Macht der Kläger einen Anspruch geltend, hat das Finanzgericht über alle in Betracht kommenden Anspruchsgrundlagen zu entscheiden. Wird eine weitere Klage unter Berufung auf eine andere Anspruchsgrundlage erhoben, ist diese nicht wegen doppelter Rechtshängigkeit als unzulässig abzuweisen, sondern mit der ersten Klage zu verbinden.

In dem hier vom Bundesfinanzhof entschiedenen Fall hatte das Finanzamt für den Veranlagungszeitraum 2015 gegenüber den Klägern mit Bescheid vom 19.02.2018 Einkommensteuer festgesetzt. Der Bescheid ist bestandskräftig. Mit Schriftsatz vom 10.04.2018 beantragten die Kläger bei dem Finanzamt Akteneinsicht nach den Vorschriften der Abgabenordnung in ihre Einkommensteuerakte für den Veranlagungszeitraum 2015. Das Finanzamt lehnte den Antrag zuletzt mit Einspruchsentscheidung vom 25.05.2018 ab. Die dagegen erhobene Klage ist noch beim beim Niedersächsischen Finanzgericht anhängig.
Mit Schreiben vom 23.09.2019 beantragten die Kläger beim Finanzamt unter Berufung auf Art. 15 Abs. 1 Halbsatz 2, Abs. 2 DSGVO die Einsicht in dieselbe Einkommensteuerakte. Das Finanzamt lehnte den Antrag mit Bescheid vom 09.10.2019 mit Hinweis auf das Steuergeheimnis Dritter sowie auf den Ausnahmetatbestand des § 32c Abs. 1 Nr. 3a AO ab. Die Kläger haben am 11.11.2019 Klage erhoben. Das Niedersächsische Finanzgericht hat die Klage abgewiesen, da weder die DSGVO noch § 2a AO unmittelbar oder analog einen Anspruch auf Akteneinsicht verliehen1. Die hiergegen gerichtete Revision sah der Bundesfinanzhof als begründet an mit der Maßgabe, dass das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen ist (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FGO). Die Klage ist wegen anderweitiger Rechtshängigkeit unzulässig; jedoch ist dem Finanzgericht Gelegenheit zu geben, die Klage mit der zuerst anhängig gemachten Klage zu verbinden:
Nach § 17 Abs. 1 Satz 2 GVG, der über § 155 Satz 1 FGO auch im Finanzprozess anwendbar ist, kann während der Rechtshängigkeit die Sache von keiner Partei anderweitig anhängig gemacht werden.
Nach § 66 Satz 1 FGO wird die Streitsache durch Erhebung der Klage rechtshängig, eine weitere denselben Streitgegenstand betreffende Klage ist damit unzulässig. Die Klagesperre bezweckt, parallele Verfahren und die sich daraus ergebende Gefahr unterschiedlicher Entscheidungen zu vermeiden2. Die anderweitige Rechtshängigkeit stellt im Finanzprozess eine negative Sachentscheidungsvoraussetzung dar, die grundsätzlich zur Abweisung der Klage als unzulässig führt3.
Nach § 17 Abs. 2 Satz 1 GVG entscheidet das Gericht des zulässigen Rechtswegs den Rechtsstreit unter allen in Betracht kommenden rechtlichen Gesichtspunkten4. Die Entscheidungspflicht des Gerichts über diese Streitsache5 ist das notwendige Pendant zur Klagesperre.
Die Klagesperre setzt neben der Identität der Beteiligten die Identität des Streitgegenstands voraus6. „Streitsache“ i.S. von § 66 FGO ist der prozessuale Anspruch des Klägers, der jedenfalls vor dem Ablauf der etwaigen Klagefrist konkretisiert ist durch die Benennung der Beteiligten und den Gegenstand des Klagebegehrens7. Maßgebend ist das Ziel der gerichtlichen Sachentscheidung8.
Im Anfechtungsprozess entspricht der Streitgegenstand der Rechtsbehauptung des Klägers, der Verwaltungsakt sei rechtswidrig und verletze ihn in seinen Rechten9. Streitgegenstand sind dort nicht die einzelnen Besteuerungsgrundlagen (§ 157 Abs. 2 AO), sondern die Festsetzung eines bestimmten Steuerbetrags10.
Macht der Kläger im Wege der Verpflichtungs- oder allgemeinen Leistungsklage einen Anspruch geltend, besteht der Streitgegenstand in der Rechtsbehauptung des Klägers, dass dieser Anspruch bestehe. Wegen § 17 Abs. 2 Satz 1 GVG darf sich das angerufene Gericht bei seiner Prüfung nicht auf die von den Beteiligten unterbreitete Anspruchsgrundlage beschränken. Dieser Grundsatz kann nicht durch den Erlass mehrerer Ablehnungsbescheide zu verschiedenen Anspruchsgrundlagen umgangen werden11.
Die anderweitige Rechtshängigkeit steht nicht zur Disposition der Beteiligten. Eine gleichwohl erhobene zweite Klage ist unzulässig12. Es gibt weder in der DSGVO noch anderweit eine Grundlage, dies anders zu beurteilen, wenn die in Betracht kommenden Ansprüche verfahrensrechtlich unterschiedlich behandelt werden müssten. Das betrifft insbesondere die Frage, ob einer Klage nach § 44 FGO ein außergerichtlicher Rechtsbehelf vorzuschalten ist, was nach Maßgabe von § 32i Abs. 9 AO z.B. nicht der Fall ist. Etwaigen Friktionen ist mit geeigneten prozessualen Mitteln zu begegnen.
Ist bereits eine Klage mit demselben Streitgegenstand anhängig, ist im Finanzprozess die eigentlich unzulässige zweite Klage nicht durch Prozessurteil abzuweisen, sondern mit der zuvor anhängig gemachten Klage zu verbinden.
Dies ist bereits höchstrichterlich für den Fall entschieden, dass beide Klagen bei demselben Senat des Finanzgericht eingereicht wurden, und beruht auf der Überlegung, dass bei etwaigen Mängeln der ersten Klage sonst ein endgültiger Rechtsverlust droht13. Dies gilt aber auch dann, wenn beide Klagen bei unterschiedlichen Senaten des Finanzgericht anhängig sind. Die gerichtsinterne Geschäftsverteilung, die sich zwischen den Finanzgerichten teils erheblich unterscheidet, kann keinen Einfluss auf die Rechtswirkungen doppelter Rechtshängigkeit haben. Ist eine senatsübergreifende Verbindung vorzunehmen, ist nach dem jeweiligen Geschäftsverteilungsplan des Finanzgerichts über die Zuständigkeit für die nunmehr einheitlich zu behandelnde Sache zu entscheiden.
Nach diesen Maßstäben ist die vorliegende Klage mit dem bei dem Finanzgericht bereits (und immer noch) anhängigen Klageverfahren zu verbinden. Der Streitgegenstand beider Verfahren ist identisch, nämlich der geltend gemachte Anspruch auf Akteneinsicht. Soweit sich die Kläger auf unterschiedliche Anspruchsgrundlagen stützen, ist das unerheblich. Der nach Verbindung zuständige Spruchkörper ist berechtigt und verpflichtet, einen Anspruch auf Akteneinsicht unter allen denkbaren rechtlichen Aspekten zu prüfen.
Bundesfinanzhof, Urteil vom 8. Juni 2021 – II R 15/20
- Nds. FG, Urteil vom 28.01.2020 – 12 K 213/19, EFG 2020, 665[↩]
- Schallmoser in Hübschmann/Hepp/Spitaler -HHSp-, § 66 FGO Rz 27[↩]
- BFH, Urteil vom 27.06.2006 – VII R 43/05, BFH/NV 2007, 396, unter II. 1.[↩]
- vgl. Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 22.02.2021 – OVG 12 L 53/20 Rz 4[↩]
- Schallmoser in HHSp, § 66 FGO Rz 33; Brandis in Tipke/Kruse, § 66 FGO Rz 1[↩]
- Schallmoser in HHSp, § 66 FGO Rz 28, sowie Schmid in HHSp, Finanzgerichtsordnung Einführung Rz 135[↩]
- Brandis in Tipke/Kruse, § 66 FGO Rz 1[↩]
- ähnlich BFH, Beschluss vom 08.11.2005 – VIII B 3/96, BFH/NV 2006, 570[↩]
- Schmid in HHSp, Finanzgerichtsordnung Einführung Rz 131 f.[↩]
- vgl. BFH (GrS), Beschluss vom 17.07.1967 – GrS 1/66, BFHE 91, 393, BStBl II 1968, 344, unter III. 3.[↩]
- ähnlich BFH, Urteil in BFH/NV 2007, 396, für mehrere Erlassgründe[↩]
- vgl. im Einzelnen BFH, Urteil in BFH/NV 2007, 396, unter II. 1.a[↩]
- vgl. BFH, Beschlüsse vom 26.05.2006 – IV B 151/04, BFH/NV 2006, 2086, unter II. 2.; und vom 11.02.2020 – XI B 69-70/19, BFH/NV 2020, 891, Rz 19, für Anfechtungsklagen; ferner BFH, Urteil vom 18.11.2015 – XI R 24-25/14, BFH/NV 2016, 418, Rz 20 für Verpflichtungsklagen[↩]