Missbrauch mit der Umsatzsteuer – und das europäische Unionsrecht

Das unionsrechtliche Verbot missbräuchlicher Praktiken im Mehrwertsteuerbereich ist unabhängig von einer nationalen Maßnahme zu seiner Durchsetzung in den Mitgliedstaaten anwendbar. Es handelt sich um einen allgemeinen Grundsatz des europäischen Unionsrechts, der keine nationale Umsetzungsmaßnahme erfordert.

Missbrauch mit der Umsatzsteuer – und das europäische Unionsrecht

Dies entschied jetzt der Gerichtshof der Europäischen Union in einem Fall aus Irland: Herr Cussens, Herr Jennings und Herr Kingston waren Miteigentümer eines Projektstandorts in Irland, auf dem sie 15 Ferienwohnungen errichteten, die verkauft werden sollten.

Vor dem Verkauf tätigten sie 2002 mehrere Geschäfte mit einer mit ihnen verbundenen Gesellschaft, der Shamrock Estates. Am 8. März 2002 schlossen sie mit dieser Gesellschaft zwei Mietverträge, und zwar einen Mietvertrag, mit dem sie ihr diese Immobilien für einen Zeitraum von 20 Jahren und einem Monat ab diesem Zeitpunkt vermieteten („langfristiger Mietvertrag“), und einen Mietvertrag, mit dem Shamrock Estates diese Immobilien an die Miteigentümer für zwei Jahre zurückvermietete. Am 3. April 2002 wurden die beiden Mietverträge durch gegenseitigen Verzicht der jeweiligen Mieter beendet, so dass die Miteigentümer das volle Eigentum an den Immobilien wiedererlangten. Im Mai 2002 verkauften die Miteigentümer alle Immobilien an Dritte, die daran das volle Eigentum erwarben. Gemäß den irischen Mehrwertsteuervorschriften fiel auf diese Verkäufe keine Mehrwertsteuer an, da die Immobilien zuvor Gegenstand einer der Mehrwertsteuer unterliegenden ersten Lieferung im Rahmen des langfristigen Mietvertrags gewesen waren. Nur dieser unterlag der Mehrwertsteuer.

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Mit Steuerbescheiden vom 27. August 2004 verlangte die irische Steuerverwaltung von den Miteigentümern die Zahlung zusätzlicher Mehrwertsteuer für die im Mai 2002 getätigten Immobilienverkäufe. Sie war nämlich der Auffassung, dass die langfristigen Mietverträge eine erste Lieferung darstellten, die künstlich konstruiert worden sei, um die Mehrwertsteuerpflichtigkeit der späteren Verkäufe zu verhindern. Diese Lieferung sei daher für die Berechnung der Mehrwertsteuer nicht zu berücksichtigen.

Die Miteigentümer erhoben gegen diese Entscheidung Klage. Der High Court (Hoher Gerichtshof, Irland) entschied, dass die Mietverträge, da sie keinen wirtschaftlichen Gehalt hätten, eine missbräuchliche Praxis im Sinne der sich aus dem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union in der Rechtssache Halifax1 ergebenden Rechtsprechung darstellten. Der Grundsatz des Verbots missbräuchlicher Praktiken, wie er sich aus dieser Rechtsprechung ergebe, verlange, missbräuchliche Maßnahmen entsprechend der Realität umzuqualifizieren, auch wenn es keine nationalen Rechtsvorschriften gebe, die diesen Grundsatz umsetzten.

Der mit dem hiergegen eingelegten Rechtsmittel befasste Supreme Court (Oberster Gerichtshof, Irland) legte den Gerichtshof der Europäischen Union die Rechtsfrage zur Vorabentschiedung vor, ob dieser Grundsatz unabhängig von einer nationalen Maßnahme zu seiner Durchsetzung in der innerstaatlichen Rechtsordnung unmittelbar angewandt werden kann, um Immobilienverkäufen die Befreiung von der Mehrwertsteuer zu versagen. Außerdem fragt sich der Supreme Court, ob eine solche Anwendung des Grundsatzes mit den Grundsätzen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes vereinbar ist, da die fraglichen Geschäfte vor dem Erlass des Urteils Halifax getätigt wurden.

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Im Wege eines solchen Vorabentscheidungsersuchens können die Gerichte der Mitgliedstaaten in einem bei ihnen anhängigen Rechtsstreit dem Gerichtshof der Europäischen Union Fragen nach der Auslegung des Unionsrechts oder nach der Gültigkeit einer Handlung der Europäischen Union vorlegen. Der Unionsgerichtshof entscheidet dabei nur über die vorgelegte Rechtsfrage, nicht jedoch über den nationalen Rechtsstreit. Es ist und bleibt vielmehr Sache des nationalen Gerichts, über die Rechtssache im Einklang mit der Entscheidung des Unionsgerichtshofs zu entscheiden. Diese Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union bindet in gleicher Weise andere nationale Gerichte, die mit einem ähnlichen Problem befasst werden.

In seinem nun verkündeten Urteil stellt der Unionsgerichtshof zunächst fest, dass der Grundsatz des Verbots missbräuchlicher Praktiken, wie er im Urteil Halifax auf die Sechste Mehrwertsteuerrichtlinie2 angewandt wurde, keine durch eine Richtlinie aufgestellte Regel darstellt. Vielmehr hat dieser Grundsatz seine Grundlage in einer ständigen Rechtsprechung, wonach zum einen eine betrügerische oder missbräuchliche Berufung auf das Unionsrecht nicht erlaubt ist und zum anderen die Anwendung des Unionsrechts nicht so weit gehen kann, dass die missbräuchlichen Praktiken von Wirtschaftsteilnehmern gedeckt werden.

Dann erklärt der Unionsgerichtshof, dass diese Rechtsprechung in verschiedenen Bereichen des Unionsrechts ergangen ist. Zudem erfolgt die Anwendung des Grundsatzes des Verbots missbräuchlicher Praktiken auf die durch das Unionsrecht vorgesehenen Rechte und Vorteile unabhängig von der Frage, ob diese Rechte und Vorteile ihre Grundlage in den Verträgen, in einer Verordnung oder in einer Richtlinie haben. Nach Ansicht des Gerichtshofs weist der fragliche Grundsatz somit den allgemeinen Charakter auf, der den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts naturgemäß innewohnt. Folglich kann er einem Steuerpflichtigen entgegengehalten werden, um ihm u. a. das Recht auf Befreiung von der Mehrwertsteuer zu versagen, auch wenn das nationale Recht keine Bestimmungen enthält, die eine solche Versagung vorsehen.

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Schließlich bestätigt der Unionsgerichtshof, dass eine solche Anwendung des Grundsatzes des Verbots missbräuchlicher Praktiken mit den Grundsätzen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes vereinbar ist, auch wenn diese Anwendung Geschäfte betrifft, die vor dem Erlass des Urteils Halifax getätigt wurden. Der Gerichtshof stellt hierzu fest, dass durch die Auslegung des Unionsrechts, die er vornimmt, erläutert und verdeutlicht wird, in welchem Sinne und mit welcher Tragweite dieses Recht seit seinem Inkrafttreten zu verstehen ist oder gewesen wäre. Daraus folgt, dass – abgesehen von außergewöhnlichen Umständen – der Richter das Unionsrecht in dieser Auslegung auch auf Rechtsverhältnisse, die vor Erlass des auf das Ersuchen um Auslegung ergangenen Urteils entstanden sind, anwenden muss. Außerdem hat der Gerichtshof im Urteil Halifax die zeitliche Wirkung seiner Auslegung des Grundsatzes des Verbots missbräuchlicher Praktiken im Mehrwertsteuerbereich nicht begrenzt, und eine solche Begrenzung kann nur in dem Urteil selbst erfolgen, mit dem über die erbetene Auslegung entschieden wird.

Gerichtshof der Europäischen Union, Urteil vom 22. November 2017 – C -251/16

  1. EuGH, Urteil vom 21.02.2006 – C-255/02[]
  2. Sechste Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage, ABl. 1977, L 145, S. 1[]