Der Streit um die Grundsteuer – oder: Prozesszinsen im mehrstufigen Verfahren

Nimmt das Finanzamt nach der rechtskräftigen gerichtlichen Aufhebung eines rechtswidrigen Grundlagenbescheids die nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO gebotene Herabsetzung der Steuer im Folgebescheid nicht vor und erlässt es stattdessen einen zweiten rechtswidrigen Grundlagenbescheid, der durch eine weitere rechtskräftige gerichtliche Entscheidung aufgehoben wird, entstehen Prozesszinsen nach § 236 Abs. 2 Nr. 2 Buchst. a, Abs. 1 AO bereits seit der Rechtshängigkeit des ersten mit rechtskräftigem Urteil abgeschlossenen Verfahrens über die Aufhebung des Grundlagenbescheids, soweit die Zahlung der Steuer nicht zu einem späteren Zeitpunkt erfolgt ist.

Der Streit um die Grundsteuer – oder: Prozesszinsen im mehrstufigen Verfahren

Ist das Verhältnis von Grundlagen- zu Folgebescheiden dreistufig ausgebildet, kann eine gerichtliche Entscheidung der ersten Stufe (Wertfeststellung) ausreichen, damit ein Zinsanspruch betreffend die in der dritten Stufe festgesetzte Steuer (Grundsteuerfestsetzung) entsteht. Die Zwischenschaltung der zweiten Stufe (Grundsteuermessbetrag) ist eine Frage der Gesetzgebungstechnik und unterbricht den Kausalzusammenhang nicht.

Nach § 236 Abs. 2 Nr. 2 Buchst. a AO sind Prozesszinsen zu zahlen, wenn eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung zur Herabsetzung der in einem Folgebescheid festgesetzten Steuer führt. Die Vorschrift verweist auf die Regelung des § 236 Abs. 1 Satz 1 AO, nach welcher der zu erstattende Betrag vorbehaltlich des § 236 Abs. 3 AO vom Tag der Rechtshängigkeit an bis zum Auszahlungstag zu verzinsen ist. Ist der zu erstattende Betrag erst nach Eintritt der Rechtshängigkeit entrichtet worden, so beginnt gemäß § 236 Abs. 1 Satz 2 AO die Verzinsung mit dem Tag der Zahlung. Der Zinslauf endet mit der tatsächlichen Erstattung der Steuer.

Die Verweisung des § 236 Abs. 2 AO auf § 236 Abs. 1 AO bezieht sich sowohl auf die Rechtsfolgen als auch auf den Rechtsgrund der Verzinsung, soweit die Tatbestände des § 236 Abs. 2 AO hierzu keine eigenen Regeln enthalten1. § 236 Abs. 2 Nr. 2 Buchst. a AO modifiziert das in § 236 Abs. 1 AO enthaltene Tatbestandsmerkmal „eine festgesetzte Steuer herabgesetzt“ in der Weise, dass die rechtskräftige gerichtliche Entscheidung sich auf einen Grundlagenbescheid im Sinne von § 171 Abs. 10 Satz 1 AO bezieht, der seinerseits zu einer Herabsetzung der Steuer in einem Folgebescheid im Sinne von § 182 Abs. 1 Satz 1 AO führt. Die Vorschrift bewirkt eine Zinspflicht so, als wäre die Steuerfestsetzung im Folgebescheid Verfahrensgegenstand gewesen2. § 236 AO gewährt dem Gläubiger eines Erstattungsanspruchs für die Zeit ab dem Tag der Rechtshängigkeit eine Entschädigung für entgangene Kapitalnutzungsmöglichkeiten3.

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Zinsgläubiger ist jeder am Rechtsstreit Beteiligte, mithin auch der Beigeladene4, bei Folgeänderungen darüber hinaus derjenige, der die Steuer gezahlt hat und zu dessen Gunsten die Folgeänderung vorgenommen wurde5.

Die Regelung des § 236 AO zu den Prozesszinsen auf Erstattungsbeträge ist eng auszulegen.

Gemäß § 233 Satz 1 AO werden Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis (§ 37 AO) nur verzinst, soweit dies durch Bundesrecht oder Recht der Europäischen Union vorgeschrieben ist. Es gibt keinen allgemeinen Rechtsgrundsatz, dass rückständige Staatsleistungen (angemessen) zu verzinsen sind6. Eine Analogie oder lückenausfüllende Rechtsfortbildung der Zinsvorschriften wäre zwar unter Beobachtung strenger Anforderungen grundsätzlich denkbar7. Im Anwendungsbereich des § 236 AO ist jedoch wegen der engen Umschreibung des Verzinsungstatbestandes eine erweiternde Auslegung ausgeschlossen und die Verzinsung nur nach Maßgabe genau umschriebener Tatbestände möglich8.

Die Anwendung des § 236 AO setzt in allen Alternativen, somit auch in Abs. 2 Nr. 2 Buchst. a, voraus, dass der angestrengte Rechtsstreit und die gerichtliche Entscheidung für den zu verzinsenden Erstattungsanspruch ursächlich gewesen sind. Findet die Herabsetzung der Steuer unabhängig von dem betreffenden Klageverfahren statt, fehlt es an der Kausalität9.

Zwar ist der Kausalitätsbegriff des § 236 Abs. 1 Satz 1 Alternative 1 AO technischer Natur. Eine Steuer wird im Sinne dieser Vorschrift „durch“ eine gerichtliche Entscheidung herabgesetzt, wenn das Gericht die Steuer selbst nach § 100 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Abs. 2 Satz 1 FGO niedriger festsetzt10 oder auch selbst den Steuerbescheid nach § 100 Abs. 1 Satz 1 FGO gänzlich aufhebt11. Auf den Grund der Herabsetzung kommt es nicht an12. Es müssen diejenigen Steuern rechtshängig gewesen sein, um deren Erstattung es geht13, und die Herabsetzung der Steuer muss auch Inhalt der Entscheidung sein. Allein eine mittelbare Folge genügt nicht. Andernfalls wäre § 236 Abs. 2 Nr. 2 Buchst. a AO überflüssig14.

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Bereits die Tatbestandsalternative § 236 Abs. 1 Satz 1 Alternative 2 AO enthält jedoch begriffsnotwendig einen wertend auszufüllenden weiteren Kausalitätsbegriff. Danach entsteht ein Zinsanspruch auch dann, wenn eine Steuer „auf Grund“ einer gerichtlichen Entscheidung herabgesetzt wird. Dies setzt einen über den unmittelbaren Kausalitätsbegriff des § 236 Abs. 1 Satz 1 Alternative 1 AO hinausgehenden Anwendungsbereich voraus. Andernfalls liefe die Alternative leer. Bei wertender Betrachtung kann eine Entscheidung deshalb auch bei mittelbarem Verursachungszusammenhang zu einer Steuererstattung führen15. Kausalität liegt vor, wenn der Prozess bestimmungsgemäß zu einer Erstattung führt und deshalb in Wirklichkeit über eine Herabsetzung der festgesetzten Steuer entschieden wird16. Unerheblich ist, ob die jeweilige Gesetzgebungstechnik für die Umsetzung der Entscheidung einen weiteren Verwaltungsakt oder anderes Verwaltungshandeln fordert17.

Ebenso ist der Kausalitätsbegriff in § 236 Abs. 2 Nr. 2 Buchst. a AO wertender Natur. Die Vorschrift hat schon dem Grunde nach lediglich mittelbare Verursachungszusammenhänge zum Gegenstand, denn die gerichtliche Entscheidung im Grundlagenbescheidsverfahren führt erst über die Folgeanpassung nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO und damit über eine Zwischenstufe zu einer Herabsetzung der festgesetzten Steuer.

Ist das Verhältnis von Grundlagen- zu Folgebescheiden dreistufig ausgebildet18, kann eine gerichtliche Entscheidung der ersten Stufe (Wertfeststellung) ausreichen, damit ein Zinsanspruch nach § 236 Abs. 2 Nr. 2 Buchst. a AO betreffend die in der dritten Stufe festgesetzte Steuer (Grundsteuerfestsetzung) entstehen kann. Die Zwischenschaltung der zweiten Stufe (Grundsteuermessbetrag) ist eine Frage der Gesetzgebungstechnik und unterbricht den Kausalzusammenhang nicht.

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Danach besteht bereits seit dem Tag der Rechtshängigkeit der ersten gerichtlichen Entscheidung über die Aufhebung eines rechtswidrigen Grundlagenbescheids ein Anspruch auf Prozesszinsen nach § 236 Abs. 2 Nr. 2 Buchst. a, Abs. 1 AO, wenn das Finanzamt die gemäß § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO angeordnete Herabsetzung der im Folgebescheid festgesetzten Steuer nicht vornimmt, stattdessen einen zweiten rechtswidrigen Grundlagenbescheid erlässt und erst nach einer weiteren gerichtlichen Entscheidung über diesen zweiten Grundlagenbescheid die zur Herabsetzung der Steuer führende Folgeanpassung vornimmt. Auf die Frage, ob das Finanzamt auf der Grundlage von § 155 Abs. 2 AO nach der gerichtlichen Aufhebung eines Grundlagenbescheids einen Folgebescheid mit Rücksicht auf einen zu erwartenden neuerlichen Erlass eines Grundlagenbescheides stehenlassen darf, kommt es nicht an, wenn eine weitere gerichtliche Entscheidung den zweiten Grundlagenbescheid auf denjenigen Inhalt zurücksetzt, der zu einer der ersten gerichtlichen Entscheidung entsprechenden Aufhebung des Folgebescheids führt. In einem solchen Fall setzt der zweite Grundlagenbescheid keine neue Kausalkette in Gang, sondern stellt einen vergeblichen und erst durch eine weitere Entscheidung des Gerichts unterbundenen Versuch des Finanzamts dar, die durch die rechtskräftige gerichtliche Entscheidung über den ersten Grundlagenbescheid in Gang gesetzte Kausalkette zu unterbrechen und sich so der Zinspflicht zu entledigen.

Nach diesen Grundsätzen ist das Finanzgericht Berlin-Brandenburg19 im vorliegenden Fall zu Unrecht davon ausgegangen, dass der Zinslauf der Prozesszinsen erst ab dem Tag der Rechtshängigkeit des gegen die Grundlagenbescheide über den Einheitswert vom 22.10.2015 geführten Prozesses 3 K 3224/16 am 26.10.2016 begonnen hat. Der Zinslauf begann grundsätzlich bereits am 26.11.2009, dem Tag der Rechtshängigkeit der rechtskräftig gewordenen gerichtlichen Entscheidung des Finanzgerichts 3 K 3210/09, deren Gegenstand die Bescheide über die Zurechnungsfortschreibungen vom 30.05.2008 waren. Daher ist das Urteil des Finanzgerichts aufzuheben. Der Bundesfinanzhof kann nicht abschließend entscheiden, da das Finanzgericht keine Feststellungen dazu getroffen hat, ob die zu erstattenden Beträge erst nach dem Eintritt der Rechtshängigkeit am 26.11.2009 entrichtet worden sind.

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Das Finanzamt hat nach dem Urteil vom 22.10.201420 die Folgebescheide nicht aufgehoben, sondern neue, erneut rechtswidrige Grundlagenbescheide erlassen. Das Finanzgericht hat mit seinem Urteil vom 14.02.201821 diese so geändert, dass die Folgeanpassung eine Steuererstattung in demjenigen Umfang bewirkt hat, wie sie der unterbliebenen Folgeänderung nach dem ersten Urteil 3 K 3210/09 entspricht. Damit ist maßgeblicher Rechtshängigkeitszeitpunkt derjenige des Verfahrens 3 K 3210/09. Aufgrund der Beiladung der Miteigentümerin zu diesem Verfahren ist dieser Zeitpunkt auch für die hier klagende Miteigentümerin als Zinsgläubigerin maßgebend. Der Einwand des Finanzamtes, dass nach dem Urteil vom 22.10.2014 – 3 K 3210/09 ungeachtet des § 155 Abs. 2 AO keine Anpassungsverpflichtung nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO bestanden habe, weil es nur die Zurechnungsfortschreibungen, nicht aber den Einheitswert betroffen habe, ist unzutreffend, weil die Inanspruchnahme zur Grundsteuer die wirksame Zurechnung des Grundstücks voraussetzt.

Da das Finanzgericht jedoch keine Feststellungen dazu getroffen hat, wann die zu erstattenden Grundsteuern gezahlt wurden, kann der Bundesfinanzhof keine abschließende Entscheidung darüber treffen, ob der Zinslauf statt mit dem Tag der Rechtshängigkeit nach § 236 Abs. 1 Satz 2 AO erst mit dem Tag der Zahlung beginnt.

Der Zinslauf endet mit der tatsächlichen Erstattung der Steuer. Entgegen der Auffassung des Finanzamtes ist nicht an den Zeitpunkt anzuknüpfen, an dem das Finanzamt hypothetisch die Steuern erstattet hätte, wenn es nach der Entscheidung im ersten Prozess 3 K 3210/09 die Folgeänderungen vorgenommen hätte. Dies widerspräche auch dem Ziel des § 236 AO, die hier klagende Miteigentümerin für entgangene Kapitalnutzungsmöglichkeiten zu entschädigen. Bis zur tatsächlichen Erstattung stand der Miteigentümerin die entsprechende Liquidität nicht zur Verfügung.

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Bundesfinanzhof, Urteil vom 24. Mai 2023 – II R 23/20

  1. BFH, Urteil vom 29.08.2012 – II R 49/11, BFHE 238, 499, BStBl II 2013, 104, Rz 16 f.[]
  2. Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler -HHSp-, § 236 AO Rz 16[]
  3. BFH, Urteil vom 16.05.2013 – II R 20/11, BFHE 241, 320, BStBl II 2013, 770, Rz 15, m.w.N.[]
  4. Heuermann in HHSp, § 236 AO Rz 33[]
  5. BFH, Urteil vom 17.01.2007 – X R 19/06, BFHE 216, 396, BStBl II 2007, 506; Kögel in Gosch, AO § 236 Rz 40[]
  6. BFH, Urteile vom 29.08.2011 – II R 49/11, BFHE 238, 499, BStBl II 2013, 104, Rz 8, m.w.N.; und vom 16.05.2013 – II R 20/11, BFHE 241, 320, BStBl II 2013, 770, Rz 14[]
  7. BFH, Urteile vom 16.12.1987 – I R 350/83, BFHE 152, 401, BStBl II 1988, 600, unter II. 4.; und vom 29.08.2011 – II R 49/11, BFHE 238, 499, BStBl II 2013, 104, Rz 24[]
  8. BFH, Urteil vom 29.04.1997 – VII R 91/96, BFHE 182, 253, BStBl II 1997, 476, unter II. 2.b[]
  9. BFH, Urteile vom 15.10.2003 – X R 48/01, BFHE 204, 1, BStBl II 2004, 169, unter B.II. 2.a, c; und vom 29.08.2011 – II R 49/11, BFHE 238, 499, BStBl II 2013, 104, Rz 12, 17[]
  10. BFH, Urteile vom 29.08.2011 – II R 49/11, BFHE 238, 499, BStBl II 2013, 104, Rz 13; und vom 29.04.2020 – XI R 14/18, Rz 14[]
  11. dazu BFH, Urteil vom 16.05.2013 – II R 20/11, BFHE 241, 320, BStBl II 2013, 770, Rz 17[]
  12. BFH, Urteile vom 10.11.1983 – V R 13/79, BFHE 139, 240, BStBl II 1984, 185; und vom 16.05.2013 – II R 20/11, BFHE 241, 320, BStBl II 2013, 770, Rz 16[]
  13. s. z.B. BFH, Urteil vom 30.11.1995 – V R 39/94, BFHE 179, 236, BStBl II 1996, 260, unter II. 1.; BFH, Beschluss vom 23.10.2019 – VII B 40/19, Rz 20 f., 24[]
  14. BFH, Urteile vom 16.12.1987 – I R 350/83, BFHE 152, 401, BStBl II 1988, 600, unter II. 2.; und vom 29.08.2011 – II R 49/11, BFHE 238, 499, BStBl II 2013, 104, Rz 19 f.[]
  15. ausdrücklich BFH, Urteil vom 09.10.1985 – I R 193/82[]
  16. Heuermann in HHSp, § 236 AO Rz 21[]
  17. so etwa im Rahmen des körperschaftsteuerrechtlichen Anrechnungsverfahrens, vgl. BFH, Urteil vom 05.04.2006 – I R 80/04; bei Abrechnung von Kapitalertragsteuer, vgl. BFH, Urteil vom 29.04.2020 – XI R 14/18, Rz 19 f. und nach Wiederaufnahme des Verfahrens im Sinne von § 134 FGO, vgl. Heuermann in HHSp, § 236 AO Rz 20[]
  18. zum Verhältnis Einheitswertbescheid – Grundsteuermessbescheid und Grundsteuerbescheid: BFH, Urteil vom 25.11.2020 – II R 3/18, BFHE 272, 1, Rz 18[]
  19. FG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 22.01.2020 – 3 K 3030/17[]
  20. FG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 22.10.2014 – 3 K 3210/09[]
  21. FG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 14.02.2018 – 3 K 3224/16[]
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