Zulässigkeit einer Nichtigkeitsklage – wegen Verletzung einer Vorlagepflicht

Es ist zweifelhaft, ob die Nichtigkeitsklage statthaft ist, wenn lediglich die Verletzung einer Vorlageverpflichtung (durch das vorschriftsmäßig besetzte Gericht) geltend gemacht wird. Mit der Rüge der Missachtung beziehungsweise fehlerhaften Anwendung von § 118 Abs. 2 FGO wird kein Verstoß gegen den gesetzlichen Richter geltend gemacht.

Zulässigkeit einer Nichtigkeitsklage – wegen Verletzung einer Vorlagepflicht

Eine Divergenzlage im Sinne des § 2 Abs. 1 des Gesetzes zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes ist gegeben, wenn es sich um vergleichbare, in ihren rechtlichen Voraussetzungen übereinstimmende Vorgänge handelt, die im Interesse der Rechtssicherheit einheitlich beantwortet werden müssen1.

Nach § 134 FGO i.V.m. § 578 Abs. 1 ZPO kann die Wiederaufnahme eines durch rechtskräftiges Endurteil abgeschlossenen Verfahrens durch Nichtigkeitsklage und durch Restitutionsklage erfolgen.

Mit der Nichtigkeitsklage im Sinne des § 579 ZPO ist neben der Restitutionsklage nach § 580 ZPO ein Mittel geschaffen worden, um eine Durchbrechung der Rechtskraft in Fällen zu ermöglichen, in denen schwerste Mängel des Verfahrens oder gravierende inhaltliche Fehler gegen den Bestand des Urteils sprechen und dadurch das Vertrauen der Parteien in die Urteilsgrundlage in einer nicht mehr hinnehmbaren Weise erschüttert ist2. Diesem Zweck entspricht es, die Nichtigkeitsklage nach § 579 Abs. 1 ZPO auf eng begrenzte Ausnahmefälle zu beschränken. Sie dient insbesondere nicht dazu, eine im Ausgangsverfahren vom Gericht bereits beantwortete Rechtsfrage erneut zur Überprüfung zu stellen3.

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Nach § 579 Abs. 1 Nr. 1 ZPO findet die Nichtigkeitsklage statt, wenn das Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt war. Das ist der Fall, wenn die Richterbank bei der Entscheidung fehlerhaft besetzt war4. Ein Nichtigkeitsgrund kann daher vorliegen, wenn es zu Verstößen bei der Geschäftsverteilung gekommen ist. Mit der Vorschrift soll insbesondere verhindert werden, dass durch eine auf den Einzelfall bezogene Auswahl der zur Entscheidung berufenen Richter das Ergebnis der Entscheidung beeinflusst werden kann5.

Gemäß § 579 Abs. 1 Nr. 3 ZPO findet die Nichtigkeitsklage zudem statt, wenn bei der Entscheidung ein Richter mitgewirkt hat, obgleich er wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt und das Ablehnungsgesuch für begründet erklärt war.

Der Wortlaut der Vorschrift („das Gericht“) spricht dafür, ihren Anwendungsbereich auf die genannten Fallgruppen zu beschränken. Tatbestandlich erfasst wären danach nur Fehler, die die personelle Besetzung des Spruchkörpers betreffen. Dagegen fielen die Fragen, ob der richtige Spruchkörper oder das richtige Gericht entschieden haben, nicht mehr in den Anwendungsbereich6.

Die Verkennung einer Vorlageverpflichtung (durch das vorschriftsmäßig besetzte Gericht) -wie von den Klägern geltend gemacht- ist eine materiell-rechtliche Frage und kein Besetzungsmangel. Insoweit ist zweifelhaft, ob eine Nichtigkeitsklage statthaft ist, wenn sie lediglich darauf gestützt wird, im Ausgangsverfahren sei eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht, den Gerichtshof der Europäischen Union oder den Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes angeregt worden, das Gericht sei dem aber zu Unrecht nicht gefolgt.

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Die Statthaftigkeit der Nichtigkeitsklage kann vorliegend jedoch dahinstehen. Denn die Kläger haben die geltend gemachten Nichtigkeitsgründe jedenfalls nicht ausreichend dargelegt.

Eine Divergenzlage im Sinne des § 2 Abs. 1 RsprEinhG ist gegeben, wenn es sich um vergleichbare, in ihren rechtlichen Voraussetzungen übereinstimmende Vorgänge handelt, die im Interesse der Rechtssicherheit einheitlich beantwortet werden müssen7. Dass dies vorliegend in Bezug auf die Situation der Kläger im Streitfall und den vom Bundessozialgericht in seinem vom Kläger angeführten Urteil zugrunde gelegten und demzufolge beurteilten Sachverhalt der Fall war, haben die Kläger nicht dargelegt. Tatsächlich behaupten die Kläger die von ihnen angenommene Abweichung lediglich unter Wiederholung, Untermauerung und Ergänzung ihres Vortrags in der Hauptsachesowie im Verfahren über die Anhörungsrüge. Insoweit rügen sie im Ergebnis nur die ihrer Ansicht nach fehlerhafte Entscheidung des Bundesfinanzhofs. Die nicht vorschriftsmäßige Besetzung beziehungsweise einen Verstoß gegen den gesetzlichen Richter legen sie damit nicht dar.

Bundesfinanzhof, Urteil vom 15. Juni 2023 – VI K 1/21

  1. s. GmS-OBG, Beschluss vom 05.04.2000 – GmS-OGB 1/98, BGHZ 144, 160, unter II.[]
  2. BAG, Beschluss vom 13.10.2015 – 3 AZN 915/15 (F), Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht -NZA- 2016, 127, Rz 16 und BAG, Urteil vom 28.07.2022 – 6 AZR 24/22, Neue Juristische Wochenschrift -NJW- 2022, 3459, Rz 20, m.w.N.; BFH, Urteil vom 02.12.1998 – X R 15-16/97, BFHE 188, 1, BStBl II 1999, 412, unter II. 3.b; BSG, Urteil vom 23.03.1965 – 11 RA 304/64, BSGE 23, 30, unter II.; BVerwG, Urteil vom 26.01.1994 – 6 C 2/92, BVerwGE 95, 64[]
  3. BAG, Urteil vom 28.07.2022 – 6 AZR 24/22, NJW 2022, 3459, m.w.N.[]
  4. BAG, Beschluss vom 13.10.2015 – 3 AZN 915/15 (F), NZA 2016, 127, Rz 16[]
  5. BFH, Beschluss vom 29.01.1992 – VIII K 4/91, BFHE 165, 569, BStBl II 1992, 252, unter 4.a[]
  6. vgl. BFH, Beschlüsse vom 29.01.1992 – VIII K 4/91, BFHE 165, 569, BStBl II 1992, 252; vom 26.05.1992 – VII S 17/92, BFH/NV 1993, 305, unter 2.; und vom 12.11.1996 – II K 1/96, unter 2.; Urteil des Bundesgerichtshofs vom 22.11.1994 – X ZR 51/92, NJW 1995, 332, unter I. 1.; BSG, Urteil vom 23.03.1965 – 11 RA 304/64, BSGE 23, 30, unter II.; vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 22.01.1992 – 2 BvR 40/92, NJW 1992, 1030, unter 3.b[]
  7. s. GmS-OBG; vom 05.04.2000 – GmS-OGB 1/98, BGHZ 144, 160, unter II.[]
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