Wird ein Steuerbescheid geändert und sind dabei bestimmte Tatsachen nicht berücksichtigt worden, sind diese Tatsachen bei einer beabsichtigten späteren Änderung nach § 173 AO nicht (mehr) neu, wenn nach § 88 AO Anlass bestand, sie bereits bei Erlass des Änderungsbescheids zu berücksichtigen. Ist das Finanzamt hingegen im Rahmen der Änderung eines Steuerbescheids zur (umfassenden) Berücksichtigung aller bis dahin bekanntgewordenen Tatsachen nicht verpflichtet, bleibt eine Änderung nach § 173 AO möglich. Davon ist insbesondere bei der Änderung eines Steuerbescheids nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO und in Fällen des § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO auszugehen.

Nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO sind Steuerbescheide aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer höheren Steuer führen.
Tatsache i.S. des § 173 Abs. 1 AO ist jeder Lebenssachverhalt, der Merkmal oder Teilstück eines gesetzlichen Tatbestands sein kann, also Zustände, Vorgänge, Beziehungen, Eigenschaften materieller oder immaterieller Art1.
Nachträglich werden Tatsachen oder Beweismittel bekannt, wenn deren Kenntnis nach dem Zeitpunkt erlangt wird, in dem die Willensbildung über die Steuerfestsetzung abgeschlossen ist2. Maßgeblich ist grundsätzlich der letzte Bescheid, der für eine abschließende Sachprüfung in Betracht kommt3.
Ist der ursprüngliche Steuerbescheid (hier der Teilabhilfebescheid vom 24.07.2006) geändert und sind im Änderungsbescheid (hier vom 15.06.2009) bestimmte Tatsachen nicht berücksichtigt worden (hier die Prüfungsmitteilung vom 06.03.2008), sind diese Tatsachen bei einer beabsichtigten späteren Änderung nach § 173 AO nicht (mehr) neu, wenn nach § 88 AO Anlass bestand, sie bereits bei Erlass des Änderungsbescheids zu berücksichtigen. Denn der Änderungsbescheid tritt verfahrensrechtlich an die Stelle des ursprünglichen Bescheids4. Tatsachen und Beweismittel, die bei der abschließenden Zeichnung des Änderungsbescheids schon vorhanden waren, aber nicht berücksichtigt wurden, berechtigen nach Eintritt der Bestandskraft nicht mehr zur Korrektur nach § 173 AO5.
Verpflichtet hingegen die beabsichtigte Änderung nach ihrer Art nicht zur weiteren Sachprüfung, bleibt eine spätere Änderung des (vorherigen) Änderungsbescheids nach § 173 AO möglich. Eine solche Pflicht zur (umfassenden) Berücksichtigung aller bis dahin bekanntgewordenen Tatsachen besteht insbesondere nicht bei Änderungen nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO, bei denen das Finanzamt den Grundlagenbescheid ohne eigene Sachprüfung übernehmen muss6. Entsprechendes gilt -wie das Finanzgericht zutreffend erkannt hat- in Fällen des § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO. Auch in diesen Massenrechtsbehelfsverfahren, die allein darauf abzielen, dem Steuerpflichtigen eine spätere materielle Änderung zu ermöglichen, wenn das Musterverfahren Erfolg hat, ist das Finanzamt lediglich zu einer punktuellen Überprüfung des Steuerbescheids im Hinblick auf den Vorläufigkeitsausspruch verpflichtet. Denn § 165 Abs. 1 Satz 2 AO erlaubt eine vorläufige Steuerfestsetzung nur im Rahmen der dort aufgeführten Katalogtatbestände. Nur soweit im Einzelfall eine dort benannte „Ungewissheit über das anzuwendende Recht“ vorliegt, darf insbesondere zur Vermeidung von Massenrechtsbehelfsverfahren eine Vorläufigkeitserklärung erfolgen. Darüber haben die Finanzbehörden nach pflichtgemäßem Ermessen (§ 5 AO) zu entscheiden. Dementsprechend wird dem Antrag (Einspruch) des Steuerpflichtigen, den Einkommensteuerbescheid hinsichtlich einer der in § 165 Abs. 1 Satz 2 AO benannten Vorläufigkeitsgründe für vorläufig zu erklären, ohne nähere Prüfung stattgegeben, sofern dies verwaltungsinternen Anweisungen entspricht. Deshalb brauchen auch bei einer Änderung der Steuerfestsetzung nach § 165 Abs. 1 Satz 2 AO andere als die die Ungewissheit betreffenden Tatsachen nicht berücksichtigt werden, auch wenn sie den Finanzbehörden zum Zeitpunkt dieser Änderung bekannt sind oder als Bestandteil der Akten des zu veranlagenden Steuerpflichtigen als bekannt gelten7. Vielmehr ist insoweit auch nach der Vorläufigkeitserklärung noch eine Änderung nach § 173 AO möglich8.
Im vorliegenden Fall hatte das Finanzamt die (mehrfach geänderte) Einkommensteuerfestsetzung 2004 mit Bescheid vom 15.06.2009 lediglich insoweit geändert, als es die ursprüngliche Steuerfestsetzung im Hinblick auf beim BVerfG und beim BFH anhängige Musterverfahren gemäß § 165 Abs. 1 Satz 2 AO für vorläufig erklärt hat. Zu einer über die Rechtmäßigkeit dieser Änderung hinausgehenden materiellen Überprüfung dieses Steuerbescheids war das Finanzamt dabei nicht verpflichtet. Damit gelten die Erkenntnisse aus der Prüfungsmitteilung vom 06.03.2008 als neu, auch wenn diese zum Zeitpunkt der punktuellen Änderung der Steuerfestsetzung mit Bescheid vom 15.06.2009 bereits Inhalt der Akten waren. Damit aber waren die Erkenntnisse aus der Prüfungsmitteilung erst nach dem Erlass des Einkommensteuer(änderungs)bescheids vom 15.06.2009 und damit nachträglich bekannt geworden.
Bundesfinanzhof, Beschluss vom 18. Dezember 2014 – VI R 21/13
- ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BFH, Urteil vom 19.02.2013 – IX R 24/12, BFHE 240, 265, BStBl II 2013, 484, m.w.N., und BFH, Beschluss vom 19.10.2011 – X R 29/10, BFH/NV 2012, 227, m.w.N.[↩]
- BFH, Urteil vom 13.06.2012 – VI R 85/10, BFHE 238, 295, BStBl II 2013, 5[↩]
- von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler -HHSp-, § 173 AO Rz 212[↩]
- BFH, Urteil vom 13.09.2001 – IV R 79/99, BFHE 196, 195, BStBl II 2002, 2[↩]
- von Groll in HHSp, § 173 AO Rz 212 f.; Klein/Rüsken, AO, 12. Aufl., § 173 Rz 54 f.; Loose in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 173 AO Rz 50; von Wedelstädt in Beermann/Gosch, AO § 173 Rz 49; Forchhammer in Leopold/Madle/Rader AO, § 173 Rz 18[↩]
- BFH, Urteil vom 12.01.1989 – IV R 8/88, BFHE 156, 4, BStBl II 1989, 438; von Groll in HHSp, § 173 AO Rz 212, 214; Klein/Rüsken, a.a.O., § 173 Rz 54 f.; Loose, a.a.O., § 173 AO Rz 50; von Wedelstädt, AO § 173 Rz 49; Forchhammer, a.a.O., § 173 Rz 18[↩]
- BFH, Urteile in BFHE 238, 295, BStBl II 2013, 5; und vom 13.01.2011 – VI R 61/09, BFHE 232, 5, BStBl II 2011, 479, jeweils m.w.N[↩]
- Frotscher in Schwarz, AO, § 173 Rz 114; von Wedelstädt, a.a.O., AO § 173 Rz 49; Forchhammer, a.a.O., § 173 Rz 18; Klein/Rüsken, a.a.O., § 173 Rz 57; FG Düsseldorf vom 18.09.1996 7 K 1562/91 GE, Entscheidungen der Finanzgerichte 1997, 140[↩]