Es ist für den Bundesfinanzhof nicht ernstlich zweifelhaft, dass der Vorsteuerabzug versagt werden darf, wenn der Steuerpflichtige wusste oder hätte wissen müssen, dass er sich mit seinem Erwerb an einem Umsatz beteiligt hatte, der in eine Mehrwertsteuerhinterziehung einbezogen war. Es ist aber (weiterhin) ernstlich zweifelhaft, ob beim Vorsteuerabzug Gutglaubensschutz nur im Billigkeitsverfahren zu gewähren ist.

Nach § 69 Abs. 3 Satz 1, Abs. 2 Satz 2 FGO ist die Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsaktes ganz oder teilweise auszusetzen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit dieses Verwaltungsaktes bestehen.
Ernstliche Zweifel i.S. von § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO liegen vor, wenn bei summarischer Prüfung des angefochtenen Bescheids neben für seine Rechtmäßigkeit sprechenden Umständen gewichtige Gründe zutage treten, die Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung von Rechtsfragen oder Unklarheit in der Beurteilung entscheidungserheblicher Tatfragen bewirken1. Die Entscheidung hierüber ergeht bei der im AdV-Verfahren gebotenen summarischen Prüfung aufgrund des Sachverhalts, der sich aus dem Vortrag der Beteiligten und der Aktenlage ergibt2. Zur Gewährung der AdV ist es nicht erforderlich, dass die für die Rechtswidrigkeit sprechenden Gründe im Sinne einer Erfolgswahrscheinlichkeit überwiegen3.
Ernstliche Zweifel können danach z.B. bestehen, wenn die streitige Rechtsfrage höchstrichterlich noch nicht entschieden wurde und im Schrifttum oder in der Rechtsprechung der Finanzgerichte unterschiedliche Auffassungen vertreten werden4. Ist die Rechtslage nicht eindeutig, ist über die zu klärende Frage nicht im summarischen Verfahren der AdV zu entscheiden5.
Es entspricht außerdem der ständigen Rechtsprechung des BFH, dass der Vorsteuerabzug zu versagen ist, wenn aufgrund objektiver Umstände feststeht, dass der Steuerpflichtige wusste oder hätte wissen müssen, dass er sich mit seinem Erwerb an einem Umsatz beteiligt hatte, der in eine Mehrwertsteuerhinterziehung einbezogen war6.
Dies steht im Übrigen in Einklang mit der sich aus Art. 4 Abs. 3 des Vertrags über die Europäische Union, Art. 325 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) ergebenden Verpflichtung der Mitgliedstaaten, alle Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu erlassen, die geeignet sind, die Erhebung der gesamten in ihrem Hoheitsgebiet geschuldeten Mehrwertsteuer zu gewährleisten und den Betrug zu bekämpfen7. Soweit der Bundesfinanzhof in seinem Beschluss in BFHE 226, 449, BFH/NV 2009, 1567 zu § 6a UStG in Bezug auf die Missbrauchs-Rechtsprechung des EuGH noch ernstliche Zweifel bejaht hatte, sind diese durch das EuGH-Urteil „R“ vom 07.12 20108 beseitigt worden9.
Ernstlich zweifelhaft wäre indessen weiterhin10, sofern die tatsächlichen Voraussetzungen hierfür vorlägen11, ob auch beim Vorsteuerabzug Gutglaubensschutz bereits im Festsetzungsverfahren gewährt werden kann12. Nachdem der EuGH die ihm vom Bundesfinanzhof dazu gestellte Vorlagefrage13 nicht beantworten musste14, sind die in Rz 60 ff. des Vorlagebeschlusses in BFHE 254, 152 aufgeworfenen Fragen weiterhin ungeklärt.
Bundesfinanzhof, Beschluss vom 16. Mai 2019 – XI B 13/19
- vgl. z.B. BFH, Beschlüsse vom 11.07.2013 – XI B 41/13, BFH/NV 2013, 1647, Rz 16; vom 02.07.2014 – XI S 8/14, BFH/NV 2014, 1601[↩]
- vgl. BFH, Beschlüsse vom 26.09.2014 – XI S 14/14, BFH/NV 2015, 158, Rz 33; vom 20.01.2015 – XI B 112/14, BFH/NV 2015, 537, Rz 15, jeweils m.w.N.[↩]
- vgl. z.B. BFH, Beschlüsse vom 25.04.2013 – XI B 123/12, BFH/NV 2013, 1273, Rz 12; vom 17.12 2015 – XI B 84/15, BFHE 252, 181, BStBl II 2016, 192, Rz 22; vom 31.03.2016 – XI B 13/16, BFH/NV 2016, 1187, Rz 14[↩]
- BFH, Beschlüsse vom 29.07.2009 – XI B 24/09, BFHE 226, 449, BFH/NV 2009, 1567, Rz 22; vom 26.04.2010 – V B 3/10, BFH/NV 2010, 1664, Rz 20[↩]
- z.B. BFH, Beschlüsse vom 25.11.2005 – V B 75/05, BFHE 212, 176, BStBl II 2006, 484, Rz 26; vom 15.10.2015 – I B 93/15, BFHE 251, 309, BStBl II 2016, 66, Rz 7; in BFHE 252, 181, BStBl II 2016, 192, Rz 31[↩]
- vgl. BFH, Beschlüsse vom 19.12 2014 – XI B 12/14, BFH/NV 2015, 534, Rz 23; vom 12.09.2014 – VII B 99/13, BFH/NV 2015, 161, Rz 21 ff.[↩]
- vgl. EuGH, Urteile Paper Consult vom 19.10.2017 – C-101/16, EU:C:2017:775, HFR 2017, 1177, Rz 43 und 47; M.A.S. und M.B. vom 05.12 2017 – C-42/17, EU:C:2017:936, HFR 2018, 179, Rz 30 ff.[↩]
- EuGH, Urteil R vom 07.12 2010 – C-285/09, EU:C:2010:742, BStBl II 2011, 846[↩]
- vgl. dazu auch EuGH, Urteil Italmoda vom 18.12 2014 – C-131/13, – C-163/13 und – C-164/13, EU:C:2014:2455, HFR 2015, 200; BVerfG, Beschluss vom 16.06.2011 – 2 BvR 542/09, HFR 2011, 1145[↩]
- vgl. dazu BFH, Beschlüsse in BFH/NV 2015, 537, Rz 19; vom 18.02.2015 – V S 19/14, BFH/NV 2015, 866, Rz 30 ff.[↩]
- vgl. zur Abgrenzung auch BFH, Beschluss vom 07.12.2016 – XI R 31/14, BFH/NV 2017, 487, Rz 8 und 9[↩]
- verneinend BFH, Urteile vom 22.07.2015 – V R 23/14, BFHE 250, 559, BStBl II 2015, 914, Rz 31 ff.; vom 10.09.2015 – V R 17/14, BFH/NV 2016, 80, Rz 48[↩]
- vgl. BFH, Beschluss vom 06.04.2016 – XI R 20/14, BFHE 254, 152, Frage 2[↩]
- vgl. EuGH, Urteil Geissel und Butin vom 15.11.2017 – C-374/16, – C-375/16, EU:C:2017:867, HFR 2018, 88, Rz 51[↩]