Abstrakte Satzungskontrolle durch das Oberverwaltungsgericht

Ein Oberverwaltungsgericht entscheidet bei einer abstrakten Normenkontrolle schon dann „im Rahmen seiner Gerichtsbarkeit“ im Sinne von § 47 Abs. 1 VwGO, wenn sich im Einzelfall verwaltungsgerichtliche Streitigkeiten ergeben können, für die der Verwaltungsrechtsweg gegeben und in denen die angegriffene Norm inzident zu prüfen ist.

Abstrakte Satzungskontrolle durch das Oberverwaltungsgericht

Die Normenkontrollgerichte sind nach § 47 Abs. 1 VwGO nur „im Rahmen ihrer Gerichtsbarkeit“ zur Kontrolle von untergesetzlichen Rechtsvorschriften berufen. Es muss sich also um Verfahren handeln, für die der Verwaltungsgerichtsweg im Sinne von § 40 Abs. 1 VwGO eröffnet ist. Darüber hinaus ist im Rahmen dieser Gerichtsbarkeitsklausel zu prüfen, ob sich aus der Anwendung der angegriffenen Rechtsvorschrift Rechtsstreitigkeiten ergeben können, für die der Verwaltungsrechtsweg gegeben ist1.

Bei dem Rechtsstreit um die Gültigkeit der Satzung über die Höhe der Mieten für öffentlich geförderte Wohnungen und Personalfürsorgewohnungen (Miethöhesatzung) handelt es sich um eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit im Sinne des § 40 Abs. 1 VwGO. Streitigkeiten um die Gültigkeit einer von der Verwaltung erlassenen Norm sind grundsätzlich öffentlich-rechtlicher Natur. Fehlt – wie hier – eine abdrängende Sonderzuweisung, ist unabhängig vom Inhalt der Norm der Verwaltungsrechtsweg eröffnet2.

Für die Zulässigkeit der abstrakten Normenkontrolle kommt es des Weiteren darauf an, ob die Verwaltungsgerichte auch im Einzelfall mit der Anwendung der Norm befasst sein können. Der Gesetzgeber wollte die Zuständigkeit der Oberverwaltungsgerichte für abstrakte Normenkontrollen durch die Formel „im Rahmen ihrer Gerichtsbarkeit“ begrenzen3. Im Regierungsentwurf4 zur Verwaltungsgerichtsordnung vom 21. Januar 19605 heißt es:

„Die Zuständigkeit der allgemeinen Verwaltungsgerichte für die Normenkontrolle muss aber noch eine weitere Einschränkung erfahren: Es ist sachlich nicht vertretbar, dass die Oberverwaltungsgerichte für Landesrecht andere Gerichte für Streitigkeiten präjudizieren, zu deren Entscheidung im Einzelfall letztere ausschließlich zuständig sind. Eine derartige Überordnung der Oberverwaltungsgerichte liefe dem Grundsatz der Gleichwertigkeit der einzelnen Zweige der Gerichtsbarkeit zuwider und störte das gegenseitige Verhältnis. Eine solche Position kann nur der Verfassungsgerichtsbarkeit kraft des ihr eigenen Ausnahmecharakters zukommen. ‚Im Rahmen seiner Gerichtsbarkeit’ bedeutet daher, dass die Verwaltungsgerichte für Normenkontrolle soweit zuständig sind, als sie Streitigkeiten um die zu kontrollierende Norm im Einzelfall zu entscheiden haben.

Für § 25 südd. VGG ist es streitig, ob die Normenkontrolle auch beantragt werden kann, wenn im Einzelfall die Anfechtungsklage (Verpflichtungsklage) gegeben ist. Dies wird hier eindeutig für zulässig erklärt, da nur auf diese Weise der prozessökonomische Zweck, durch eine einzige Entscheidung eine Mehrzahl von Streitigkeiten zu vermeiden und dadurch die Gerichte zu entlasten, erreicht werden kann.“

Die Gerichtsbarkeitsklausel dient damit der Abgrenzung gegenüber anderen gleichrangigen Gerichtsbarkeiten. Sie verknüpft die sachliche Zuständigkeit der Oberverwaltungsgerichte mit der sachlichen Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte. Nur wenn die Verwaltungsgerichte Streitigkeiten um die zu kontrollierende Norm im konkreten Einzelfall zu entscheiden haben, ist auch die sachliche Zuständigkeit des Oberverwaltungsgerichts für die abstrakte Normenkontrolle gegeben. Nur dann kann die abstrakte Normenkontrolle die ihr zugedachte Entlastungsfunktion für eine Mehrzahl verwaltungsgerichtlicher Streitigkeiten erfüllen.

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Für die Zulässigkeit der abstrakten Normenkontrolle reicht die Möglichkeit einer rein inzidenten Befassung der Verwaltungsgerichte mit der angegriffenen Norm aus. Eine Anwendung der angegriffenen Rechtsvorschrift ist zum einen zu bejahen, wenn die von den Verwaltungsgerichten zu prüfenden Verwaltungsakte ihre Ermächtigungsgrundlage in der angegriffenen Rechtsvorschrift finden. Zum anderen liegt sie vor, wenn die angegriffene Rechtsvorschrift im Zusammenhang mit den tatbestandlichen Voraussetzungen einer Ermächtigungsnorm, die ihren Standort nicht in der angegriffenen Rechtsvorschrift hat, (inzidenter) zu prüfen ist. Die gegenteilige Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichtshofs findet bereits im Wortlauf des § 47 Abs. 1 VwGO keine Stütze. Ebenso wenig macht der Zweck der Gerichtsbarkeitsklausel, einen Übergriff der Verwaltungsgerichte in ausschließlich anderen Gerichtsbarkeiten zugewiesene Rechtsbereiche zu verhindern, die vom Verwaltungsgerichtshof vorgenommene Einschränkung erforderlich. Sobald feststeht, dass die angegriffene Norm in verschiedenen verwaltungsgerichtlichen Streitigkeiten geprüft und ggf. angewandt werden muss, besteht keine ausschließliche Zuständigkeit anderer Gerichtsbarkeiten mehr. Umgekehrt entsteht ein Bedürfnis, die vorgreifliche Frage nach der Rechtswirksamkeit der Norm nicht in einer Mehrzahl von erstinstanzlichen Verwaltungsprozessen jeweils inzident zu prüfen, sondern in einem abstrakten Normenkontrollverfahren gleichsam zu konzentrieren. Daher widerspräche es dem Entlastungszweck der Normenkontrolle, deren Zulässigkeit von der Frage abhängig zu machen, ob die angegriffene Norm selbst Ermächtigungsgrundlage eines Verwaltungsakts sein kann oder nur tatbestandliche Voraussetzung einer anderen Befugnisnorm darstellt.

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Gegen die gegenteilige Annahme spricht ferner der systematische Vergleich mit § 47 Abs. 1 Nr. 1 VwGO. Die danach der abstrakten Normenkontrolle unterliegenden Satzungen nach dem Baugesetzbuch – BauGB -, insbesondere die Bebauungspläne nach § 10 BauGB, enthalten ebenfalls regelmäßig keine Befugnisnormen, sondern ermächtigen die Verwaltung nur im Zusammenspiel mit höherrangigen Normen zur Erteilung einer Baugenehmigung oder zu einem anderen Verwaltungshandeln.

Das Auslegungsergebnis steht im Einklang mit der Rechtsprechung der Oberverwaltungsgerichte, die im Rahmen des § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO die Möglichkeit einer rein inzidenten Prüfung als ausreichend angesehen und insbesondere Normenkontrollanträge gegen Sperrbezirksverordnungen zugelassen haben, auch wenn den Sperrbezirksverordnungen selbst keine Ermächtigungsnorm zu entnehmen ist und die damit verbundenen Verbote auf der Grundlage von Befugnisnormen des allgemeinen Polizeirechts durchgesetzt werden6.

Dementsprechend reicht es auch im vorliegenden Fall aus, dass sich bei den Verwaltungsgerichten Rechtsstreitigkeiten ergeben können, in denen die Rechtswirksamkeit der Miethöhesatzung inzident zu prüfen ist. Verlangt der Vermieter einer nach altem Recht geförderten Sozialwohnung ein über die satzungsmäßige Höchstmiete hinausgehendes Entgelt, dann sieht das Landeswohnraumförderungsgesetz ein behördliches Einschreiten durch die Erhebung einer Geldleistung nach § 26 Abs. 1 i.V.m. § 19 Abs. 2 LWoFG oder in Form eines Förderungswiderrufs nach § 33 Abs. 1 LWoFG vor. Die Rechtswirksamkeit der in der Satzung festgesetzten Höchstmiete ist in diesen Fällen bei der verwaltungsgerichtlichen Überprüfung der entsprechenden Verwaltungsakte inzident zu prüfen. Ist die satzungsmäßige Festsetzung der höchstzulässigen Miete rechtswirksam, dann ist die Erhebung einer Geldleistung nach § 26 Abs. 1 i.V.m. § 19 Abs. 2 LWoFG oder ein Förderungswiderruf nach § 33 Abs. 1 LWoFG grundsätzlich möglich. Ist sie unwirksam, dann sind auch die entsprechenden Sanktionsbescheide rechtsfehlerhaft. Aus diesen Gründen entspricht es auch dem von § 47 Abs. 1 VwGO verfolgten Prinzip der Prozessökonomie, die abstrakte Normenkontrolle in Bezug auf die Miethöhesatzung zuzulassen.

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Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 18. April 2013 – 5 CN 1.12

  1. BVerwG, Beschluss vom 27.07.1995 – 7 NB 1.95, BVerwGE 99, 88, 96 = Buchholz 451.22 § 3 Abfallbeseitigung Nr. 1 S. 8[]
  2. vgl. BVerwG, Urteil vom 03.11.1988 – 7 C 115.86, BVerwGE 80, 355, 358 f. = Buchholz 310 § 40 VwGO Nr. 238 S. 12[]
  3. vgl. BT-Drs. 7/4324 S. 8[]
  4. BT-Drs. 3/55 S. 33[]
  5. BGBl I S. 17[]
  6. vgl. HJess VGH, Urteil vom 31.10.2003 – 11 N 2952/00, NVwZ-RR 2004, 470; Nds. OVG, Urteil vom 24.10.2002 – 11 KN 4073/01, NdsVBl 2003, 154; Sächs. OVG, Beschluss vom 15.12.1998 – 3 S 428/94, SächsVBl 1999, 159; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 16.08.1978 – I 2576/77, DÖV 1978, 848[]