerbar sind oder ob sie dem Anwendungsbereich nicht unterliegen und sie daher als nicht steuerbar anzusehen sind.

Durch das erste Vorabentscheidungsersuchen war zu klären, ob die nationale Regelung zur Organschaft überhaupt unionsrechtskonform ist und ob es zu einer Entnahmebesteuerung kommt. Dabei hatte der Bundesfinanzhof zugrunde gelegt, dass Innenumsätze nicht dem Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer unterliegen und daher nicht steuerbar sind. Dies entsprach seiner ständigen Rechtsprechung1, an der er bis zuletzt festgehalten hat2.

Auf dieser Grundlage war durch das erste Vorabentscheidungsersuchen zu klären, ob die nationale Regelung zur Organschaft überhaupt unionsrechtskonform ist und ob es zu einer Entnahmebesteuerung kommt. Nachdem der EuGH diese Fragen in seinem Urteil „Finanzamt T“3 geklärt hat und der Bundesfinanzhof im Hinblick auf dieses Urteil davon ausgeht, dass die nationale Regelung zur Organschaft dem Grunde nach unionsrechtskonform ist und es im Streitfall zu keiner Entnahmebesteuerung kommt, stellen sich aber aufgrund der Urteil des Unionsgerichtshofs „Norddeutsche Gesellschaft für Diakonie“4 und „Finanzamt T“3 nunmehr die jetzigen Vorlagefragen, mit denen für den Streitfall zu klären ist, ob Innenumsätze entgegen der ständigen Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs dem Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer unterliegen und damit steuerbar sind.

Danach bezieht sich das zweite Vorabentscheidungsersuchen auf andere Fragen als das erste Vorabentscheidungsersuchen5.

Zur ersten Vorlagefrage

Zweifel daran, ob die Zusammenfassung mehrerer Personen zu einem Steuerpflichtigen nach Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG dazu führt, dass entgeltliche Leistungen zwischen diesen Personen nicht dem Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer nach Art. 2 Nr. 1 dieser Richtlinie unterliegen, ergeben sich aus dem EuGH, Urteil Norddeutsche Gesellschaft für Diakonie6.

Ausgehend von der Feststellung, dass i.S. von Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 77/388/EWG „eine Leistung nur dann steuerbar [ist], wenn zwischen dem Leistenden und dem Leistungsempfänger ein Rechtsverhältnis besteht“7, ist zur „Klärung der Frage, ob ein solches Rechtsverhältnis zwischen einem Mitglied einer Mehrwertsteuergruppe und den anderen Mitgliedern dieser Gruppe einschließlich ihres Organträgers besteht, so dass die von diesem Mitglied erbrachten Leistungen der Mehrwertsteuer unterliegen, … zu untersuchen, ob dieses Mitglied einer selbständigen Wirtschaftstätigkeit nachgeht“8. Ist daher für den konkreten Streitfall zu bejahen, dass das Mitglied einer selbständigen Wirtschaftstätigkeit nachgeht9, ergibt sich aus Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG nicht, dass ein Mitglied, das nicht der Organträger ist, aufgrund seiner bloßen Zugehörigkeit zu der Gruppe keine selbständigen wirtschaftlichen Tätigkeiten ausübt10. Dem entspricht es, dass der EuGH für den Streitfall von einer gegen Entgelt erbrachten Leistung der U-GmbH ausgegangen ist11.

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Die vorstehende Betrachtung spricht zwar für die Steuerbarkeit der Leistungen, die ein Gruppenmitglied an ein anderes Gruppenmitglied erbringt, beantwortet aber die erste Vorlagefrage gleichwohl nicht eindeutig, was eine Entscheidung des EuGH hierzu erforderlich macht.

Zur zweiten Vorlagefrage

Die Zweifel, ob entgeltliche Leistungen zwischen den nach Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG verbundenen Personen jedenfalls dann dem Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer unterliegen, wenn der Leistungsempfänger nicht (oder nur teilweise) zum Vorsteuerabzug berechtigt ist, da ansonsten die Gefahr von Steuerverlusten besteht, ergeben sich daraus, dass der EuGH für die Bestimmung des Organträgers zum einzigen Steuerpflichtigen der in Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 dieser Richtlinie genannten Gruppe voraussetzt, dass diese Bestimmung nicht zur Gefahr von Steuerverlusten führt12. Dabei weist der EuGH darauf hin, dass sich die Erklärungspflicht des Organträgers auf die Leistungen erstreckt, die von allen Mitgliedern und an alle Mitglieder der Mehrwertsteuergruppe erbracht werden13. Dies kann sich auch auf die Leistungen beziehen, die von einem Mitglied an ein anderes Mitglied der Mehrwertsteuergruppe erbracht werden. Damit stellt sich die Frage, ob die bisher vom BFH angenommene Nichtsteuerbarkeit derartiger Innenumsätze zu einer Gefahr von Steuerverlusten führt, zu denen es nach dem EuGH, Urteil Finanzamt T3 nicht kommen darf.

Für die Frage, ob eine Gefahr von Steuerverlusten gegeben ist, können zwei Steueransprüche miteinander zu vergleichen sein, die sich auf die Rechtslage ohne und mit Organschaft entsprechend Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG beziehen. Dabei kann es zur Gefahr von Steuerverlusten führen, wenn das Gruppenmitglied, das Empfänger des Innenumsatzes ist, nicht zum (vollen) Vorsteuerabzug berechtigt ist.

Denn in dem ersten Fall der Vergleichsbetrachtung (keine Organschaft/keine Nichtsteuerbarkeit von Innenumsätzen) entsteht ein Steueranspruch, der zu keinem Vorsteuerabzug führt. Demgegenüber unterbleibt im zweiten Fall der Vergleichsbetrachtung (Organschaft mit Nichtsteuerbarkeit der Innenumsätze) von vornherein die Entstehung eines Steueranspruchs.

Die Gefahr von Steuerverlusten wird auch nicht durch die Haftung der Organgesellschaft nach § 73 AO für die Steuern des Organträgers gebannt. Sind Innenumsätze nicht steuerbar, scheidet eine Haftung bereits mangels Steuerentstehung aus.

Keine Klärung durch die bisherige Rechtsprechung

Die Vorlagefragen sind nicht als geklärt anzusehen.

Mehrere Generalanwälte haben in ihren Schlussanträgen unterschiedliche Auffassungen zu der Frage vertreten, ob Innenumsätze zwischen den Gruppenmitgliedern dem Anwendungsbereich der Steuer unterliegen und damit steuerbar sind.

So sollen einerseits entgeltliche Umsätze, die zwischen den einzelnen Mitgliedern einer Mehrwertsteuergruppe bewirkt werden, als Insichgeschäfte der Gruppe gelten und demzufolge mehrwertsteuerrechtlich nicht existent sein14. Sie böten keinen Anlass für die Erhebung oder Verrechnung von Mehrwertsteuer15.

Andererseits sollen die Innenumsätze zwischen den Gruppenmitgliedern dem Anwendungsbereich der Steuer unterliegen und damit steuerbar sein16.

Aus der bisherigen Rechtsprechung des EuGH ergibt sich keine eindeutige Antwort zur Steuerbarkeit von Innenumsätzen. Der EuGH hat zwar bisher unter Hinweis auf die Erwägungen der Kommission entschieden, dass der Unionsgesetzgeber durch den Erlass von Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG den Mitgliedstaaten ermöglichen wollte, aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung oder zur Verhinderung bestimmter Missbräuche die Eigenschaft des Steuerpflichtigen nicht systematisch an das Merkmal der rein rechtlichen Selbständigkeit zu knüpfen17. Allerdings war er mit der Frage, ob Umsätze zwischen den Gruppenmitgliedern dem Anwendungsbereich der Steuer unterliegen, noch nicht in entscheidungserheblicher Weise befasst18.

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Beurteilung durch den Bundesfinanzhof

Bei der Auslegung einer unionsrechtlichen Vorschrift sind nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Kontext und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden. Ferner folgt aus den Anforderungen sowohl der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts als auch des Gleichheitsgrundsatzes, dass die Begriffe einer unionsrechtlichen Bestimmung, die für die Ermittlung ihres Sinnes und ihrer Bedeutung nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweisen, in der Regel in der gesamten Europäischen Union eine autonome und einheitliche Auslegung erhalten müssen19. Auf dieser Grundlage spricht einiges dafür, dass Innenumsätze -anders als bisher vom Bundesfinanzhof angenommen- dem Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer unterliegen und damit steuerbar sind.

Nach dem Wortlaut von Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 77/388/EWG ist für die Steuerbarkeit des Umsatzes nicht danach zu unterscheiden, ob das Mitglied einer Gruppe i.S. von Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG eine entgeltliche Leistung an einen Dritten, der nicht der Gruppe angehört (Außenumsätze), oder an ein anderes Gruppenmitglied (Innenumsätze) erbringt. Dies spricht für eine Steuerbarkeit der Innenumsätze.

Die in Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG angeordnete Rechtsfolge der Zusammenfassung zu einem Steuerpflichtigen lässt demgegenüber gleichermaßen die Annahme einer Steuerbarkeit wie auch die einer Nichtsteuerbarkeit zu.

Entstehungsgeschichte – Frühere Regelungen des Unionsrechts

Der Wortlaut des Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG beruht auf Anhang A Nr. 2 zu Art. 4 der Zweiten Richtlinie 67/228/EWG des Rates vom 11.04.1967 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Struktur und Anwendungsmodalitäten des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems. Dieser gestattete es den Mitgliedstaaten, „Personen, die zwar rechtlich unabhängig, aber durch finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen untereinander verbunden sind, nicht getrennt als mehrere Steuerpflichtige, sondern zusammen als einen Steuerpflichtigen zu behandeln“. Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG führte dies auf der Grundlage eines redaktionell geänderten Wortlauts fort20 und stellte es den Mitgliedstaaten frei, die durch die vorstehenden Beziehungen verbundenen Personen „zusammen als einen Steuerpflichtigen zu behandeln“.

4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG ermöglichte damit den Mitgliedstaaten, Regelungen wie die des § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG, der schon vor der Harmonisierung im nationalen Recht bestand, weiter beizubehalten. So ging die nationale Rechtsprechung auf dieser Grundlage -weiterhin- davon aus, dass Innenumsätze nicht steuerbar waren21.

Allerdings war der ursprüngliche Zweck der nationalen Organschaftsregelung bereits durch die Einführung des neuen Systems mit Vorsteuerabzug im nationalen Recht seit 1968 entfallen und könnte damit auch im Hinblick auf den Wortlaut der Vorschrift die Nichtsteuerbarkeit der Innenumsätze nicht mehr rechtfertigen.

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Die Annahme der Nichtsteuerbarkeit der Innenumsätze beruhte auf der Bedeutung, die der Organschaft nach § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG vor der Einführung des Vorsteuerabzugs durch die Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern zukam. Damals war Kernstück der im nationalen Recht geregelten Organschaft die Nichtsteuerbarkeit der Innenumsätze zwischen dem Organträger und den Organgesellschaften und zwischen den Organgesellschaften, um eine Steuerkumulation zu vermeiden22. Ohne Organschaft führte das bis 31.12.1967 geltende nationale Umsatzsteuergesetz zu einer solchen Steuerkumulation, da grundsätzlich jeder Umsatz in jeder Wirtschaftsstufe von der Steuer erfasst wurde, ohne dass ein Recht auf Vorsteuerabzug gegeben war (Allphasen-Bruttobesteuerung ohne Recht auf Vorsteuerabzug).

Kontext

Nach dem Kontext der Art. 2 Nr. 1 und Art. 4 Abs. 1 und Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG erbringen Mitglieder ihre Innenumsätze im Rahmen einer selbständigen wirtschaftlichen Tätigkeit, so dass die Steuerbarkeit zu bejahen ist. Zudem ist Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG in Verbindung mit -i.V.m.- deren Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 dahin auszulegen, dass er es einem Mitgliedstaat nicht gestattet, Einheiten im Wege der Typisierung als nicht selbständig anzusehen, wenn sie finanziell, wirtschaftlich und organisatorisch in den Organträger einer Mehrwertsteuergruppe eingegliedert sind23.

Regelungsziele

Eine Nichtsteuerbarkeit der Innenumsätze dürften die mit Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG verfolgten Ziele nicht erfordern. Diese Ziele sieht der EuGH darin, „die Eigenschaft des Steuerpflichtigen nicht systematisch an das Merkmal der ‚rein rechtlichen Selbständigkeit‘ zu knüpfen, und zwar aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung oder zur Verhinderung bestimmter Missbräuche, wie z.B. der Aufspaltung eines Unternehmens zwischen mehreren Steuerpflichtigen, um in den Genuss einer Sonderregelung zu gelangen“24.

Verfahrensrechtliche Vereinfachung

Bei der Verwaltung, die durch Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG vereinfacht werden soll, geht es aus der Sicht des Bundesfinanzhofs um die Verwaltung des sich nach der Richtlinie ergebenden Steueranspruchs. Verwaltungsvereinfachung zielt daher in erster Linie auf das Besteuerungsverfahren ab. Dieses vereinfacht sich dadurch, dass aufgrund der Gruppenbildung nicht mehr mehrere Steuererklärungen abzugeben sind, da diese zu einer Steuererklärung zusammengefasst werden. Eine in diesem Sinne verfahrensrechtliche Verwaltungsvereinfachung hat keinen Einfluss auf den sich nach dem materiellen Recht ergebenden Steueranspruch. Sie führt daher dazu, dass Innenumsätze zwischen den nach Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG miteinander verbundenen Personen weiterhin dem Anwendungsbereich der Steuer unterliegen. Sie sind dann, wie die Generalanwältin Medina in ihren Schlussanträgen in den Rechtssachen Finanzamt T25 und Norddeutsche Gesellschaft für Diakonie26 ausführlich dargelegt hat, erklärungspflichtig und führen zu einer Steuerschuld, falls für die Leistung keine Steuerbefreiung besteht.

Materiell-rechtliche Vereinfachung?

Verwaltungsvereinfachung kann sich aber auch auf das materielle Recht beziehen, indem Innenumsätze zwischen den Gruppenmitgliedern als nicht mehr dem Anwendungsbereich der Steuer unterliegend angesehen werden und auf dieser Grundlage die Erklärungspflicht entfällt. Dies kann dann als nachvollziehbar erscheinen, wenn das den Innenumsatz empfangende Gruppenmitglied zum Vorsteuerabzug berechtigt ist und sich Steuerschuld und Vorsteuerabzugsrecht im Ergebnis saldieren.

Demgegenüber führt eine allgemeine Nichtsteuerbarkeit von Innenumsätzen, die auch dann eingreift, wenn das den Innenumsatz empfangende Gruppenmitglied nicht zum Vorsteuerabzug berechtigt ist, zu den bereits beschriebenen Steuerverlusten und im Ergebnis nicht zu einer Verwaltungsvereinfachung, sondern zu einer Nichtbesteuerung.

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Damit stellt sich die vom EuGH zu beantwortende Frage, ob eine Verwaltungsvereinfachung zu Steuerverlusten führen darf. Derartigen Steuerverlusten kann durchaus erhebliches Gewicht zukommen, da die Organschaft im Hinblick auf die Nichtsteuerbarkeit von Innenumsätzen gerade für Steuerpflichtige, denen aufgrund einer Steuerfreiheit nach Art. 13 der Richtlinie 77/388/EWG kein Recht auf Vorsteuerabzug zusteht (Krankenhäuser, Pflegeeinrichtungen, Versicherungsgesellschaften oder Banken), als Gestaltungsmittel angesehen wird, um das Entstehen einer nichtabziehbaren Vorsteuer zu vermeiden27.

Dabei ist auch fraglich, ob für die Nichtsteuerbarkeit von Innenumsätzen danach zu unterscheiden ist, ob für den Empfänger des Innenumsatzes das Recht auf Vorsteuerabzug besteht. Eine derartige Differenzierung könnte dem Ziel der Verwaltungsvereinfachung widersprechen. Denn zur Verwaltungsvereinfachung müsste dann geprüft werden, ob aufgrund eines dem Empfänger zustehenden Rechts auf Vorsteuerabzug von einer Nichtsteuerbarkeit des Innenumsatzes auszugehen ist. Es stellt sich jedenfalls aus der Sicht des Bundesfinanzhofs nicht als Vereinfachung dar, zur Bestimmung der Nichtsteuerbarkeit eines Innenumsatzes über die vielfältigen und häufig nur schwierig zu beantwortenden Fragen zum Abzugsrecht nach Art. 17 der Richtlinie 77/388/EWG entscheiden zu müssen. Der Bundesfinanzhof verweist hierzu, ohne einzelne Entscheidungen herauszugreifen, auf die umfangreiche Rechtsprechung des EuGH zu dieser Bestimmung.

Schließlich kann eine Nichtsteuerbarkeit von Innenumsätzen aufgrund der bloßen Ermächtigung in Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG zu einer unterschiedlichen Anwendung des Unionsrechts in den Mitgliedstaaten führen, da nur einzelne Mitgliedstaaten diese Ermächtigung ausgeübt haben. Dies kann in einzelnen Branchen, wie z.B. dem Bank- oder Finanzbereich, zu steuerrechtlich verursachten Wettbewerbsverzerrungen führen.

Verhinderung einer künstlichen Aufspaltung

Das Ziel der Verhinderung bestimmter Missbräuche, wie z.B. der Aufspaltung eines Unternehmens zwischen mehreren Steuerpflichtigen, um in den Genuss einer Sonderregelung zu gelangen, rechtfertigt keine Nichtsteuerbarkeit von Innenumsätzen. Sieht man in der Aufspaltung eines Unternehmens, um z.B. die Sonderregelung für Kleinunternehmen nach Art. 24 der Richtlinie 77/388/EWG mehrfach in Anspruch zu nehmen, einen Missbrauch, wird damit einer Nichtbesteuerung von Umsätzen entgegengewirkt. Damit kommt es gerade zu einer Besteuerung von Umsätzen. Derartige Überlegungen können demgemäß eine Nichtbesteuerung von Innenumsätzen nicht begründen.

Im Gegenteil könnte der allgemeine Missbrauchsbegriff28 sogar dafür angeführt werden, dass eine Steuerbarkeit von Innenumsätzen jedenfalls dann vorliegt, wenn entgeltliche Leistungen an nicht zum Vorsteuerabzug berechtigte Gruppenmitglieder ausgeführt werden sollen. Es geht dann um die Erlangung eines „Steuervorteils“ in dem Sinne, dass die Entstehung einer nicht zum Vorsteuerabzug berechtigenden Steuer vermieden wird. Ein derartiger „Steuervorteil“ läuft Art. 17 Abs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG zuwider, da diese Regelung den Vorsteuerabzug an besteuerte Ausgangsumsätze knüpft, woran es bei der Anwendung von Art. 13 der Richtlinie 77/388/EWG jedoch gerade fehlt.

Entscheidungserheblichkeit

Sind Innenumsätze steuerbar, ist das nationale Recht entgegen der Auffassung der Klägerin richtlinienkonform auslegbar. Da die Nichtsteuerbarkeit der Innenumsätze nach nationalem Recht aus dem bisherigen Verständnis des Begriffs „nicht selbständig“ folgte, der für beide Nummern des § 2 Abs. 2 UStG übereinstimmend ausgelegt wurde, wäre der Begriff in § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG normspezifisch und damit eigenständig gegenüber § 2 Abs. 2 Nr. 1 UStG im Sinne des Unionsrechts auszulegen. Die Unselbständigkeit i.S. von § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG würde dann dazu führen, dass der Organträger alle Umsätze der Organgesellschaften zu erklären und zu versteuern hat, wobei sich dies entsprechend der Sichtweise der Generalanwältin Medina in den Rechtssachen Finanzamt T29 und Norddeutsche Gesellschaft für Diakonie30 auch auf die Innenumsätze erstrecken würde.

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Dem stehen § 2 Abs. 2 Nr. 2 Sätze 2 und 3 UStG nicht entgegen. Zwar sind danach die Wirkungen der Organschaft auf Innenleistungen zwischen den im Inland gelegenen Unternehmensteilen beschränkt und sind diese Unternehmensteile als ein Unternehmen zu behandeln. Diese Regelungen dienen jedoch nur dazu, den Anwendungsbereich der Organschaft auf das Inland zu beschränken31. Sie führen nicht dazu, die Nichtsteuerbarkeit von Innenumsätzen eigenständig zu begründen, was sich schon daraus ergibt, dass von der Nichtsteuerbarkeit bereits vor der Schaffung dieser Regelungen ausgegangen wurde.

Sind Innenumsätze steuerbar, hätte die Revision des Finanzamtes Erfolg. Zwar hätte die Klägerin aufgrund der durch das EuGH, Urteil Finanzamt T3 gewonnenen Erkenntnisse keine Entnahmebesteuerung vorzunehmen.

Der Bundesfinanzhof ist aber nach dem Grundsatz der sogenannten Vollrevision32 nach nationalem Recht verpflichtet, die Entscheidung der Vorinstanz materiell-rechtlich in vollem Umfang und damit ohne Einschränkung auf die von den Beteiligten vorgebrachten Streitpunkte zu überprüfen. Daher ist aufgrund der nunmehr entstandenen Zweifel auch zu prüfen, ob Innenumsätze steuerbar oder nichtsteuerbar sind.

Die Frage ist im Streitfall entscheidungserheblich. Denn die U-GmbH ist im Streitfall einer selbständigen Wirtschaftstätigkeit nachgegangen33, so dass die Voraussetzungen für eine Steuerbarkeit vorliegen. Ist diese Steuerbarkeit auch unter Berücksichtigung von Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG zu bejahen, was durch die beiden Vorlagefragen geklärt werden soll, hätte die Klägerin, die von der U-GmbH an sie gegen Entgelt erbrachten Leistungen als einzige Steuerpflichtige der Gruppe zu versteuern, ohne dass ihr ein Recht auf Vorsteuerabzug aus diesem Leistungsbezug zusteht. Die Klage wäre daher abzuweisen. Im Hinblick auf das sogenannte Verböserungsverbot hat sie dabei allerdings die Leistungen der U-GmbH nur im Umfang des streitigen Steuerbetrags zu versteuern, wie er sich aus der vom Finanzamt ursprünglich angenommenen Entnahmebesteuerung ergibt. Eine weitergehende Besteuerung zu Lasten der Klägerin kommt im gerichtlichen Verfahren danach nicht in Betracht.

Sind Innenumsätze demgegenüber entsprechend der bisherigen Beurteilung im nationalen Recht nicht steuerbar, hätte das Finanzgericht der Klage zu Recht stattgegeben. Die Revision des Finanzamtes wäre als unbegründet zurückzuweisen.

Bundesfinanzhof, Beschluss vom vom 26. Januar 2023 – V R 20/22

  1. vgl. z.B. BFH, Urteil vom 17.07.1952 – V 17/52 S, BFHE 56, 604, BStBl III 1952, 234[]
  2. vgl. z.B. BFH, Urteil vom 15.12.2016 – V R 14/16, BFHE 256, 562, BStBl II 2017, 600, Rz 17[]
  3. EU:C:2022:944[][][][]
  4. EuGH, Urteil vom 01.12.2022 – C-141/20, EU:C:2022:943[]
  5. vgl. zu den Voraussetzungen eines erneuten Vorabentscheidungsersuchens in derselben Rechtssache EuGH, Urteil Consorzio Italian Management e Catania Multiservizi vom 06.10.2021 – C-561/19, EU:C:2021:799, Antwort, Rz 33, 38 und 41[]
  6. EU:C:2022:943[]
  7. EuGH, Urteil Norddeutsche Gesellschaft für Diakonie, EU:C:2022:943, Rz 77[]
  8. EuGH, Urteil Norddeutsche Gesellschaft für Diakonie, EU:C:2022:943, Rz 78[]
  9. EuGH, Urteil Norddeutsche Gesellschaft für Diakonie, EU:C:2022:943, Rz 79[]
  10. EuGH, Urteil Norddeutsche Gesellschaft für Diakonie, EU:C:2022:943, Rz 80[]
  11. EuGH, Urteil Finanzamt T, EU:C:2022:944, Rz 60 f.[]
  12. EuGH, Urteil Finanzamt T, EU:C:2022:944, erste Antwort[]
  13. EuGH, Urteil Finanzamt T, EU:C:2022:944, Rz 51[]
  14. EuGH, Schlussanträge des Generalanwalts Jääskinen in den Rechtssachen Kommission/Irland vom 27.11.2012 – C-85/11, EU:C:2012:753, Rz 42, und Kommission/Schweden vom 27.11.2012 – C-480/10, EU:C:2012:751, Rz 40; Schlussanträge des Generalanwalts Mengozzi in den Rechtssachen Larentia + Minerva und Marenave Schiffahrt vom 26.03.2015 – C-108/14 und – C-109/14, EU:C:2015:212, Rz 49[]
  15. EuGH, Schlussanträge des Generalanwalts van Gerven in der Rechtssache Polysar Investments Netherlands vom 24.04.1991 – C-60/90, EU:C:1991:171, Rz 9[]
  16. EuGH, Schlussanträge der Generalanwältin Medina in der Rechtssache Finanzamt T vom 27.01.2022 – C-269/20, EU:C:2022:60, Rz 36 f., und in der Rechtssache Norddeutsche Gesellschaft für Diakonie vom 13.01.2022 – C-141/20, EU:C:2022:11, Rz 64 und 73 mit Berechnungsbeispiel[]
  17. EuGH, Urteile Kommission/Schweden vom 25.04.2013 – C-480/10, EU:C:2013:263, Rz 37, und Larentia + Minerva und Marenave Schiffahrt vom 16.07.2015 – C-108/14 und – C-109/14, EU:C:2015:496, Rz 40[]
  18. vgl. EuGH, Urteile Ampliscientifica und Amplifin vom 22.05.2008 – C-162/07, EU:C:2008:301; Kommission/Irland vom 09.04.2013 – C-85/11, EU:C:2013:217; Kommission/Schweden, EU:C:2013:263; Skandia America (USA), filial Sverige; vom 17.09.2014 – C-7/13, EU:C:2014:2225; Larentia + Minerva und Marenave Schiffahrt, EU:C:2015:496; Kaplan International Colleges UK vom 18.11.2020 – C-77/19, EU:C:2020:934; Danske Bank vom 11.03.2021 – C-812/19, EU:C:2021:196; Finanzamt für Körperschaften Berlin vom 15.04.2021 – C-868/19, EU:C:2021:285[]
  19. EuGH, Urteil Finanzamt T, EU:C:2022:944, Rz 35 f.[]
  20. EuGH, Urteil Kommission/Irland, EU:C:2013:217, Rz 39[]
  21. z.B. BFH, Urteile vom 18.12.1996 – XI R 25/94, BFHE 182, 392, BStBl II 1997, 441, unter II. 1.; vom 03.04.2003 – V R 63/01, BFHE 202, 79, BStBl II 2004, 434, unter II. 1.; in BFHE 256, 562, BStBl II 2017, 600, Rz 17; und vom 18.09.2019 – XI R 39/17, Sammlung amtlich nicht veröffentlichter Entscheidungen des Bundesfinanzhofs -BFH/NV- 2020, 246, Rz 26[]
  22. vgl. BFH, Urteil in BFHE 56, 604, BStBl III 1952, 234[]
  23. EuGH, Urteil Norddeutsche Gesellschaft für Diakonie, EU:C:2022:943, Rz 81[]
  24. EuGH, Urteil Finanzamt T, EU:C:2022:944, Rz 43[]
  25. EU:C:2022:60[]
  26. EU:C:2022:11[]
  27. Grune/Mönckedieck, Umsatzsteuer-Rundschau 2012, 541; Heintzen, Deutsches Steuerrecht 1999, 1799[]
  28. vgl. z.B. EuGH, Urteile Halifax und andere -u.a.- vom 21.02.2006 – C-255/02, EU:C:2006:121, Rz 74 ff.; Cussens u.a. vom 22.11.2017 – C-251/16, EU:C:2017:881, Rz 53 und 70; siehe auch EuGH, Urteil T Danmark und Y Denmark vom 26.02.2019 – C-116/16 und – C-117/16, EU:C:2019:135, Rz 97[]
  29. EU:C:2022:60, Rz 36 f.[]
  30. EU:C:2022:11, Rz 64 und 73[]
  31. BT-Drs. 10/4513, Seite 29[]
  32. vgl. z.B. BFH, Urteil vom 12.05.2022 – V R 19/20, BFHE 277, 496, BFH/NV 2023, 101, Rz 11[]
  33. vgl. auch EuGH, Urteil Norddeutsche Gesellschaft für Diakonie, EU:C:2022:943, Rz 79[]
Weiterlesen:
Gewerbesteuerliche Mehrmütterorganschaft

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