Gilt der unionsrechtliche Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auch für die fakultative Steuerermäßigung nach Art. 5 Satz 1 vierter Gedankenstrich RL 2003/96 mit der Folge, dass der Mitgliedstaat die Steuerermäßigung nach Ablauf der in seinem Recht geregelten Antragsfrist nicht verweigern darf, wenn im Zeitpunkt des Eingangs des Antrags bei der zuständigen Behörde noch keine Festsetzungsverjährung eingetreten ist?

Diese Rechtsfrage hat jetzt der Bundesfinanzhof dem Gerichtshof der Europäischen Union zur Vorabentscheidung vorgelegt.
Dem zugrunde liegt der Fall einer Unternehmerin des Produzierenden Gewerbes, die beim Hauptzollamt Anträge auf Energiesteuerentlastung für die Monate August bis November 2010 nach § 54 Abs. 1 des Energiesteuergesetzes (EnergieStG) unter Verwendung des vorgeschriebenen amtlichen Vordrucks stellte. Es ist unstreitig, dass die Unternehmerin während des gesamten Jahres 2010, abgesehen von der Antragstellung, alle Voraussetzungen für eine Steuerentlastung gemäß § 54 Abs. 1 EnergieStG erfüllte.
Das Hauptzollamt lehnte die Entlastung von der Energiesteuer ab. Nach erfolglosem Einspruch hatte die Klage vor dem Finanzgericht Hamburg Erfolg1. Dagegen wendet sich das Hauptzollamt im Revisionsverfahren, was jetzt zu dem Vorabentscheidungsersuchen des Bundesfinanzhofs gemäß Art. 267 AEUV führte. Nach Auffassung des Bundesfinanzhofs kommt es für die Entscheidung des Streitfalls auf Vorschriften der Richtlinie 2003/96/EG des Rates vom 27.10.2003 zur Restrukturierung der gemeinschaftlichen Rahmenvorschriften zur Besteuerung von Energieerzeugnissen und elektrischem Strom2 an. Bei der Auslegung dieser Richtlinie bestehen Zweifel, die für den Streitfall entscheidungserheblich sind:
Die rechtliche Würdigung des Streitfalls ist für den Bundesfinanzhof unionsrechtlich zweifelhaft. Es kommt darauf an, ob ein Anspruch der Unternehmerin auf Steuerentlastung nach § 54 Abs. 1 Satz 1 Alternative 1 EnergieStG ausgeschlossen ist, weil der nach § 100 Abs. 1 EnergieStV auf amtlich vorgeschriebenem Vordruck einzureichende Antrag erst nach Ablauf der in § 100 Abs. 1 Satz 3 EnergieStV geregelten Antragsfrist, jedoch vor Ablauf der Festsetzungsfrist nach § 169 Abs. 2 AO beim Hauptzollamt eingegangen ist, oder ob diesem Ausschluss der unionsrechtliche Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entgegensteht.
Nach Art. 5 RL 2003/96 können die Mitgliedstaaten unter bestimmten Umständen gestaffelte Steuersätze vorsehen. Dies ist unter anderem der Fall, wenn bei den in Art. 9 und 10 RL 2003/96 genannten Erzeugnissen bzw. bei dem elektrischen Strom zwischen betrieblicher und nicht betrieblicher Verwendung unterschieden wird (Art. 5 Satz 1 vierter Gedankenstrich RL 2003/96). Dabei handelt es sich um ein Wahlrecht der Mitgliedstaaten und somit um eine fakultative Steuervergünstigung. Die Gewährung von Steuerermäßigungen kann gemäß Art. 6 Buchst. c RL 2003/96 nach Wahl der Mitgliedstaaten auch über eine vollständige oder teilweise Erstattung von bereits entrichteten Steuern erfolgen.
Auf dieser Grundlage hat der deutsche Gesetzgeber die Steuerentlastung nach § 54 Abs. 1 EnergieStG eingeführt. Danach wird auf Antrag unter anderem eine Steuerentlastung gewährt für Energieerzeugnisse, die nachweislich nach § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 oder 3 bis 5 EnergieStG versteuert und von einem Unternehmen des Produzierenden Gewerbes im Sinne des § 2 Nr. 3 des Stromsteuergesetzes zu betrieblichen Zwecken verheizt worden sind. Die Gewährung der Steuerentlastung setzt nach § 100 Abs. 1 EnergieStV außerdem voraus, dass sie bei dem für den Antragsteller zuständigen Hauptzollamt mit einer Anmeldung nach amtlich vorgeschriebenem Vordruck für alle Energieerzeugnisse beantragt wird, die innerhalb eines bestimmten Zeitraums (Entlastungsabschnitt) verwendet worden sind. Der Antragsteller hat in der Anmeldung alle für die Bemessung der Steuerentlastung erforderlichen Angaben zu machen und die Steuerentlastung selbst zu berechnen. Die Steuerentlastung wird nur gewährt, wenn der Antrag spätestens bis zum 31.12. des Jahres, das auf das Kalenderjahr folgt, in dem der Steuerentlastungsanspruch entstanden ist, beim Hauptzollamt gestellt wird. Somit hängt die Entlastung von der Energiesteuer von der rechtzeitigen Antragstellung ab.
Im Streitfall sind zwar alle Tatbestandsvoraussetzungen des § 54 EnergieStG erfüllt. Unter anderem handelt es sich bei der Unternehmerin um ein Unternehmen des Produzierenden Gewerbes, das die von den Entlastungsanträgen umfassten Energieerzeugnisse zu betrieblichen Zwecken verheizt hat.
Der Anspruch der Unternehmerin auf Steuerentlastung ist auch nicht infolge des Eintritts der Festsetzungsverjährung erloschen (§ 47 AO).
Nach § 169 Abs. 1 Satz 1 AO sind eine Steuerfestsetzung sowie ihre Aufhebung oder Änderung nicht mehr zulässig, wenn die Festsetzungsfrist abgelaufen ist. Dies gilt entsprechend für die Festsetzung einer Steuervergütung. Die Festsetzungsfrist beträgt für Verbrauchsteuern und Verbrauchsteuervergütungen ein Jahr (§ 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO) und begann im Streitfall nach § 170 Abs. 1 AO mit Ablauf des Jahres 2010, für das die Unternehmerin die Steuervergütungen begehrt und in dem die Vergütungsansprüche durch Verwendung der Energieerzeugnisse entstanden sind. Die abweichende Regelung des § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. Satz 2 AO ist nicht anzuwenden, weil es in das Belieben des Entlastungsberechtigten gestellt ist, ob er die Steuerbegünstigung in Anspruch nehmen will, und er somit zur Abgabe einer Steueranmeldung nicht verpflichtet ist3. Ausgehend von der einjährigen Festsetzungsfrist hätte diese grundsätzlich mit Ablauf des 31.12.2011 geendet. Der Ablauf der Festsetzungsfrist war allerdings nach § 171 Abs. 4 AO gehemmt, weil bereits vor ihrem Ablauf mit der Außenprüfung begonnen worden war und die aufgrund dieser Außenprüfung ergangenen Bescheide noch nicht unanfechtbar geworden waren. Somit war im Zeitpunkt des Eingangs der Anträge auf Steuerentlastung beim Hauptzollamt im Mai 2012 noch keine Festsetzungsverjährung eingetreten.
Diese Festsetzungsfrist dient der Rechtssicherheit und dem Rechtsfrieden. Solche Ausschlussfristen erkennt deshalb auch der EuGH an. Die Möglichkeit, einen Antrag ohne jede zeitliche Beschränkung zu stellen, liefe dem Grundsatz der Rechtssicherheit zuwider, der verlangt, dass die steuerliche Lage des Steuerpflichtigen in Anbetracht seiner Rechte und Pflichten gegenüber der Steuerverwaltung nicht unbegrenzt offenbleiben kann4.
Dennoch wäre der Unternehmerin die beantragte Steuerentlastung zu versagen, weil ihre Anträge nicht innerhalb der Antragsfrist nach § 100 Abs. 1 EnergieStV beim Hauptzollamt eingegangen sind. Denn die Anträge auf Steuerentlastung für die Monate August bis November 2010 sind erst im Mai 2012 beim zuständigen Hauptzollamt eingegangen, also nach Ablauf der bis zum 31.12.2011 laufenden Antragsfrist.
Der vorlegende Bundesfinanzhof stellt sich die Frage, ob die Steuerentlastung nach § 54 Abs. 1 EnergieStG allein deshalb abgelehnt werden darf, weil die Unternehmerin die Antragsfrist versäumt hat, oder ob der unionsrechtliche Verhältnismäßigkeitsgrundsatz es gebietet, die Steuerentlastung dennoch zu gewähren.
Bei der Ausübung ihrer Befugnisse müssen die Mitgliedstaaten die allgemeinen Rechtsgrundsätze beachten, die Bestandteil der Rechtsordnung der Union sind und zu denen insbesondere die Grundsätze der Rechtssicherheit und der Verhältnismäßigkeit zählen5. Nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dürfen Maßnahmen, welche die Mitgliedstaaten erlassen, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und Steuerhinterziehungen zu verhindern, nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieser Ziele erforderlich ist6.
Nach der Rechtsprechung des EuGH7 verstößt es gegen Unionsrecht, wenn die Verletzung nationaler formeller Anforderungen dadurch sanktioniert wird, dass eine Steuerbegünstigung nach der RL 2003/96 verweigert wird. Denn die nationalen Regelungen dürfen nicht über das hinaus gehen, was erforderlich ist, um eine korrekte und einfache Anwendung solcher Befreiungen sicherzustellen und Steuerhinterziehung und -vermeidung oder Missbrauch zu verhindern8.
Der Bundesfinanzhof neigt zu der Auffassung, dass der verspätete Eingang des Antrags bei der zuständigen Behörde nicht zu einem Wegfall dieses Anspruchs auf Entlastung von der Energiesteuer führen kann, solange die Festsetzungsfrist nicht abgelaufen ist.
Der EuGH hat in seiner Entscheidung „Petrotel-Lukoil“9 ausgeführt, dass es gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoße, wenn in Ermangelung eines Antrags auf Einreihung eines verwendeten Energieerzeugnisses der für Gasöl vorgesehene Steuersatz automatisch angewandt und beibehalten werde. Diese Entscheidung ist zu einer obligatorischen Steuerbefreiung ergangen (Art. 21 Abs. 3 RL 2003/96). In seiner Entscheidung wies der EuGH insbesondere darauf hin, dass sowohl die allgemeine Systematik als auch die Ziele der RL 2003/96 auf dem Grundsatz beruhten, dass Energieerzeugnisse nach ihrer tatsächlichen Verwendung besteuert werden. Dagegen kann die Verletzung formeller Anforderungen nicht die Besteuerung der Erzeugnisse nach den in der RL 2003/96 vorgesehenen materiellen Voraussetzungen in Frage stellen.
Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs ist der Antrag auf Entlastung von der Energiesteuer keine materiell-rechtliche, sondern lediglich eine formelle Voraussetzung des Steuerentlastungsanspruchs10. Dies könnte dafür sprechen, dass eine verspätete Antragstellung der Besteuerung eines Energieerzeugnisses nach seiner tatsächlichen Verwendung (im Streitfall Verheizen zu betrieblichen Zwecken) nicht entgegensteht. Allerdings beruht die im Streitfall beantragte Steuerentlastung gemäß § 54 Abs. 1 EnergieStG auf einer fakultativen Steuerbegünstigung, weshalb sich das vorlegende Gericht die Frage stellt, ob die Rechtsprechung des EuGH zu obligatorischen Steuerbefreiungen auch auf diesen Fall Anwendung findet.
Nach Ansicht des Bundesfinanzhofs müssen die Mitgliedstaaten den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auch bei der Umsetzung fakultativer Steuervergünstigungen in nationales Recht beachten, wenn sie sich zu einer solchen Umsetzung entschließen. Anderenfalls läge eine Ungleichbehandlung obligatorischer und fakultativer Steuervergünstigungen vor. Es stellt sich jedoch die Frage, ob unterschiedliche Rechtsgrundlagen im Unionsrecht eine solche Ungleichbehandlung rechtfertigen könnten.
Im Bereich der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28.11.2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem11 hat der EuGH die Einhaltung des unionsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auch für den Fall gefordert, dass ein Mitgliedstaat eine ihm eingeräumte fakultative, begünstigende Regelungsbefugnis in nationales Recht umsetze12. Auch wenn die Mitgliedstaaten hinsichtlich der Wahl der Maßnahmen zur Sicherstellung der genauen Erhebung der Mehrwertsteuer und der Vermeidung von Steuerhinterziehung einen weiten Gestaltungsspielraum hätten, müssten sie bei der Ausübung ihrer Befugnisse das Unionsrecht und dessen allgemeine Grundsätze, insbesondere die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit, der Steuerneutralität und der Rechtssicherheit beachten. Hieraus könnte zu schlussfolgern sein, dass auch im Bereich der RL 2003/96 eine unterschiedliche Behandlung der obligatorischen und der fakultativen Steuerentlastungen im Hinblick auf die Einhaltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nicht in Betracht kommt.
Im Gegensatz dazu hat der Generalanwalt Szpunar in seinen Schlussanträgen vom 12.05.202113 für den Bereich der RL 2003/96 auf die Unterschiede zwischen obligatorischen und fakultativen Stromsteuervergünstigungen hingewiesen. Insbesondere stellt der Generalanwalt klar, dass fakultative Bestimmungen für die Steuerpflichtigen keine Rechte mit unmittelbarer Wirkung begründeten, welche die Steuerpflichtigen vor den nationalen Gerichten geltend machen könnten. Dies könnte darauf hindeuten, dass es bei fakultativen Steuervergünstigungen -abgesehen von allgemeinen Grundsätzen wie dem Grundsatz der Gleichbehandlung oder dem Eigentumsrecht – insbesondere auf die Umsetzung in das nationale Recht ankommt und die Rechtsprechung des EuGH zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht ohne weiteres zu beachten ist.
Bundesfinanzhof, Beschluss vom 8. Juni 2021 – VII R 44/19
- FG Hamburg, Urteil vom 01.02.2019 – 4 K 58/15[↩]
- ABl.EU Nr. L 283/51, in der Fassung nach der Richtlinie 2004/75/EG des Rates vom 29.04.2004 zur Änderung der Richtlinie 2003/96/EG im Hinblick auf die Möglichkeit der Anwendung vorübergehender Steuerermäßigungen und Steuerbefreiungen auf Energieerzeugnisse und elektrischen Strom, ABl.EU Nr. L 157/100 -RL 2003/96-[↩]
- vgl. BFH, Urteil vom 26.09.2017 – VII R 26/16, BFHE 260, 280, m.w.N.[↩]
- EuGH, Urteil Elsacom vom 21.06.2012 – C-294/11, EU:C:2012:382, Rz 29, BStBl II 2012, 942[↩]
- EuGH, Urteile Mecsek-Gabona vom 06.09.2012 – C-273/11, EU:C:2012:547, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung -HFR- 2012, 1121, und ROZ-SWIT vom 02.06.2016 – C-418/14, EU:C:2016:400, Zeitschrift für Zölle und Verbrauchsteuern -ZfZ- 2017, 73[↩]
- vgl. EuGH, Urteil Gabalfrisa u.a. vom 21.03.2000 – C-110/98 bis – C-147/98, EU:C:2000:145, Rz 52, HFR 2000, 456; EuGH, Beschluss Transport Service vom 03.03.2004 – C-395/02, EU:C:2004:118, Rz 29, HFR 2005, 370, und EuGH, Urteil Collee vom 27.09.2007 – C-146/05, EU:C:2007:549, Rz 26, BStBl II 2009, 78[↩]
- vgl. EuGH, Urteil Petrotel-Lukoil vom 07.11.2019 – C-68/18, EU:C:2019:933, ZfZ 2019, 383[↩]
- EuGH, Urteil Polihim-SS vom 02.06.2016 – C-355/14, EU:C:2016:403, Rz 62, ZfZ 2016, 196[↩]
- EU:C:2019:933, ZfZ 2019, 383[↩]
- vgl. etwa BFH, Urteile vom 20.09.2016 – VII R 7/16, BFHE 255, 360; und vom 18.02.2020 – VII R 39/18, BFHE 268, 391, Rz 32, m.w.N.[↩]
- ABl.EU Nr. L 347/1[↩]
- vgl. EuGH, Urteil CTT – Correios de Portugal vom 30.04.2020 – C-661/18, EU:C:2020:335, Rz 34 ff., m.w.N., HFR 2020, 654[↩]
- EuGH, Schlussanträge des Generalanwalts vom 12.05.2021 – C-100/20, EU:C:2021:387[↩]