Ist der Kläger vor dem Finanzgericht nicht rechtskundig vertreten, verliert er bei (verzichtbaren) Verfahrensmängeln (hier: Verletzung des rechtlichen Gehörs) sein Rügerecht nicht durch rügelose Verhandlung zur Sache.

Zwar geht ein solches Rügerecht gemäß § 295 Abs. 1 ZPO i.V.m. § 155 Satz 1 FGO verloren, wenn die Verletzung einer verzichtbaren Verfahrensvorschrift im Raume steht. Das Rügerecht geht nicht nur durch eine ausdrückliche oder konkludente Verzichtserklärung verloren, sondern auch durch das bloße Unterlassen einer rechtzeitigen Rüge. Ein Verzichtswille ist dafür nicht erforderlich. Diese Folge wird vom Bundesfinanzhof allerdings nur für den Fall angenommen, dass der Kläger -anders als im Streitfall- rechtskundig vertreten ist1.
Im Streitfall war die Klägerin nicht rechtskundig vertreten, sodass -trotz unterlassener Rüge- kein Rügeverlust eingetreten ist. Zu diesem Ergebnis gelänge man auch unter Anwendung der vermittelnden Auffassung, wonach das Rügerecht bei einem nicht vertretenen Beteiligten nur dann verloren gehen soll, wenn der betreffende Verfahrensverstoß bei einer Parallelwertung in der Laiensphäre erkennbar war; in den konkret entschiedenen Fällen hat der Bundesfinanzhof jeweils die Erkennbarkeit für einen Laien bejaht2. Denn dass in der eingeschränkten Sichtbarkeit eines Beteiligten im Rahmen einer Videoverhandlung ein Verfahrensmangel liegen könnte, ist für einen Laien nicht ohne weiteres erkennbar.
Bundesfinanzhof, Beschluss vom 18. August 2023 – IX B 104/22
- vgl. BFH, Beschluss vom 29.10.2004 – XI B 213/02, BFH/NV 2005, 566 und BFH, Beschluss vom 27.09.2007 – IX B 19/07, BFH/NV 2008, 27; ausdrücklich BFH, Beschluss vom 25.05.2011 – VI B 3/11, Rz 7; Gräber/Ratschow, Finanzgerichtsordnung, 9. Aufl., § 115 Rz 295; Werth in Gosch, FGO § 115 Rz 150 und 180[↩]
- vgl. BFH, Beschluss vom 01.12.2011 – I B 80/11, Rz 7[↩]