Vorsteuerabzug – und die Sorgfaltspflichten des Leistungsempfängers

Welche Maßnahmen von einem Steuerpflichtigen vernünftigerweise verlangt werden können, um eine eigene Beteiligung an einem fremden Mehrwertsteuerbetrug zu verhindern, hängt wesentlich von den jeweiligen Umständen ab, die nach den Beweisregeln des nationalen Rechts, die die Wirksamkeit des Unionsrechts nicht beeinträchtigen dürfen, zu ermitteln sind.

Vorsteuerabzug – und die Sorgfaltspflichten des Leistungsempfängers

Von einem Steuerpflichtigen darf zwar nicht generell verlangt werden, dass er prüft, ob der Aussteller einer Rechnung über die Lieferung von Gegenständen, für die das Recht auf Vorsteuerabzug geltend gemacht wird, über die fraglichen Gegenstände verfügte, sie liefern konnte sowie seinen Verpflichtungen hinsichtlich der Erklärung und Abführung der Mehrwertsteuer nachgekommen ist. Wenn aber Anhaltspunkte für Unregelmäßigkeiten oder einen Mehrwertsteuerbetrug vorliegen, kann der Steuerpflichtige verpflichtet sein, über einen anderen Wirtschaftsteilnehmer, von dem er Gegenstände oder Dienstleistungen zu erwerben beabsichtigt, Auskünfte einzuholen, um sich von dessen Zuverlässigkeit zu überzeugen.

Zwar ist die nationale Regelung des § 25f Abs. 1 Nr. 2 UStG, nach dem der Vorsteuerabzug nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UStG zu versagen ist, sofern der Unternehmer wusste oder hätte wissen müssen, dass er sich u.a. mit seinem Leistungsbezug an einem Umsatz beteiligt, bei dem ein anderer Beteiligter auf einer nachfolgenden Umsatzstufe in eine begangene Hinterziehung von Umsatzsteuer einbezogen war, im Streitzeitraum 2010 gemäß § 27 Abs. 30 UStG noch nicht anzuwenden1. Jedoch haben die Mitgliedstaaten unionsrechtlich nach Art. 325 Abs. 1 AEUV Betrügereien und sonstige gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtete rechtswidrige Handlungen mit Maßnahmen zu bekämpfen, die wirksam und abschreckend sind. Dabei umfassen die finanziellen Interessen der Union auch die Einnahmen aus der Mehrwertsteuer2.

Weiterlesen:
Steuerhinterziehung - und der Beginn der Verjährung

Der Tatbestand des „Betrugs“ zum Nachteil der finanziellen Interessen der Europäischen Union (EU) umfasst nach Art. 1 Abs. 1 Buchst. b des Übereinkommens aufgrund von Art. K.3 des Vertrags über die Europäische Union über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften vom 26.07.19953 im Zusammenhang mit Einnahmen jede vorsätzliche Handlung oder Unterlassung betreffend

  • die Verwendung oder Vorlage falscher, unrichtiger oder unvollständiger Erklärungen oder Unterlagen mit der Folge, dass Mittel aus dem Gesamthaushaltsplan der Europäischen Gemeinschaften oder aus den Haushalten, die von den Europäischen Gemeinschaften oder in deren Auftrag verwaltet werden, rechtswidrig vermindert werden;
  • das Verschweigen einer Information unter Verletzung einer spezifischen Pflicht mit derselben Folge;
  • die mißbräuchliche Verwendung eines rechtmäßig erlangten Vorteils mit derselben Folge.

Daneben stellen Fälle der Nichtabführung der Umsatzsteuer „sonstige rechtswidrige Handlungen“ i.S. des Art. 325 Abs. 1 AEUV dar, durch die ebenfalls die finanziellen Interessen der Union i.S. von Art. 325 Abs. 1 AEUV beeinträchtigt werden und auf die daher ebenfalls effektive und abschreckende Sanktionen anzuwenden sind4.

Nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH ist die Bekämpfung von Betrug, Steuerhinterziehung und etwaigen Missbräuchen ein Ziel, das auch mit der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28.11.2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (MwStSystRL) anerkannt und gefördert wird; deshalb ist u.a. eine betrügerische oder missbräuchliche Berufung auf das Unionsrecht nicht erlaubt5. Die nationalen Behörden und Gerichte haben u.a. das Recht, einen Vorsteuerabzug zu versagen, wenn aufgrund der objektiven Sachlage feststeht, dass dieses Recht in betrügerischer Weise oder missbräuchlich geltend gemacht wird6. Aber nicht nur der Vorsteuerabzug, sondern alle im Rechtssystem der EU vorgesehenen Rechte sind generell zu versagen, unabhängig davon, welches Recht aus dem Bereich der Mehrwertsteuer von der betrügerischen Handlung betroffen ist7.

Weiterlesen:
Strom für Dauercamper

Dies gilt, wenn der Steuerpflichtige selbst eine „Steuerhinterziehung“ begangen hat8; Steuerpflichtige, die selbst eine Steuerhinterziehung begangen haben, haben die Folgen ihres betrügerischen Verhaltens z.B. dadurch zu tragen, dass sie die Vorsteuer auf alle Waren oder Dienstleistungen, die für die Erbringung der eigenen Leistungen herangezogen wurden, auch dann nicht in Abzug bringen können, wenn auf die Umsätze, für die keine Rechnung ausgestellt wurde, nach einer Steuerprüfung rückwirkend Mehrwertsteuer erhoben wird9.

Gleiches gilt aber auch dann, wenn feststeht, dass der Steuerpflichtige, dem die Gegenstände geliefert wurden, die als Grundlage für die Begründung des Rechts auf Vorsteuerabzug dienen, wusste oder hätte wissen müssen, dass er mit seinem Erwerb an einem Umsatz teilnahm, der in einen vom Lieferer oder von einem anderen Wirtschaftsteilnehmer auf einer vorhergehenden oder nachfolgenden Umsatzstufe der Lieferkette begangenen Mehrwertsteuerbetrug einbezogen war10. Allein die Tatsache, dass der Steuerpflichtige in irgendeiner Weise davon wusste oder hätte wissen müssen, gilt dabei für die Zwecke der MwStSystRL als Beteiligung an der Steuerhinterziehung; die einzige für die Versagung des Abzugsrechts in einer solchen Situation entscheidende aktive Handlung besteht im Erwerb der Gegenstände, so dass es keiner sonstigen aktiven Beteiligung an der Steuerhinterziehung oder der Verschleierung der Lieferbeziehungen und des Lieferers bedarf11. Die Bösgläubigkeit des Steuerpflichtigen muss nicht erwiesen sein12. Ebenso irrelevant ist, ob er durch den Umsatz einen Steuervorteil erlangt hat13. Der Begriff der „Lieferkette“ ist dabei nicht auf besondere Konstellationen beschränkt14.

Weiterlesen:
Vorsteuerabzug aus Rechnungen - Umsatzsteuerhinterziehung und Gutglaubensschutz

Hinsichtlich des Grades der erforderlichen Sorgfalt des Steuerpflichtigen, der sein Recht auf Vorsteuerabzug ausüben möchte, hat der EuGH entschieden, dass von einem Wirtschaftsbeteiligten gefordert werden darf, dass er alle Maßnahmen ergreift, die vernünftigerweise von ihm verlangt werden können, um sicherzustellen, dass der von ihm getätigte Umsatz nicht zu seiner Beteiligung in diesem Sinne führt15: Wenn Anhaltspunkte für Unregelmäßigkeiten oder Steuerhinterziehung vorliegen, kann er nach den Umständen des konkreten Falls verpflichtet sein, über einen anderen Wirtschaftsteilnehmer, von dem er Gegenstände oder Dienstleistungen zu erwerben beabsichtigt, Auskünfte einzuholen, um sich von dessen Zuverlässigkeit zu überzeugen.

Die Steuerverwaltung darf aber vom Steuerpflichtigen weder die Durchführung komplexer und umfassender Überprüfungen seines Lieferanten verlangen noch ihm faktisch die ihr obliegende Kontrolle übertragen; nicht generell verlangt werden darf in diesem Zusammenhang die Prüfung, ob der Aussteller der Rechnung über die Gegenstände, für die dieses Recht geltend gemacht wird, Steuerpflichtiger ist, über die fraglichen Gegenstände verfügte und sie liefern konnte sowie seinen Verpflichtungen hinsichtlich der Erklärung und Abführung der Mehrwertsteuer nachgekommen ist16.

Welche Maßnahmen im konkreten Einzelfall vom Steuerpflichtigen vernünftigerweise verlangt werden können, um die Beteiligung an einem fremden Mehrwertsteuerbetrug zu verhindern, hängt wesentlich von den jeweiligen Umständen ab17. Diese Umstände sind gemäß den Beweisregeln des nationalen Rechts zu ermitteln, die die Wirksamkeit des Unionsrechts nicht beeinträchtigen dürfen18. Dass der Steuerpflichtige von einem fremden Mehrwertsteuerbetrug wusste oder hätte wissen müssen, muss das Finanzamt anhand objektiver Umstände nachweisen, da die Feststellungslast insoweit bei ihm liegt19. Hat das Finanzamt nicht dargetan oder das Finanzgericht nicht festgestellt, dass ein Mehrwertsteuerbetrug oder eine sonstige rechtswidrige Handlung i.S. des Art. 325 AEUV begangen worden ist, kommt eine Versagung des Vorsteuerabzugs nach der sog. Missbrauchs-Rechtsprechung des EuGH nicht in Betracht20.

Weiterlesen:
Strohmann als leistender Unternehmer - und der Vorsteuerabzug

Bundesfinanzhof, Beschluss vom 20. Oktober 2021 – XI R 19/20

  1. vgl. allgemein BFH, Beschluss vom 02.07.2021 – XI R 40/19 Rz 24 ff.; BGH, Beschluss vom 12.05.2020 – 1 StR 635/19, NStZ 2021, 302, Rz 8[]
  2. vgl. EuGH, Urteil Scialdone vom 02.05.2018 – C-574/15, EU:C:2018:295, Rz 27; BFH, Urteil vom 12.03.2020 – V R 20/19, BFHE 268, 452, BStBl II 2020, 608, Rz 29[]
  3. ABl.EG 1995, Nr. C 316, 48[]
  4. EuGH, Urteil Scialdone, EU:C:2018:295, Rz 44 ff.[]
  5. vgl. z.B. EuGH, Urteile Vikingo F?vállalkozó vom 03.09.2020 – C-610/19, EU:C:2020:673, Rz 50; Finanzamt Wilmersdorf vom 14.04.2021 – C-108/20, EU:C:2021:266, Rz 21[]
  6. vgl. EuGH, Urteile Kittel und Recolta Recycling vom 06.07.2006 – C-439/04 und – C-440/04, EU:C:2006:446; Glencore Agriculture Hungary vom 16.10.2019 – C-189/18, EU:C:2019:861, Rz 34[]
  7. vgl. EuGH, Urteil Schoenimport „Italmoda“ Mariano Previti vom 18.12.2014 – C-131/13, – C-163/13 und – C-164/13, EU:C:2014:2455, Rz 46[]
  8. vgl. EuGH, Urteil Kittel und Recolta Recycling, EU:C:2006:446, Rz 53, m.w.N.[]
  9. vgl. EuGH, Urteil Tribunal Económico Administrativo Regional de Galicia vom 01.07.2021 – C-521/19, EU:C:2021:527, Rz 27 und 30, m.w.N.[]
  10. vgl. EuGH, Urteile Mahagében und Dávid vom 21.06.2012 – C-80/11 und – C-142/11, EU:C:2012:373, Rz 45; Glencore Agriculture Hungary, EU:C:2019:861, Rz 35; Vikingo F?vállalkozó, EU:C:2020:673, Rz 51; Finanzamt Wilmersdorf, EU:C:2021:266, Rz 22 und 24[]
  11. EuGH, Urteil Finanzamt Wilmersdorf, EU:C:2021:266, Rz 26 f.[]
  12. EuGH, Urteil Finanzamt Wilmersdorf, EU:C:2021:266, Rz 31[]
  13. vgl. EuGH, Urteil Finanzamt Wilmersdorf, EU:C:2021:266, Rz 36[]
  14. vgl. EuGH, Urteil Finanzamt Wilmersdorf, EU:C:2021:266, Rz 32 ff.[]
  15. vgl. EuGH, Urteile Mahagében und Dávid, EU:C:2012:373, Rz 54; Paper Consult vom 19.10.2017 – C-101/16, EU:C:2017:775, Rz 52, m.w.N.; Finanzamt Wilmersdorf, EU:C:2021:266, Rz 28[]
  16. vgl. EuGH, Urteil Vikingo F?vállalkozó, EU:C:2020:673, Rz 56[]
  17. vgl. EuGH, Urteil Vikingo F?vállalkozó, EU:C:2020:673, Rz 54[]
  18. vgl. EuGH, Urteil Vikingo F?vállalkozó, EU:C:2020:673, Rz 59[]
  19. vgl. BFH, Urteile vom 18.02.2016 – V R 62/14, BFHE 253, 283, BStBl II 2016, 589, Rz 20; vom 11.03.2020 – XI R 38/18, BFHE 268, 376, Rz 49[]
  20. vgl. BFH, Urteil in BFHE 268, 376, Rz 49; BFH, Beschluss in BFH/NV 2019, 1351, Rz 22[]
Weiterlesen:
Die Bruttoumsätze bei der Umsatzsteuerhinterziehung - Geständnis oder Schätzung?