Der Bundesfinanzhof hat dem Gerichtshof der Europäischen Union Fragen zum Unionsrechtlicher Anspruch auf Erstattung von Produktionsabgaben eines Zuckerherstellers zur Vorabentscheidung vorgelegt:

- Ist Art. 2 VO 1360/2013 dahingehend auszulegen, dass ein Zuckerhersteller seinen Antrag auf Erstattung zu Unrecht erhobener Abgaben bis zum 30.09.2014 hätte stellen müssen?
- Falls die erste Frage zu verneinen ist: Ist die zuständige Behörde in einem Fall wie dem vorliegenden (unionsrechtswidrig, aber bestandskräftig festgesetzte Abgaben, deren Erstattung erst ein Jahr nach rückwirkender Festsetzung eines geringeren Koeffizienten durch die VO 1360/2013 beantragt wurde) berechtigt, die Erstattung zu Unrecht erhobener Produktionsabgaben unter Berufung auf die nationalen Vorschriften über die Bestandskraft und auf die für Abgabenbescheide nach den nationalen Vorschriften geltende Festsetzungsfrist sowie auf den unionsrechtlichen Grundsatz der Rechtssicherheit abzulehnen?
Dem zugrunde lag ein Fall aus dem Rheinland: Das Hauptzollamt setzte gegen die Zuckerproduzentin auf der Grundlage der Verordnung (EG) Nr. 1837/2002 der Kommission vom 15.10.2002 zur Festsetzung der Produktionsabgaben sowie des Koeffizienten der Ergänzungsabgabe im Zuckersektor für das Wirtschaftsjahr 2001/021 für das Wirtschaftsjahr 2001/2002 unter dem Vorbehalt der Nachprüfung eine Produktionsabgabe für A- und B-Zucker, eine Produktionsabgabe für B-Zucker und eine Ergänzungsabgabe fest. Eine von der Zuckerproduzentin beantragte Änderung der Festsetzung der Produktionsabgaben lehnte das Hauptzollamt ab. Am 18.12.2014 beantragte die Zuckerproduzentin beim Hauptzollamt erneut, die Festsetzung der Produktionsabgaben für das Wirtschaftsjahr 2001/2002 zu ändern und ihr eine Produktionsabgabe ebst 0, 5 % Zinsen pro Monat seit dem Zeitpunkt der Zahlung der Abgabe zu erstatten. Zur Begründung verwies sie auf die Verordnung (EU) Nr. 1360/2013 des Rates vom 02.12.2013 zur Festsetzung der Produktionsabgaben im Zuckersektor für die Wirtschaftsjahre 2001/2002, 2002/2003, 2003/2004, 2004/2005 und 2005/2006, des Koeffizienten für die Berechnung der Ergänzungsabgabe für die Wirtschaftsjahre 2001/2002 und 2004/2005 und der Beträge, die die Zuckerhersteller den Zuckerrübenverkäufern für die Differenz zwischen dem Höchstbetrag der Abgaben und dem Betrag dieser für die Wirtschaftsjahre 2002/2003, 2003/2004 und 2005/2006 zu erhebenden Abgaben zu zahlen haben2. Diesen Antrag lehnte das Hauptzollamt mit Bescheid vom 28.01.2016 unter Hinweis auf die Bestandskraft des Bescheids über die Festsetzung der Produktionsabgaben vom 25.11.2002 ab. Das Einspruchsverfahren blieb erfolglos.
Das Finanzgericht Düsseldorf urteilte, die Zuckerproduzentin habe keinen Anspruch auf Erstattung der Produktionsabgaben, weil die bestandskräftige Festsetzung der Abgaben mit Bescheid vom 25.11.2002 einer Erstattung entgegenstehe3. Die rückwirkende Festsetzung eines geringeren Koeffizienten durch die VO 1360/2013 habe keine unmittelbaren Auswirkungen auf einen ergangenen Abgabenbescheid. Denn die VO 1360/2013 enthalte keine Vorschriften für die Änderung ergangener Abgabenbescheide, diese richte sich vielmehr nach einzelstaatlichem Recht. Dass die einzelstaatlich geregelte Bestandskraft eines Abgabenbescheids einem Erstattungsanspruch entgegenstehe, stelle keinen Verstoß gegen den unionsrechtlichen Effektivitätsgrundsatz dar, weil die Zuckerproduzentin nach einzelstaatlichem Recht die Möglichkeit gehabt hätte, einen Rechtsbehelf gegen den Abgabenbescheid und den ersten ablehnenden Bescheid einzulegen. Die Zuckerproduzentin könne auch keine Änderung der Abgabenfestsetzung auf der Grundlage von Vorschriften der Abgabenordnung erreichen, weil der Vorbehalt der Nachprüfung mit dem Ablauf der Festsetzungsfrist entfallen sei. Da die Zuckerproduzentin keine Erstattung von Produktionsabgaben beanspruchen könne, bedürfe es keiner Entscheidung über die von ihr begehrten Zinsen. Gegen dieses Urteil wendet sich die Zuckerproduzentin mit ihrer Revision und weist auf das „Cargill Deutschland“, Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 19.12.2019 4 hin, in dem der Unionsgerichtshof den unionsrechtlichen Anspruch der Zuckerhersteller auf Erstattung der zu Unrecht gezahlten Produktionsabgaben bestätigt habe. Der Grundsatz der Effektivität erlaube es dem Hauptzollamt nicht, sich auf nationale Verjährungsfristen und auf die Bestandskraft des Bescheids vom 25.11.2002 zu berufen, weil erst anhand der VO 1360/2013 der Teil der zu Unrecht festgesetzten Produktionsabgaben habe bestimmt werden können. Das Hauptzollamt verkenne ferner den Wortlaut, den Inhalt und den Zweck des Art. 2 VO 1360/2013 i.V.m. Art. 2 Abs. 2 Unterabs. 2 Verordnung (EG, Euratom) Nr. 1150/2000 des Rates vom 22.05.2000 zur Durchführung des Beschlusses 94/728/EG, Euratom über das System der Eigenmittel der Gemeinschaften -VO 1150/2000-5, bei denen es ausschließlich um die Rechtsbeziehungen zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten bei der Feststellung von Eigenmitteln, also um verwaltungsinterne Vorgänge, gehe. Weder aus Art. 2 VO 1360/2013 noch aus den Erwägungsgründen dazu ergebe sich eine zeitliche Beschränkung für die Erstattung von Produktionsabgaben. In seiner Entscheidung „Cargill Deutschland“6 habe sich der EuGH nicht zu der Frage geäußert, innerhalb welcher Frist Erstattungsanträge gestellt werden müssten. Die Vorschriften der AO seien unter Berücksichtigung der Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität anzuwenden. Sie, die Zuckerproduzentin, habe ihr Recht auf Erstattung erst am 20.12.2013 ausüben können und sei deshalb nicht verpflichtet gewesen, gegen den Festsetzungsbescheid für das Wirtschaftsjahr 2001/2002 Einspruch einzulegen. Der Erstattungsanspruch gemäß § 37 Abs. 2 AO dürfe daher nicht von einer Aufhebung oder Änderung des ursprünglichen Bescheids vom 25.11.2002 abhängig gemacht werden. Der Bundesfinanzhof setzt das bei ihm anhängige Revisionsverfahren aus (§ 121 Satz 1 i.V.m. § 74 FGO) und legt dem EuGH die beiden Vorlagefragen gemäß Art. 267 AEUV zur Vorabentscheidung vor:
Nach Auffassung des Bundesfinanzhofs ist für die Lösung des Streitfalls zunächst entscheidend, ob die in Art. 2 VO 1360/2013 genannte Frist eine Antragsfrist darstellt, innerhalb derer ein Zuckerhersteller, der die Erstattung zu Unrecht festgesetzter Produktionsabgaben begehrt, seinen Antrag auf Erstattung bei der zuständigen Behörde hätte stellen müssen. Handelt es sich bei dieser Frist nicht um eine zwingend einzuhaltende Antragsfrist, ist zudem unklar, wie lange eine Erstattung der Produktionsabgaben beantragt werden kann und ob nationale Vorschriften über die Bestandskraft von Abgabenbescheiden und über die Festsetzungsfrist sowie der in der Rechtsprechung des EuGH anerkannte Grundsatz der Rechtssicherheit einer Erstattung entgegenstehen können. Bei der Auslegung des Art. 2 VO 1360/2013 und hinsichtlich des Verhältnisses des Grundsatzes der Rechtssicherheit zu der EuGH, Entscheidung „Cargill Deutschland“6 hat der Bundesfinanzhof Zweifel:
Bei der Auslegung des Art. 2 VO 1360/2013 und des Verhältnisses der EuGH, Entscheidung „Cargill Deutschland“6 zu dem Grundsatz der Rechtssicherheit und der dazu ergangenen EuGH-Rechtsprechung bestehen Zweifel.
Mit der VO 1837/2002 wurden die Produktionsabgaben im Zuckersektor (Art. 1) und der in Art. 16 Abs. 2 der VO 1260/2001 vorgesehene Koeffizient (Art. 2) für das Wirtschaftsjahr 2001/2002 festgesetzt. Der Koeffizient betrug demnach 0, 08319.
Während die Produktionsabgaben im Zuckersektor für das Wirtschaftsjahr 2001/2002 unverändert blieben, wurde der Koeffizient mit der VO 1360/2013 geändert und für das Wirtschaftsjahr 2001/2002 mit Wirkung vom 16.10.2002 auf 0,01839 herabgesetzt (vgl. Nr. 2 des Anhangs der VO 1360/2013). Anlass zu dieser nachträglichen Änderung gaben mehrere Entscheidungen des Unionsgerichtshofs aus den Jahren 2008, 2011 und 20127 sowie des Gerichts der Europäischen Unoin „Polen/Kommission“ vom 29.09.20118.
Aus den Erwägungsgründen 12 und 13 der VO 1360/2013 ergibt sich weiter, dass die Berichtigungen als erforderlich angesehen wurden, weil -entgegen der Annahme des EuGH in der Rechtssache Zuckerfabrik Jülich und andere EU:C:2008:260, Randziffer (Rz) 66, ZfZ 2008, 187- dieselbe Methode, die der EuGH für ungültig erklärt hatte, zur Berechnung der Abgaben für das Wirtschaftsjahr 2001/2002 verwendet worden war und die berichtigten Abgaben ab denselben Zeitpunkten gelten sollten wie die für ungültig erklärten Abgaben. Ferner ist dem Erwägungsgrund 23 der VO 1360/2013 zu entnehmen, dass aus Gründen der Rechtssicherheit und zur Gewährleistung der Gleichbehandlung der betreffenden Marktteilnehmer in den Mitgliedstaaten ein gemeinsamer Zeitpunkt festgelegt werden sollte, zu dem die gemäß der VO 1360/2013 festgesetzten Abgaben festzustellen waren.
Aufgrund der nachträglichen und rückwirkenden Änderung des Koeffizienten für die Berechnung der Ergänzungsabgabe hat die Zuckerproduzentin im Streitfall -ex post betrachtet- für das Wirtschaftsjahr 2001/2002 eine zu hohe Ergänzungsabgabe im Sinne von Art. 16 Abs. 2 VO 1260/2001 und Art. 1 Abs. 2 VO 1360/2013 gezahlt.
Wie genau die rückwirkende Änderung des Koeffizienten für die Berechnung der Ergänzungsabgabe verfahrensrechtlich umgesetzt werden soll, ist unionsrechtlich nicht geregelt. Insbesondere ergibt sich aus der VO 1360/2013 kein Anspruch auf Änderung von Abgabenbescheiden, die aufgrund der VO 1837/2002 erlassen wurden.
Die Voraussetzungen für eine Änderung von Abgabenbescheiden und die Durchführung der Erstattung richten sich vielmehr nach nationalem Recht.
Gemäß Art. 2 Abs. 1 Buchst. a des Beschlusses 2000/597/EG, Euratom, stellen Abgaben, die im Rahmen der gemeinsamen Marktorganisation für Zucker vorgesehen sind, in den Haushaltsplan der Europäischen Union einzusetzende Eigenmittel dar. Nach Art. 8 Abs. 1 des Beschlusses 2000/597/EG, Euratom, werden die Eigenmittel der Gemeinschaften gemäß Art. 2 Abs. 1 Buchst. a und b von den Mitgliedstaaten nach den innerstaatlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften erhoben, die gegebenenfalls den Erfordernissen der Gemeinschaftsregelung anzupassen sind. Entsprechende Regelungen enthält der Beschluss des Rates vom 07.06.2007 über das System der Eigenmittel der Europäischen Gemeinschaften, 2007/436/EG, Euratom9, mit dem der Beschluss 2000/597/EG, Euratom, bis auf wenige Ausnahmeregelungen mit Wirkung vom 01.01.2007 aufgehoben wurde (vgl. Art. 10 Abs. 1).
Dementsprechend hat der EuGH entschieden, dass Streitigkeiten über die Erstattung von für Rechnung der Union erhobener Beträge in die Zuständigkeit der innerstaatlichen Gerichte fallen und von diesen nach ihrem innerstaatlichen formellen und materiellen Recht zu entscheiden sind, soweit das Unionsrecht auf dem betreffenden Gebiet nichts anderes bestimmt10.
Weiterhin hat der EuGH klargestellt, dass die Durchführung der Erstattung von Abgaben in der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten liegt. Danach ist es Sache der nationalen Stellen und insbesondere der nationalen Gerichte, in Fällen der Erstattung von Abgaben, die auf der Grundlage von für ungültig erklärten Unionsverordnungen zu Unrecht erhoben wurden, alle mit dieser Erstattung zusammenhängenden Nebenfragen wie etwa die der Zahlung von Zinsen gemäß ihren innerstaatlichen Vorschriften über den Zinssatz und den Zeitpunkt, von dem an die Zinsen zu berechnen sind, zu regeln, wenn einschlägige unionsrechtliche Vorschriften fehlen11.
Nach ständiger EuGH-Rechtsprechung dürfen die Mitgliedstaaten in Ermangelung harmonisierter Vorschriften über die Rückerstattung von unionsrechtswidrig erhobenen Abgaben weiterhin die Verfahrensvorschriften ihres innerstaatlichen Rechts, unter anderem über die Verjährungs- oder Ausschlussfristen, anwenden, sofern sie dabei die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität einhalten12.
Dies entspricht auch der Auffassung der Europäischen Kommission. In der Anlage zu dem Interinstitutionellen Dossier 2013/0252 (NLE) des Rates der Europäischen Union vom 19.11.2013 hat die Europäische Kommission erklärt, dass die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen die Entscheidung der einzelstaatlichen Behörden über die Erhebung der Zuckerabgabe in einem bestimmten Fall endgültig ist oder auf der Grundlage der in der neuen Ratsverordnung enthaltenen Abgabenbeträge überprüft werden muss, nach Maßgabe des anzuwendenden einzelstaatlichen Rechts zu klären ist.
In der Bundesrepublik Deutschland ergeben sich die verfahrensrechtlichen Vorschriften zur Umsetzung der VO 1837/2002 und der VO 1360/2013 aus dem MOG und der AO.
Gemäß § 12 Abs. 1 Satz 1 MOG sind auf Abgaben zu Marktordnungszwecken, die nach Regelungen im Sinne des § 1 Abs. 2 hinsichtlich Marktordnungswaren erhoben werden, grundsätzlich die Vorschriften der AO entsprechend anzuwenden, sofern nicht durch das MOG oder durch Rechtsverordnung auf Grund dieses Gesetzes eine von diesen Vorschriften abweichende Regelung getroffen ist.
In Anwendung der nach deutschem Recht zu beachtenden Verfahrensvorschriften hätte die Zuckerproduzentin keinen Anspruch auf die beantragte Änderung der Festsetzung der Produktionsabgaben und auf Erstattung von für das Wirtschaftsjahr 2001/2002 eventuell zu Unrecht gezahlter Produktionsabgaben gemäß § 12 MOG i.V.m. § 37 Abs. 2 AO.
Gegen den Bescheid vom 25.11.2002, mit dem das Hauptzollamt gegenüber der Zuckerproduzentin Produktionsabgaben sowie eine Ergänzungsabgabe festgesetzt hatte, hat die Zuckerproduzentin keinen Rechtsbehelf, d.h. keinen Einspruch nach § 347 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO eingelegt. Aufgrund dessen wurde der Abgabenbescheid bestandskräftig.
Eine nachträgliche Änderung des Abgabenbescheids vom 25.11.2002 ist nach deutschem Recht nicht mehr möglich. Gemäß § 169 Abs. 1 Satz 1 AO kann eine Steuerfestsetzung nur solange geändert werden, wie die Festsetzungsfrist nicht abgelaufen ist. Die Festsetzungsfrist für die Produktionsabgaben für das Zuckerwirtschaftsjahr 2001/2002 begann gemäß § 12 Abs. 1 Satz 1 MOG i.V.m. § 170 Abs. 1 AO mit Ablauf des 31.12.2002 und endete im Februar 2010, nachdem der Antrag der Zuckerproduzentin auf Änderung der Abgabenfestsetzung unanfechtbar abgelehnt worden war. Obwohl also im Streitfall der Ablauf der regulären vierjährigen Festsetzungsfrist gemäß § 171 Abs. 3 AO zunächst gehemmt war, war bereits vor dem Erlass der VO 1360/2013 die Festsetzungsfrist abgelaufen und eine Änderung des Abgabenbescheids vom 25.11.2002 somit nicht mehr zulässig. Eine Erstattung von Produktionsabgaben ohne eine Änderung der bestandskräftigen Verwaltungsentscheidung, mit der die Produktionsabgaben festgesetzt worden waren, ist im deutschen Recht nicht vorgesehen.
Eine Erstattung der zu Unrecht erhobenen Produktionsabgaben hält das vorlegende Gericht daher nur für möglich, wenn sich unmittelbar aus dem Unionsrecht ein Erstattungsanspruch ergibt und diesem weder die in Art. 2 VO 1360/2013 genannte Frist noch die nach nationalem Recht eingetretene Festsetzungsverjährung oder der unionsrechtliche Grundsatz der Rechtssicherheit entgegenstehen.
Der in Art. 2 Abs. 2 Unterabs. 2 VO 1150/2000 genannte Zeitpunkt der Feststellung der Abgaben gemäß der vorliegenden Verordnung 1360/2013 ist spätestens der 30.09.2014, außer wenn die Mitgliedstaaten diese Frist aufgrund der Anwendung nationaler Rechtsvorschriften über die Rückforderung gezahlter, jedoch nicht geschuldeter Beträge an die Wirtschaftsteilnehmer nicht einhalten können.
Für die Entscheidung des Streitfalles kommt es darauf an, ob der 30.09.2014 einen Zeitpunkt darstellt, bis zu dem der Antrag auf Erstattung zu Unrecht gezahlter Produktionsabgaben bei der zuständigen Behörde spätestens hätte eingegangen sein müssen, und ob der Anspruch auf Erstattung erlischt, wenn die zuständige Behörde den Antrag nicht bis zu diesem Zeitpunkt erhalten hat. Wäre die in Art. 2 VO 1360/2013 genannte Frist eine zwingend einzuhaltende Antragsfrist, hätte die Zuckerproduzentin im Ausgangsverfahren schon aus diesem Grund keinen Anspruch auf Erstattung zu Unrecht gezahlter Produktionsabgaben, weil sie deren Erstattung erst im Dezember 2014 beantragt hat. Die in Art. 2 VO 1360/2013 geregelte und auch in Erwägungsgrund 23 VO 1360/2013 angesprochene Ausnahme liegt nicht vor, weil eine Erstattung nach nationalen Rechtsvorschriften -wie oben bereits dargelegt- nicht mehr möglich ist.
Das vorlegende Gericht neigt jedoch zu der Auffassung, dass Art. 2 VO 1360/2013 eine Frist regelt, die die Mitgliedstaaten gegenüber der Europäischen Kommission einzuhalten haben und die nicht auch für die Zuckerhersteller und etwaige Erstattungsansprüche gilt. Denn Art. 2 Abs. 2 Unterabs. 2 VO 1150/2000 regelt den Zeitpunkt, bis zu dem der Anspruch der Gemeinschaften auf die Eigenmittel festgestellt bzw. buchmäßig erfasst im Sinne der Zollvorschriften sein muss. Dadurch wird sichergestellt, dass die Eigenmittel der Europäischen Kommission fristgerecht zur Verfügung gestellt werden (vgl. Art. 1 VO 1150/2000). Dieser Vorgang betrifft somit nur das Verhältnis der Mitgliedstaaten zur Europäischen Union. Im Übrigen spricht gegen die Annahme einer die jeweiligen Zuckerhersteller betreffenden Antragsfrist auch die Tatsache, dass Art. 2 VO 1360/2013 eine Abweichung von der bis zum 30.09.2014 laufenden Frist zulässt, wenn die Mitgliedstaaten diese Frist aufgrund der Anwendung nationaler Rechtsvorschriften über die Rückforderung gezahlter, jedoch nicht geschuldeter Beträge an die Wirtschaftsteilnehmer nicht einhalten können.
Sofern es sich bei der in Art. 2 VO 1360/2013 genannten Frist nicht um eine für den Zuckerhersteller geltende und somit bindende Antragsfrist handelt, stellt sich für das vorlegende Gericht die Frage, ob der vom EuGH anerkannte Grundsatz der Rechtssicherheit einem unionsrechtlichen Erstattungsanspruch, wie der EuGH ihn in seiner Entscheidung „Cargill Deutschland“6 bejaht hat, entgegensteht.
Das vorlegende Gericht neigt der Auffassung zu, dass sich ein Erstattungsanspruch nicht allein aus der VO 1360/2013 ergibt.
Zwar gilt die Änderung des zur Berechnung der Ergänzungsabgabe erforderlichen Koeffizienten für das Wirtschaftsjahr 2001/2002 (Art. 1 Abs. 2 VO 1360/2013) mit Wirkung vom 16.10.2002 (Art. 3 VO 1360/2013) und wegen Art. 288 Unterabs. 2 AEUV verbindlich und unmittelbar in jedem Mitgliedstaat. Daraus lässt sich jedoch nicht eindeutig ein unionsrechtlicher Anspruch auf eine Änderung der Abgabenfestsetzung und auf Erstattung zu Unrecht gezahlter Beträge ableiten. Insbesondere ergibt sich daraus nicht, in welchen Fällen und unter welchen verfahrensrechtlichen Voraussetzungen eine rückwirkende Korrektur durchzuführen wäre. Auch die Erwägungsgründe 12 bis 14 deuten nicht darauf hin, dass in der VO 1360/2013 ein unionsrechtlicher Erstattungsanspruch geregelt werden sollte, weil dort nur der Hintergrund für den Erlass der VO 1360/2013 dargelegt wird.
Dass eine rückwirkende Änderung des Koeffizienten nicht automatisch einen Erstattungsanspruch beinhaltet, lässt sich ferner aus der Verordnung (EU) 2018/264 des Rates vom 19.02.2018 zur Festsetzung der Produktionsabgaben sowie des Berechnungskoeffizienten für die Ergänzungsabgabe im Zuckersektor für das Wirtschaftsjahr 1999/2000 und zur Festsetzung der Produktionsabgaben im Zuckersektor für das Wirtschaftsjahr 2000/2001 -VO 2018/264-13 schließen. Denn in diesem Fall hat der Verordnungsgeber einen Erstattungsanspruch ausdrücklich geregelt (vgl. Art. 2 Abs. 2 VO 2018/264), was entbehrlich gewesen wäre, wenn sich ein solcher Anspruch bereits aus der Änderung des Koeffizienten ergäbe.
Ein Anspruch auf Erstattung zu Unrecht gezahlter Produktionsabgaben ergibt sich jedoch aus den uniotären Rechten des Einzelnen und den vom EuGH dazu aufgestellten Grundsätzen. Wie der EuGH mit seinem Urteil „Cargill Deutschland“14 entschieden hat, erfordert die praktische Wirksamkeit der Verordnung 1360/2013, dass die betreffenden Zuckerhersteller die mehrere Jahre vor dem Erlass dieser Verordnung zu Unrecht gezahlten Produktionsabgaben erstattet bekommen können. Daraus folgt, dass sich die Ansprüche der Zuckerhersteller auf Erstattung der zu Unrecht gezahlten Abgaben unmittelbar aus dem Unionsrecht ableiten lassen. Denn das Recht auf Erstattung von Abgaben, die ein Mitgliedstaat unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhoben hat, stellt eine Folge und eine Ergänzung der Rechte dar, die den Einzelnen aus dem Unionsrecht in seiner Auslegung durch den EuGH erwachsen. Nach der Rechtsprechung des EuGH soll also erreicht werden, dass der Zuckerhersteller im Ergebnis (nur) mit der richtigen Abgabenhöhe belastet wird, selbst wenn der Verwaltung im Zeitpunkt der Abgabenfestsetzung kein Fehler unterlaufen ist, weil sie die in diesem Zeitpunkt gültige Verordnung -vorliegend die VO 1837/2002- angewandt hat.
Weiterhin weist der EuGH darauf hin, dass sich das Verfahren und die Modalitäten der Erstattung nach nationalem Recht richten, wenn das Unionsrecht diesbezüglich keine Vorgaben macht. Allerdings ist die Anwendung von mitgliedstaatlichem Verfahrensrecht, zu dem auch Verjährungs- oder Ausschlussfristen gehören, durch die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität beschränkt. Demnach darf es dem Zuckerhersteller nicht praktisch unmöglich sein, einen Erstattungsantrag zu stellen. Dies ist jedoch dann der Fall, wenn die im deutschen Recht geregelte Bestandskraft eines Abgabenbescheids einem auf die VO 1360/2013 gestützten Erstattungsantrag entgegensteht, sofern bei Antragstellung die nach nationalem Recht geltende Verjährungsfrist abgelaufen ist15.
Daraus schließt das vorlegende Gericht, dass im vorliegenden Streitfall der Eintritt der Festsetzungsverjährung der Geltendmachung des Erstattungsanspruchs durch die Zuckerproduzentin nicht entgegenstehen darf. Denn die Zuckerproduzentin und auch das Hauptzollamt konnten erst mit Inkrafttreten der VO 1360/2013 wissen, wie sich der Koeffizient verändern und wie hoch der Erstattungsanspruch sein würde. Im Jahr 2013 war jedoch bereits Festsetzungsverjährung nach deutschem Recht eingetreten, so dass eine Änderung des Bescheids vom 25.11.2002, mit dem die Produktionsabgaben für das Zuckerwirtschaftsjahr 2001/2002 festgesetzt worden waren, nicht mehr zulässig war. Somit wäre es der Zuckerproduzentin im Ausgangsverfahren bei Beachtung der nationalen Festsetzungsfrist praktisch unmöglich gewesen, die Ergänzungsabgabe in der zu Unrecht erhobenen Höhe erstattet zu bekommen.
In diesem Zusammenhang geht der Bundesfinanzhof davon aus, dass es der Zuckerproduzentin nicht vorgeworfen werden kann, dass sie gegen den Abgabenbescheid vom 25.11.2002 keinen Einspruch eingelegt hat und dieser somit bestandskräftig geworden ist. Denn die Zuckerproduzentin konnte zum damaligen Zeitpunkt nicht absehen, dass im Jahr 2013 eine Änderungsverordnung erlassen und der Koeffizient zur Berechnung der Ergänzungsabgabe zu ihren Gunsten geändert werden würde.
Das vorlegende Gericht hat jedoch Zweifel, ob und gegebenenfalls wie ein unionsrechtlicher Erstattungsanspruch nach den Vorgaben durch den EuGH in der Entscheidung „Cargill Deutschland“6 mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit und der dazu ergangenen EuGH-Rechtsprechung zu vereinbaren ist, wenn dieser Anspruch noch Jahre nach Ablauf der in den nationalen Vorschriften festgelegten Verjährungsfristen geltend gemacht werden kann.
Nach der Rechtsprechung des EuGH gehört die Rechtssicherheit zu den im Unionsrecht anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen. Die Bestandskraft einer Verwaltungsentscheidung, die nach Ablauf angemessener Klagefristen oder Erschöpfung des Rechtswegs eingetreten ist, trägt zur Rechtssicherheit bei. Daher verlangt das Unionsrecht grundsätzlich nicht, dass eine Verwaltungsbehörde eine bestandskräftige Verwaltungsentscheidung zurücknehmen muss16.
Davon ausgehend kam der EuGH zu dem Ergebnis, dass eine Verwaltungsbehörde nur dann auf einen entsprechenden Antrag hin verpflichtet ist, eine bestandskräftige Verwaltungsentscheidung zu überprüfen, um der mittlerweile vom EuGH vorgenommenen Auslegung der einschlägigen Bestimmung Rechnung zu tragen, wenn die Behörde nach nationalem Recht befugt ist, diese Entscheidung zurückzunehmen, wenn die Entscheidung infolge eines Urteils eines in letzter Instanz entscheidenden nationalen Gerichts bestandskräftig geworden ist, wenn das Urteil, wie eine nach seinem Erlass ergangene Entscheidung des EuGH zeigt, auf einer unrichtigen Auslegung des Unionsrechts beruht, die erfolgt ist, ohne dass der EuGH um Vorabentscheidung ersucht wurde, obwohl der Tatbestand des Art. 267 Abs. 3 AEUV erfüllt war, und wenn sich der Betroffene, unmittelbar nachdem er Kenntnis von der besagten Entscheidung des EuGH erlangt hat, an die Verwaltungsbehörde gewandt hat. Die Änderung einer bereits erfolgten Festsetzung von Abgaben setzt demnach unter anderem voraus, dass eine Änderung nach nationalem Recht noch möglich ist17.
Entgegen diesen Grundsätzen hat der EuGH in seiner Entscheidung „Cargill Deutschland“6 allerdings einen Erstattungsanspruch bejaht, obwohl die zugrunde liegende Verwaltungsentscheidung bestandskräftig und die Verjährungsfrist für die Rückforderung der zu Unrecht gezahlten Abgaben bereits abgelaufen war18. Auch wenn damit die rückwirkende Änderung der Produktionsabgaben und des Koeffizienten nach der VO 1360/2013 umgesetzt werden soll, sieht das vorlegende Gericht einen Widerspruch zur Rechtsprechung des EuGH betreffend den im Unionsrecht anerkannten Grundsatz der Rechtssicherheit. Im Übrigen hat der EuGH auch die Festlegung angemessener Klagefristen ausdrücklich anerkannt und im Einklang mit dem Erfordernis der Effektivität gesehen19.
Die Abgrenzung zwischen dem Effektivitätsgrundsatz und dem Grundsatz der Rechtssicherheit ist für das Ausgangsverfahren von entscheidender Bedeutung, weil die Änderung des Koeffizienten für die Berechnung der Ergänzungsabgabe durch die VO 1360/2013 rund elf Jahre nach dem Ende des Wirtschaftsjahres 2001/2002 erfolgte und die Festsetzung der Produktionsabgaben -wie dargelegt- zu diesem Zeitpunkt bereits bestandskräftig war.
Im Übrigen stellt sich im Streitfall die Frage, ob sich die Zuckerproduzentin rechtzeitig an das Hauptzollamt gewandt und die Erstattung der Produktionsabgaben beantragt hat. Denn wenn es sich bei der in Art. 2 VO 1360/2013 genannten Frist nicht um eine für den Zuckerhersteller geltende Antragsfrist handelt, ist zweifelhaft, wie lange von einer rechtzeitigen Antragstellung ausgegangen werden kann. Das vorlegende Gericht bittet den EuGH auch diesbezüglich um eine Konkretisierung seiner Rechtsprechung.
Bundesfinanzhof, Beschluss vom 1. Juni 2022 – VII R 48/20
- ABl.EG 2002, Nr. L 278, 13[↩]
- ABl.EU 2013, Nr. L 343, 2[↩]
- FG Düsseldorf, Urteil vom 20.10.2017 – 4 K 1955/16 VZr[↩]
- EuGH, Urteil „Cargill Deutschland“ vom 19.12.2019 – C-360/18, EU:C:2019:1124, ZfZ 2020, 51[↩]
- ABl.EG 2000, Nr. L 130, 1[↩]
- EU:C:2019:1124, ZfZ 2020, 51[↩][↩][↩][↩][↩][↩]
- EuGH, Entscheidungen in den Rechtssachen „Zuckerfabrik Jülich und andere“ vom 08.05.2008 – C-5/06, – C-23/06 bis – C-36/06, EU:C:2008:260, ZfZ 2008, 187; „SAFBA und andere“ vom 06.10.2008 – C-175/07 bis – C-184/07, EU:C:2008:543; „Société Roquette Frères SA“ vom 06.10.2008 – C-466/06, EU:C:2008:542; „Raffinerie Tirlemontoise“ vom 06.10.2008 – C-200/06, EU:C:2008:541; und „Zuckerfabrik Jülich und andere“ vom 27.09.2012 – C-113/10, – C-147/10, – C-234/10, EU:C:2012:591, ZfZ 2013, 76[↩]
- EuGH, Urteil „Polen/Kommission“ vom 29.09.2011 – T-4/06, EU:T:2011:546[↩]
- ABl.EU 2007, Nr. L 163, 17[↩]
- EuGH, Urteil Zuckerfabrik Jülich und andere, EU:C:2012:591, Rz 58, mit weiteren Nachweisen -m.w.N.-, ZfZ 2013, 76[↩]
- vgl. EuGH, Urteil Zuckerfabrik Jülich und andere, EU:C:2012:591, Rz 60, m.w.N., ZfZ 2013, 76[↩]
- EuGH, Urteil „Cargill Deutschland“, EU:C:2019:1124, Rz 46, ZfZ 2020, 51[↩]
- ABl.EU 2018, Nr. L 51, 1[↩]
- EU:C:2019:1124, Rz 37 ff., ZfZ 2020, 51[↩]
- vgl. EuGH, Urteil „Cargill Deutschland“, EU:C:2019:1124, Rz 45 ff. und 51 ff.[↩]
- EuGH, Urteile Glencore Agriculture Hungary vom 16.10.2019 – C-189/18, EU:C:2019:861, Rz 45, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung -HFR- 2019, 1105; Incyte vom 20.12.2017 – C-492/16, EU:C:2017:995, Rz 46; Kühne & Heitz vom 13.01.2004 – C-453/00, EU:C:2004:17, Rz 24, ZfZ 2004, 158[↩]
- vgl. EuGH, Urteile Incyte, EU:C:2017:995, Rz 47, und Kühne & Heitz, EU:C:2004:17, Rz 28, ZfZ 2004, 158; vgl. auch EuGH, Urteil BP Soupergaz/Griechischer Staat vom 06.07.1995 – C-62/93, EU:C:1995:223, Rz 42, HFR 1995, 606, wonach lediglich gefordert wird, dass die Modalitäten für eine Rückzahlung unionsrechtswidrig festgesetzter Abgaben nicht ungünstiger sein dürfen, als für gleichartige Klagen, die das innerstaatliche Recht betreffen, und nicht so ausgestaltet sein dürfen, dass sie die Ausübung der Rechte, die die Gemeinschaftsrechtsordnung einräumt, praktisch unmöglich machen[↩]
- EU:C:2019:1124, Rz 21 f. und 53, ZfZ 2020, 51[↩]
- vgl. EuGH, Urteil „Cargill Deutschland“, EU:C:2019:1124, Rz 52, ZfZ 2020, 51[↩]
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