Das rechtliche Gehör ist verletzt, wenn ein Beteiligter zwar grundsätzlich ordnungsgemäß geladen worden ist, die Ladung jedoch mit einer rechtswidrigen Fesselungsanordnung verbunden wurde, und das Gericht, nachdem sich der Beteiligte geweigert hat, unter diesen Bedingungen an der mündlichen Verhandlung teilzunehmen, in dessen Abwesenheit entscheidet.

Die Pflicht des Gerichts zur Gewährung rechtlichen Gehörs erfordert es, den Verfahrensbeteiligten Gelegenheit zu geben, sich zu entscheidungserheblichen Tatsachen und Beweisergebnissen zu äußern und ihre für wesentlich gehaltenen Rechtsansichten vorzutragen. Daran fehlt es, wenn ein Beteiligter zu der vom Finanzgericht angesetzten mündlichen Verhandlung nicht oder nicht ordnungsgemäß geladen worden ist1.
Dem Fall einer fehlenden oder nicht ordnungsgemäßen Ladung ist nach Auffassung des Bundesfinanzhofs der vorliegende Fall gleichzusetzen, dass ein Beteiligter zwar grundsätzlich ordnungsgemäß geladen worden ist, die Ladung jedoch mit einer rechtswidrigen Fesselungsanordnung verbunden worden ist, die von den sitzungspolizeilichen Befugnissen des § 52 Abs. 1 FGO i.V.m. § 176 des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) nicht gedeckt ist.
Gemäß § 52 Abs. 1 FGO i.V.m. § 176 GVG obliegt die Aufrechterhaltung der Ordnung in der Sitzung (sogenannte Sitzungspolizei) dem Vorsitzenden. Dieser hat für die äußere Ordnung der Sitzung während der Verhandlung und für den ordnungsgemäßen Ablauf des Verfahrens zu sorgen. Vorsitzender in diesem Sinne ist auch der Einzelrichter (§§ 6, 79a Abs. 3 und 4 FGO).
Die Sitzungspolizei umfasst alle Befugnisse und Maßnahmen, die erforderlich sind, um den äußeren ungestörten Verlauf der Sitzung zu sichern2.
Zu den Zwangsmaßnahmen, die der Vorsitzende beziehungsweise der Einzelrichter im Rahmen seiner sitzungspolizeilichen Befugnisse anordnen kann, gehört grundsätzlich auch die Fesselung eines Beteiligten.
Allerdings handelt es sich bei einer Fesselungsanordnung um den stärksten Eingriff in die Bewegungsfreiheit eines Betroffenen und zugleich um einen Grundrechtseingriff von erheblichem Gewicht3. Sie kommt daher nur dann in Betracht, wenn konkrete Tatsachen vorliegen, die einen Fesselungsgrund ergeben, und wenn die mit der Fesselung beabsichtigten Zwecke nicht auf weniger einschneidende Art und Weise erreicht werden können4. Weniger einschneidend kann beispielsweise die Zuweisung eines Platzes neben einem oder zwischen zwei Justizwachtmeistern sein5.
Solche konkreten, eine Fesselung rechtfertigenden Tatsachen können sich im Fall eines Inhaftierten insbesondere aus Auffälligkeiten im Vollzug ergeben, wenn etwa der Betreffende gegen Personen oder Sachen gewalttätig geworden ist oder Fluchtversuche unternommen hat oder wenn Suizidabsichten erkennbar sind6. Es muss sich aber in jedem Fall um eine im Zeitpunkt der Entscheidung nach dem möglichen Stand der Ermittlungen erkennbare, substantiierte und mit konkreten Anhaltspunkten belegbare Gefahr handeln, die aus dem Verhalten des Inhaftierten zu entnehmen ist7.
Liegen derartige -konkrete- Erkenntnisse vor, ist bei der Frage nach der Rechtmäßigkeit einer Fesselungsanordnung zu berücksichtigen, dass der Vorsitzende neben einem störungsfreien äußeren Verhandlungs- beziehungsweise Sitzungsablauf vor allem auch die Sicherheit der Verfahrensbeteiligten im Sitzungssaal zu verantworten und zu gewährleisten hat. Deshalb ist dem Vorsitzenden bei der Entscheidung, ob hinreichender Anlass für eine sitzungspolizeiliche Maßnahme in Form einer Fesselung besteht, ein Ermessensspielraum einzuräumen8.
Diese Grundsätze gelten im Übrigen auch dann, wenn eine Fesselungsanordnung nicht auf § 176 GVG, sondern als besondere Sicherungsmaßnahme auf § 88 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 6, § 90 des Gesetzes über den Vollzug der Freiheitsstrafe und der freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung (StVollzG) beziehungsweise auf eine entsprechende landesrechtliche Vorschrift gestützt wird.
Anordnungsbefugt ist in diesem Fall allerdings der Anstaltsleiter der JVA (§ 91 Abs. 1 Satz 1 StVollzG; ebenso § 91 Abs. 1 Satz 1 des Brandenburgischen Justizvollzugsgesetzes -BbgJVollzG-). Ungeachtet dessen setzt die Fesselungsanordnung auch in diesem Fall eine im Zeitpunkt der Entscheidung nach dem möglichen Stand der Ermittlungen erkennbare, substantiierte und mit konkreten Anhaltspunkten belegbare Gefahr voraus, die sich aus dem Verhalten des Gefangenen ergeben muss. Befürchtungen, Vermutungen oder gar nur ein bloßer Verdacht genügen hierzu nicht9.
Gemessen an diesen Maßstäben verstößt die Anordnung der Einzelrichterin, den Kläger in Hand- und Fußfesseln vorzuführen, gegen das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Klägers aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG.
Gründe für diese Maßnahme sind in der jeweiligen Anordnung nicht genannt worden und ergeben sich auch nicht aus den vorliegenden Akten. Insbesondere ist nicht ersichtlich, dass der Kläger in der Haft gegen Personen oder Sachen gewalttätig geworden wäre oder Fluchtversuche unternommen hätte oder dass er konkret suizidgefährdet wäre.
Der allgemeine Hinweis auf das Fehlen ausreichender Sicherheitsvorkehrungen im Finanzgericht genügt jedenfalls schon nicht in Bezug auf eine „einfache“ Fesselungsanordnung und erst recht nicht zur Rechtfertigung einer Doppelfesselung. Unzutreffend ist schließlich auch die Annahme des Finanzgericht, es wäre Aufgabe des Klägers gewesen, konkrete Gründe vorzutragen, aus denen sich seine „Ungefährlichkeit“ ergibt.
Gemäß § 119 Nr. 3 FGO ist davon auszugehen, dass das angefochtene Urteil auf dem Verfahrensmangel beruht. Der Kläger musste nicht darlegen, was er in der mündlichen Verhandlung noch hätte vortragen wollen und wie er mit seinem Vortrag die Entscheidung des Gerichts hätte beeinflussen können10.
Der Bundesfinanzhof hielt es im vorliegenden Fall daher für sachgerecht, nach § 116 Abs. 6 FGO zu verfahren, das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Finanzgericht zurückzuverweisen.
Bundesfinanzhof, Beschluss vom 10. August 2023 – X B 136/22
- ständige Rechtsprechung, vgl. BFH, Beschlüsse vom 03.08.2017 – IX B 63/17, BFH/NV 2017, 1451, Rz 10; und vom 23.11.2016 – IV B 39/16, BFH/NV 2017, 333, Rz 10, jeweils m.w.N.[↩]
- vgl. Saarländisches OLG, Beschluss vom 08.03.2016 – 1 Ws 28/16, unter II. 1.a, m.w.N.[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 03.08.2011 – 2 BvR 1739/10, unter III. 1.a aa; OLG Celle, Beschluss vom 19.10.2011 – 1 Ausl 31/11, NStZ 2012, 649, 650; OLG Hamm, Beschluss vom 16.06.2011 – III-1 Vollz (Ws) 216/11, NStZ-RR 2011, 291[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 03.08.2011 – 2 BvR 1739/10, unter III. 1.a aa; Staatsgerichtshof für das Land Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.07.2014 – 1 VB 39/14, unter III.; OLG Naumburg, Beschluss vom 24.06.2019 – 1 Ws (s) 213/19, Strafverteidiger Forum 2020, 203, unter II. 2.[↩]
- vgl. Krauß in Löwe-Rosenberg, Die Strafprozessordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, 27. Aufl., § 176 GVG Rz 23[↩]
- OLG Naumburg, Beschluss vom 24.06.2019 – 1 Ws (s) 213/19, Strafverteidiger Forum 2020, 203, unter II. 2.; OLG Hamm, Beschluss vom 09.01.2014 – 5 RVs 134/13, unter II. 1.a[↩]
- OLG Hamm, Beschluss vom 16.06.2011 – III-1 Vollz (Ws) 216/11, NStZ-RR 2011, 291[↩]
- Staatsgerichtshof für das Land Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.07.2014 – 1 VB 39/14, unter III.; OLG Naumburg, Beschluss vom 24.06.2019 – 1 Ws (s) 213/19, Strafverteidiger Forum 2020, 203, unter II. 2.; OLG Hamm, Beschluss vom 09.01.2014 – 5 RVs 134/13, unter II. 1.a[↩]
- OLG Hamm, Beschluss vom 16.06.2011 – III-1 Vollz (Ws) 216/11, NStZ-Rechtsprechungs-Report Strafrecht 2011, 291, Rz 13[↩]
- vgl. BFH, Beschluss vom 08.06.2005 – X B 54/04, BFH/NV 2005, 1620, unter II. 3.[↩]