Widerstreitende Steuerfestsetzungen – und der Beginn der Jahresfrist

Die Jahresfrist des § 174 Abs. 4 Satz 3 AO beginnt auch dann mit der Bekanntgabe des aufgehobenen oder geänderten Bescheids durch die Finanzbehörde, wenn ein Hinzugezogener gegen die Aufhebung oder Änderung klagt und das Finanzgericht die Rechtmäßigkeit der Aufhebung oder Änderung bestätigt.

Widerstreitende Steuerfestsetzungen – und der Beginn der Jahresfrist

Ist auf Grund irriger Beurteilung eines bestimmten Sachverhalts ein Steuerbescheid ergangen, der auf Grund eines Rechtsbehelfs oder sonst auf Antrag des Steuerpflichtigen durch die Finanzbehörde zu seinen Gunsten aufgehoben oder geändert wird, so können aus dem Sachverhalt nachträglich durch Erlass oder Änderung eines Steuerbescheids die richtigen steuerlichen Folgerungen gezogen werden (§ 174 Abs. 4 Satz 1 AO). § 174 Abs. 5 AO ergänzt diese Regelung dahingehend, dass Abs. 4 gegenüber Dritten gilt, wenn sie an dem Verfahren, das zur Aufhebung oder Änderung des fehlerhaften Steuerbescheids geführt hat, beteiligt waren.

Der Änderungsbescheid ist rechtswidrig, wenn er nicht rechtzeitig erlassen wurde. Der Ablauf der Festsetzungsfrist ist nur dann unbeachtlich, wenn die steuerlichen Folgerungen „innerhalb eines Jahres nach Aufhebung oder Änderung des fehlerhaften Steuerbescheids gezogen werden“ (§ 174 Abs. 4 Satz 3 AO). Die Frist beginnt ab dem Zeitpunkt, ab dem die Aufhebung oder Änderung eine Bindungswirkung im Sinne einer Vollstreckbarkeit entfaltet; dies ist bei einem von der Finanzbehörde erlassenen Bescheid im Zeitpunkt seiner Bekanntgabe1.

Die Finanzbehörde kann nach § 174 Abs. 4 Satz 2 AO zwar auch dann die richtigen steuerlichen Folgerungen ziehen, wenn ein Steuerbescheid durch das Gericht aufgehoben oder geändert wird. In diesem Fall beginnt die Jahresfrist des § 174 Abs. 4 Satz 3 AO nicht bereits mit der Verkündung oder Zustellung des Urteils, sondern erst mit dem Eintritt der Rechtskraft des Urteils2. Im Streitfall ist jedoch -wie das Finanzgericht zu Recht festgestellt hat- im Anschluss an die Einspruchsentscheidung vom 23.12 2011 keinerlei Aufhebung oder Änderung eines Bescheids erfolgt. Insbesondere führte die hier von der GmbH als Drittbeteiligte erhobene Klage weder zur Aufhebung noch zu einer Änderung des angegriffenen Steuerbescheids, vielmehr bestätigte das Finanzgericht die Auffassung der Finanzverwaltung und wies die Klage mit Urteil vom 07.08.2013 als unbegründet zurück.

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Eine analoge Anwendung des § 174 Abs. 4 Sätze 2 und 3 AO dahingehend, dass die Jahresfrist auch dann (erst) mit der Rechtskraft des Urteils beginnt, wenn ein hinzugezogener Dritter (GmbH) erfolglos gegen die Aufhebung oder Änderung eines Steuerbescheids klagt, hat das Finanzgericht zu Recht ausgeschlossen. Dabei kann offen bleiben, ob die vom Finanzgericht bejahte Regelungslücke besteht. Denn eine Analogie erfordert darüber hinaus, dass der gesetzlich geregelte Fall nur unwesentlich von dem nicht geregelten Fall abweicht3. Ob die Fälle unwesentlich voneinander abweichen, ist teleologisch zu ermitteln4.

Im gesetzlich geregelten Fall der Aufhebung oder Änderung des Steuerbescheids durch das Finanzgericht ist das Finanzamt noch beim Erlass der Einspruchsentscheidung davon ausgegangen, dass der Ausgangsbescheid rechtmäßig ist. Kommt das Finanzgericht zu einer anderen rechtlichen Würdigung und damit zur Aufhebung oder Änderung des Steuerbescheids, wird das Finanzamt mit einer neuen rechtlichen Situation konfrontiert. Für diesen Fall wird ihm die gesetzliche Frist von einem Jahr eingeräumt, um zu prüfen, ob und ggf. in welcher Weise die zutreffenden rechtlichen Folgerungen zu ziehen sind.

Davon unterscheidet sich der vorliegende Fall erheblich. Denn hier hat das Finanzamt dem Einspruch der H-GbR abgeholfen und damit bereits vor der Entscheidung des Finanzgericht die Auffassung vertreten, die Steuerfestsetzung gegenüber der H-GbR sei mangels Organschaft rechtswidrig, sodass die GmbH ihre Umsätze selbst zu versteuern habe. Als Konsequenz seiner eigenen Rechtsansicht bestand daher nunmehr Anlass, den entsprechenden Umsatzsteuerbescheid gegenüber der GmbH zu ändern. Ein (weiteres) Zuwarten bis zu rechtskräftigen Entscheidung des Finanzgericht war schon deshalb nicht angezeigt, weil sich nach Aufklärung des Sachverhalts im Rahmen des Einspruchsverfahrens ergab, dass die für eine Organschaft erforderliche wirtschaftliche Eingliederung offensichtlich nicht vorlag.

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Soweit das Finanzamt unter Hinweis auf das BFH-Urteil in BFHE 206, 388, BStBl II 2004, 914 die Auffassung vertritt, es sei zur Vermeidung von Widersprüchen am Erlass eines „vorsorglichen“ Bescheids gegenüber der GmbH vor Rechtskraft des Finanzgericht, Urteils gehindert gewesen, verkennt es, dass das angeführte BFH, Urteil kein derartiges Verbot enthält. Der BFH führt zwar aus, der Zweck der Norm (§ 174 Abs. 4 AO) liege darin, dass nach Klärung der Rechtslage die zutreffenden steuerlichen Folgerungen gezogen werden könnten, und nicht darin, neue Widersprüche zu schaffen. Die entsprechenden Ausführungen beziehen sich aber auf die Bindungswirkung eines finanzgerichtlichen Urteils. Im Streitfall erfolgte die Änderung durch das Finanzamt und aus dessen Sicht war zum Zeitpunkt der Einspruchsentscheidung die Rechtslage geklärt, sodass es nicht widersprüchlich, sondern konsequent gewesen wäre, nunmehr einen Änderungsbescheid gegenüber der GmbH zu erlassen. Etwaigen Zweifeln hätte das Finanzamt dadurch Rechnung tragen können, dass es den entsprechenden Änderungsbescheid mit einem Vorläufigkeitsvermerk (§ 165 AO) versieht.

Dem Eintritt der Verjährung kann nicht mit Erfolg entgegengehalten werden, der GmbH sei die Berufung auf Vertrauensschutz versagt, weil sie -entsprechend dem Ausgang der von ihr geführten Rechtsbehelfsverfahren- mit einer geänderten Steuerfestsetzung zu ihren Lasten habe rechnen müssen.

Nach dem auch im Steuerrecht geltenden Grundsatz von Treu und Glauben kann ein Steuerpflichtiger zwar an der Geltendmachung eines Rechts gehindert sein, wenn er mit der Berufung darauf in gravierender Weise gegen die berechtigten Belange der Behörde verstößt und sich zu seinem früheren Verhalten in Widerspruch setzt5 und wenn ihn deshalb eine Rechtspflicht zu einem bestimmten Verhalten trifft6.

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Im Unterschied zum bürgerlichen Recht (§ 214 BGB) begründet der Ablauf der Verjährungsfrist im Steuerrecht jedoch kein Leistungsverweigerungsrecht (Einrede) des Steuerschuldners, sondern führt ohne Weiteres zum Erlöschen der verjährten Steuerforderung (§§ 47 und 232 AO). Der Ablauf der Verjährungsfrist ist in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu beachten und hat im Streitfall zur Folge, dass das Finanzamt nicht (mehr) zum Erlass des streitgegenständlichen Umsatzsteuerbescheids berechtigt ist. Da der Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis infolge Festsetzungsverjährung kraft Gesetzes erloschen ist, bedarf es keiner Berufung des Steuerpflichtigen auf diese Rechtsfolge.

Abgesehen davon ist es nicht Aufgabe und Zweck der allgemeinen Grundsätze von Treu und Glauben, eine unvorteilhafte Verfahrensbehandlung durch die Finanzbehörde aufzufangen7. Das Finanzamt hatte nicht nur die Möglichkeit, die Angaben der GmbH in ihrem Antrag auf Aufhebung der Umsatzsteuerfestsetzung 2004 vom 30.12 2009 durch Einsichtnahme in die Steuerakten oder Nachfrage beim Steuerpflichtigen zu überprüfen (§ 88 AO), sondern konnte auch den Zeitpunkt des Erlasses der Änderungsbescheide bestimmen und hatte damit den Zeitpunkt des Eintritts der Festsetzungsverjährung in der Hand.

Bundesfinanzhof, Urteil vom 21. September 2016 – V R 24/15

  1. BFH, Urteil in BFHE 206, 388, BStBl II 2004, 914, Rz 28[]
  2. BFH, Urteil in BFHE 206, 388, BStBl II 2004, 914, Rz 28 ff.[]
  3. BFH, Urteil vom 15.02.1990, – IV R 13/89, BFHE 160, 229, BStBl II 1990, 621, Rz 23, m.w.N.[]
  4. Drüen in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 4 AO Rz 365, a.E.[]
  5. vgl. BFH, Urteile vom 18.11.2003 – VII R 5/02, BFH/NV 2004, 1057, sowie vom 23.06.1993 – X R 214/87, BFH/NV 1994, 295, 297; und vom 08.02.1996 – V R 54/94, BFH/NV 1996, 733, 735; jeweils m.w.N.[]
  6. vgl. BFH, Urteile vom 07.11.2001 – XI R 14/00, BFH/NV 2002, 745, 747; und vom 24.04.1996 – II R 37/93, BFH/NV 1996, 865[]
  7. vgl. zuletzt BFH, Urteil vom 12.02.2015 – V R 28/14, BFHE 248, 512, BFH/NV 2015, 1016, m.w.N.[]
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