Pflegeleistungen sind unter Berufung auf Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL steuerfrei, wenn die Pflegekraft die Möglichkeit hat, Verträge nach § 77 Abs. 1 Satz 1 SGB XI mit Pflegekassen abzuschließen.

Pflegeleistungen sind mithin unter Berufung auf das Unionsrecht (Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MWSt-SystemRL) steuerfrei. Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass die Pflegekraft die Möglichkeit hat, Verträge nach § 77 Abs. 1 Satz 1 SGB XI mit Pflegekassen abzuschließen.
Der hier vom Bundesfinanzhof entschiedenen Fall betraf eine Pflegekraft, die als Mitglied eines eingetragenen Vereins für den Verein gegen Entgelt als Pflegehelferin tätig war. Über eine Ausbildung als Kranken- oder Altenpflegerin verfügte die Pflegekraft nicht. Der Verein hatte mit der Pflegekraft eine Qualitätsvereinbarungen abgeschlossen. Der Verein erbrachte umsatzsteuerfreie Pflegeleistungen an Pflegekassen. Diese Art der Erbringung von Pflegeleistungen durch Mitglieder eines eingetragenen Vereins ist in Deutschland verbreitet.
Das Finanzamt sah die Tätigkeit der Pflegekraft für den Verein als umsatzsteuerpflichtig an. Ihre hiergegen gerichtete Klage zum Finanzgericht Münster hatte Erfolg1. Der Bundesfinanzhof bestätigte dies nun:
Zwar seien die Leistungen der Pflegekraft nach nationalem Recht steuerpflichtig, befand der Bundesfinanzhof. Sie könne sich aber auf die weitergehenden Steuerbefreiungstatbestände des Unionsrechts berufen, die das nationale Recht nur ungenügend umgesetzt habe. Für die nach dem Unionsrecht erforderliche Anerkennung reiche es aus, dass für die Pflegekraft die Möglichkeit bestanden habe, Leistungen nach § 77 Abs. 1 Satz 1 SGB XI an Pflegekassen erbringen zu können.
Die Pflegeleistungen der Pflegekraft sind nicht nach § 4 Nr. 16 Buchst. d und e des Umsatzsteuergesetzes in seiner in den Streitjahren geltenden Fassung (UStG) steuerfrei. Da es sich bei diesen Vorschriften um abschließend spezielle Steuerbefreiungen für Pflegeleistungen handelt, kommt eine ergänzende Anwendung von § 4 Nr. 18 UStG nicht in Betracht2.
Für eine Steuerfreiheit ihrer Leistungen kann sich die Pflegekraft aber auf Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL berufen.
Nach Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL befreien die Mitgliedstaaten eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundene Dienstleistungen und Lieferungen von Gegenständen, einschließlich derjenigen, die durch Altenheime, Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder andere von dem betreffenden Mitgliedstaat als Einrichtungen mit sozialem Charakter anerkannte Einrichtungen bewirkt werden.
In Bezug auf Pflegeleistungen durch andere Unternehmer als Einrichtungen des öffentlichen Rechts knüpft diese Bestimmung an leistungs- wie auch an personenbezogene Voraussetzungen an: Es muss sich um eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundene Dienstleistungen handeln, der leistende Unternehmer muss als Einrichtung mit sozialem Charakter anerkannt sein.
Die von der Pflegekraft erbrachten Pflegeleistungen sind insgesamt eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbunden3, wie das Finanzgericht zutreffend unter Berücksichtigung der von ihm herangezogenen Grundsätze zu Haupt- und Nebenleistung entschieden hat, und wie zwischen den Beteiligten unter Berücksichtigung der in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesfinanzhof abgegebenen Erklärungen im Revisionsverfahren nunmehr auch unstreitig ist. Die Pflegekraft war auch als Einrichtung mit sozialem Charakter anerkannt.
Nach dem zu Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 77/388/EWG ergangenen EuGH-Urteil „Zimmermann“4 legt die Richtlinie die Voraussetzungen und Modalitäten der Anerkennung nicht fest. Vielmehr ist es Sache des innerstaatlichen Rechts jedes Mitgliedstaats, die Regeln aufzustellen, nach denen Einrichtungen die erforderliche Anerkennung gewährt werden kann. Dabei haben die nationalen Behörden im Einklang mit dem Unionsrecht und unter der Kontrolle der nationalen Gerichte die für die Anerkennung maßgeblichen Gesichtspunkte zu berücksichtigen. Zu diesen gehören das Bestehen spezifischer Vorschriften, bei denen es sich um nationale oder regionale Rechts- oder Verwaltungsvorschriften, Steuervorschriften oder Vorschriften im Bereich der sozialen Sicherheit handeln kann, das mit den Tätigkeiten des betreffenden Steuerpflichtigen verbundene Gemeinwohlinteresse, die Tatsache, dass andere Steuerpflichtige mit den gleichen Tätigkeiten bereits in den Genuss einer ähnlichen Anerkennung kommen, und die Übernahme der Kosten der fraglichen Leistungen zum großen Teil durch Krankenkassen oder durch andere Einrichtungen der sozialen Sicherheit5.
Der Steuerpflichtige kann sich auf die in Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 77/388/EWG vorgesehene Steuerfreiheit berufen, um sich einer Regelung zu widersetzen, die mit dieser Bestimmung unvereinbar ist. Es ist Sache der nationalen Gerichte, anhand aller maßgeblichen Umstände zu bestimmen, ob der Steuerpflichtige eine als Einrichtung mit sozialem Charakter anerkannte Einrichtung im Sinne dieser Bestimmung ist. Dabei haben die nationalen Gerichte zu prüfen, ob die zuständigen Behörden die Grenzen des ihnen eingeräumten Ermessens unter Beachtung der Grundsätze des Unionsrechts eingehalten haben, zu denen insbesondere der Grundsatz der Gleichbehandlung gehört, der im Mehrwertsteuerbereich im Grundsatz der steuerlichen Neutralität zum Ausdruck kommt6. Dies gilt auch für Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL. Der Bundesfinanzhof folgt dieser Rechtsprechung7.
Im Streitfall hat das Finanzgericht die Anerkennung zu Recht bejaht. Sie folgt aus § 77 Abs. 1 Satz 1 SGB XI.
Nach § 77 Abs. 1 Satz 1 SGB XI in seiner bis zum 30.06.2008 geltenden Fassung konnten die Pflegekassen zur „Sicherstellung der häuslichen Pflege und hauswirtschaftlichen Versorgung … einen Vertrag mit einzelnen geeigneten Pflegekräften schließen, soweit und solange eine Versorgung nicht durch einen zugelassenen Pflegedienst gewährleistet werden kann; Verträge mit Verwandten oder Verschwägerten des Pflegebedürftigen bis zum dritten Grad sowie mit Personen, die mit dem Pflegebedürftigen in häuslicher Gemeinschaft leben, sind unzulässig“.
§ 77 Abs. 1 Satz 1 SGB XI in seiner ab 1.07.2008 geltenden Fassung durch Art. 1 Nr. 44 Buchst. a des Gesetzes vom 28.05.20088 hatte folgenden Wortlaut:
„Zur Sicherstellung der häuslichen Pflege und Betreuung sowie der hauswirtschaftlichen Versorgung kann die zuständige Pflegekasse Verträge mit einzelnen geeigneten Pflegekräften schließen, soweit
- die pflegerische Versorgung ohne den Einsatz von Einzelpersonen im Einzelfall nicht ermöglicht werden kann,
- die pflegerische Versorgung durch den Einsatz von Einzelpersonen besonders wirksam und wirtschaftlich ist (§ 29),
- dies den Pflegebedürftigen in besonderem Maße hilft, ein möglichst selbständiges und selbstbestimmtes Leben zu führen (§ 2 Abs. 1), oder
- dies dem besonderen Wunsch der Pflegebedürftigen zur Gestaltung der Hilfe entspricht (§ 2 Abs. 2);
Verträge mit Verwandten oder Verschwägerten des Pflegebedürftigen bis zum dritten Grad sowie mit Personen, die mit dem Pflegebedürftigen in häuslicher Gemeinschaft leben, sind unzulässig.“
Zu § 77 Abs. 1 Satz 1 SGB XI genügt die Möglichkeit, Verträge mit Pflegekassen abzuschließen, für die Anerkennung als Einrichtung mit sozialem Charakter. Dementsprechend reicht es hier dabei aus, dass die Pflegekraft als geeignete Pflegekraft i.S. von § 77 Abs. 1 Satz 1 SGB XI anzusehen war, da sie mit dem Verein Qualitätsvereinbarungen abschloss und „Nachweise über Fortbildungen“ vorgelegt hat. Auf einen Berufsabschluss in einem Pflegeberuf kommt es nicht an. Somit liegen die personenbezogenen Voraussetzungen des § 77 Abs. 1 Satz 1 SGB XI in seiner jeweiligen Fassung vor, ohne dass es auf die weiteren Bedingungen dieser Vorschrift ankommt.
Unerheblich ist, ob vertragliche Vereinbarungen mit Pflegekassen bestehen. Ohne Widerspruch zum BFH, Urteil vom 08.11.2007 – V R 2/069 konnte das Finanzgericht auch berücksichtigen, dass die Pflegekraft Mitglied in einem „anerkannten“ Verein zur Erbringung von Pflegeleistungen war, dessen Kosten weitgehend von den Pflegekassen getragen worden sind. Insoweit besteht eine über den Verein durchgeleitete Kostentragung. Der Bundesfinanzhof berücksichtigt dabei auch den gerichtsbekannten Pflegenotstand und das sich hieraus ergebende hohe Gemeinwohlinteresse, das an der Erbringung steuerfreier Pflegeleistungen besteht.
Für die vom Finanzamt angeregte Einholung eines Vorabentscheidungsersuchens nach Art. 267 AEUV besteht keine Veranlassung10. Für den Bundesfinanzhof bestehen keine Zweifel an der zutreffenden Auslegung von Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL, da zu berücksichtigen ist, dass diese Bestimmung die dort bezeichneten Dienstleistungen, die eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Gerechtigkeit verbunden sind, „einschließlich“ derjenigen die „durch Altenheime … oder andere … anerkannte Einrichtungen bewirkt werden“ befreit. Danach kommt der Anerkennung keine zwingende Bedeutung zu.
Bundesfinanzhof, Urteil vom 18. August 2015 – V R 13/14
- FG Münster, Urteil vom 14.01.2014 – 15 K 4674/10 U[↩]
- vgl. BFH, Urteil vom 08.08.2013 – V R 13/12, BFHE 242, 557, Leitsatz 1[↩]
- vgl. z.B. BFH, Urteil vom 24.01.2008 – V R 54/06, BFHE 221, 391, BStBl II 2008, 643, unter II. 2.a aa[↩]
- EuGH, Urteil vom 15.11.2012 – C-174/11, EU:C:2012:716, Rz 26[↩]
- EuGH, Urteil Zimmermann, EU:C:2012:716, Rz 31[↩]
- EuGH, Urteil Zimmermann, EU:C:2012:716, Rz 32 f.[↩]
- BFH, Urteil vom 25.04.2013 – V R 7/11, BFHE 241, 475, BStBl II 2013, 976, Rz 19 ff.[↩]
- BGBl I 2008, 874[↩]
- BFHE 219, 428, BStBl II 2008, 634[↩]
- vgl. zu den Voraussetzungen EuGH, Urteile Cilfit u.a. vom 06.10.1982 283/81, EU:C:1982:335, Rz 21, Slg. 1982, 3415; Gaston Schul vom 06.12 2005 – C-461/03, Eu:C:2005:742, Slg. 2005, I-10513; Intermodal Transports vom 15.09.2005 – C-495/03, EU:C:2005:552, Slg. 2005, I-8151[↩]