Widerrufsrecht bei Auflösungsverträgen

§ 23 MTV Einzelhandel Baden-Württemberg i.d.F. vom 10.06.2011 räumt dem Arbeitnehmer nur bei sog. echten Auflösungsverträgen ein Widerrufsrecht ein. Auf Abwicklungsvereinbarungen ist die Vorschrift nicht anwendbar. Dies gilt auch dann, wenn die Abwicklungsvereinbarung in einer Drucksituation entstanden ist.

Widerrufsrecht bei Auflösungsverträgen

Unter einem Auflösungsvertrag wird im Arbeitsleben allgemein ein Vertrag verstanden, durch den ein Arbeitsverhältnis aufgrund einer Willenseinigung der Parteien endet.

Ein Abwicklungsvertrag löst das Arbeitsverhältnis nicht selbst auf, sondern regelt nur die Modalitäten zur Beendigung eines Arbeitsverhältnisses. Er setzt einen zeitlich vorgeschalteten Beendigungsgrund, in der Regel eine Kündigung, voraus.

§ 23 MTV Einzelhandel Baden-Württemberg gilt nicht für Abwicklungsvereinbarungen. Das ergibt die Auslegung der Tarifvorschrift.

Die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrags folgt den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Somit ist zunächst vom Tarifwortlaut auszugehen, wobei der maßgebliche Sinn der Erklärung zu erforschen ist, ohne am Buchstaben zu haften. Bei nicht eindeutigem Tarifwortlaut ist der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien mit zu berücksichtigen, soweit er in den tariflichen Normen seinen Niederschlag gefunden hat. Abzustellen ist ferner auf den tariflichen Gesamtzusammenhang, weil dieser Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien liefern und nur so der Sinn und Zweck der Tarifnorm zutreffend ermittelt werden kann. Lässt dies zweifelsfreie Auslegungsergebnisse nicht zu, können die Gerichte für Arbeitssachen ohne Bindung an die Reihenfolge weitere Kriterien wie die Entstehungsgeschichte des Tarifvertrags, gegebenenfalls auch die praktische Tarifübung ergänzend hinzuziehen. Auch die Praktikabilität denkbarer Auslegungsergebnisse gilt es zu berücksichtigen; im Zweifel gebührt derjenigen Tarifauslegung der Vorzug, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Regelung führt1.

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Nach diesen Kriterien findet § 23 MTV Baden-Württemberg nur auf „echte“ Auflösungsverträge Anwendung.

Dies folgt bereits aus dem Wortlaut der Vorschrift, der ausdrücklich von Auflösungsverträgen und nicht von Abwicklungsverträgen spricht. Unter einem Auflösungsvertrag wird im Arbeitsleben allgemein ein Vertrag verstanden, durch den ein Arbeitsverhältnis aufgrund einer Willenseinigung der Parteien endet. Es handelt sich mithin um Verträge, die konstitutiv die Auflösung eines Arbeitsverhältnisses bewirken. Im Unterschied hierzu löst der Abwicklungsvertrag das Arbeitsverhältnis nicht selbst auf, der Abwicklungsvertrag regelt nur die Modalitäten zur Beendigung eines Arbeitsverhältnisses. Er setzt einen zeitlich vorgeschalteten Beendigungsgrund, in der Regel eine Kündigung, voraus. Bedienen sich die Tarifvertragsparteien in einem Tarifvertrag eines Begriffs, der in der Rechtsterminologie eine bestimmte Bedeutung hat, dann ist davon auszugehen, dass sie diesen Begriff in seiner allgemeinen rechtlichen Bedeutung angewendet wissen wollen2.

Für die Auslegung des Arbeitnehmers, § 23 MTV Baden-Württemberg erfasse aufgrund seines Sinns und Zwecks gleichermaßen Auflösungsverträge/Aufhebungsverträge wie Abwicklungsverträge, gibt es keine Anhaltspunkte. Allein das vom Arbeitnehmer behauptete Schutzbedürfnis rechtfertigt es nicht, den Tarifvertragsparteien eine Regelung zu unterstellen, die diese nicht treffen wollten. Das Postulat der Gleichheit der Interessenlage kann den im Wortlaut einer Vorschrift zum Ausdruck kommenden Willen der Tarifvertragsparteien nicht unterlaufen.

Der Arbeitnehmer selbst führt aus, der Begriff des Abwicklungsvertrages existiere erst seit dem Jahr 1994. Der Inhalt und Wortlaut des § 23 MTV Baden-Württemberg entsprach im Wesentlichen bereits vor dem Jahr 1994 der heute aktuellen Fassung. Seit dem 13.01.1994 ist der Wortlaut der Vorschrift unverändert. War den Tarifvertragsparteien in den 1980er Jahren der Begriff des Abwicklungsvertrages überhaupt nicht bekannt, ist es ausgeschlossen, dass die Tarifvertragsparteien mit dem Begriff des Auflösungsvertrages auch Abwicklungsverträge gemeint haben konnten. Trotz Änderung der arbeitsrechtlichen Praxis und dem zunehmenden Auftreten des Abwicklungsvertrages ab dem Jahr 1994 änderten die Tarifvertragsparteien den Wortlaut der Vorschrift des § 23 MTV Baden-Württemberg dagegen nicht. Es wäre dabei ein Leichtes gewesen, die geänderte Praxis der Abwicklungsverträge in § 23 MTV Baden-Württemberg zu berücksichtigen. Da die Tarifvertragsparteien die Regelung nicht (klarstellend) änderten, kann daraus nur der Schluss gezogen werden, dass die Tarifvertragsparteien die ursprüngliche Bedeutung des Begriffes des Auflösungsvertrages wie vor dem Jahr 1994 beibehalten wollten.

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Das Bundesarbeitsgericht hat dann auch bereits in seiner Entscheidung vom 24.01.19853 entschieden, dass bei einer vergleichbaren Tarifvorschrift des Einzelhandels in Nordrhein-Westfalen der Begriff des „Auflösungsvertrages“ nicht auf den Fall einer Eigenkündigung des Arbeitnehmers, die aufgrund des Drucks des Arbeitgebers zustande kam, ausgeweitet werden kann. Es hat damit der erweiternden Auslegung einer vergleichbaren Tarifvorschrift aufgrund behaupteter vergleichbarer Interessenlage eine Absage erteilt. Vorliegend kann nichts anderes gelten. Dementsprechend spielt es auch keine Rolle, ob, wie der Arbeitnehmer meint, die Schutzregelung des § 23 MTV Baden-Württemberg vollständig ausgehebelt würde, wenn Abwicklungsverträge nicht erfasst würden. Allein entscheidend ist der in der tariflichen Regelung zum Ausdruck gebrachte Wille der Tarifvertragsparteien. Der kann jedoch, wie dargelegt, nicht im Sinne des Arbeitnehmers verstanden werden.

Es handelt sich im Streitfall auch bei der Vereinbarung vom 20.09.2013 um einen Abwicklungsvertrag im oben genannten Sinne. Es bestehen zum Schluss der mündlichen Verhandlung keine Zweifel darüber, dass die Beklagte zunächst die streitgegenständlichen Kündigungen aussprach und der Arbeitnehmer erst im Anschluss, frühestens nach Ablauf einer Minute, die Abwicklungsvereinbarung unterzeichnete. Hatte der Arbeitnehmer noch in der Klageschrift zu suggerieren versucht, die Beklagte habe die übergegebene Kündigung nicht ausgesprochen, sondern nur mit dem Ausspruch der Kündigung gedroht, um offenbar den Weg zu einem „echten“ Aufhebungsvertrag zu ebnen, änderte der Arbeitnehmer seinen Sachvortrag mit Schriftsatz vom 13.02.2014 auf die Klageerwiderung der Beklagten dahin, dass die Beklagte zunächst die Kündigung übergab und es hierbei nach Erklärung der Beklagten verbleiben sollte, wenn der Arbeitnehmer den Abwicklungsvertrag nicht unterzeichne. In der Arbeitsgerichtverhandlung vom 08.04.2014 räumte der Arbeitnehmer dann noch ein, dass zwischen der Aushändigung der Kündigung und der Unterzeichnung des Abwicklungsvertrages eine Zeitspanne von ca. einer Minute gelegen habe. Für die Einordnung der Vereinbarung vom 20.09.2013 als Abwicklungsvertrag spielt es dann keine Rolle, ob zwischen Übergabe der Kündigung und Unterzeichnung der Vereinbarung ca. eine Minute, so der Arbeitnehmer, oder ca. zehn Minuten, so die Beklagte, lagen. In jedem Fall fielen die Übergabe und Ausspruch der Kündigung und die Unterzeichnung des Abwicklungsvertrages in hinreichendem Maße auseinander. Dabei übersieht das Arbeitsgericht nicht, dass sich die Drucksituation, in der sich der Arbeitnehmer im Personalgespräch befand, weder nach einer Minute nach Übergabe der Kündigung noch nach einem fortgeführten Gespräch von weiteren zehn Minuten geändert haben dürfte. Der Arbeitnehmer wird die Unterzeichnung der Vereinbarung stets unter dem Eindruck der ansonsten fristlosen Beendigung des Arbeitsverhältnisses getroffen haben. Hierauf kommt es für die Qualifizierung des Rechtscharakters der Vereinbarung vom 20.09.2013 jedoch nicht an.

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Es kommt auch keine ergänzende Tarifauslegung bzw. analoge Anwendung des § 23 MTV Baden-Württemberg in Betracht. Tarifvertragliche Regelungen sind einer ergänzenden Auslegung grundsätzlich nur dann zugänglich, wenn damit kein Eingriff in die durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Tarifautonomie verbunden ist. Eine ergänzende Auslegung eines Tarifvertrages scheidet daher aus, wenn die Tarifvertragsparteien eine regelungsbedürftige Frage bewusst ungeregelt lassen und diese Entscheidung höherrangigem Recht nicht widerspricht4. Vorliegend ist von einer bewussten Regelungslücke auszugehen. Bei Erschaffung der Vorschrift in den 80er Jahren war die Praxis der Abwicklungsverträge nicht bekannt. Zum damaligen Zeitpunkt konnte daher eine Regelungslücke nicht bestehen. Trotz des Urteils des BAG vom 24.01.19855 und der sich zunehmenden Verbreitung der Abwicklungsverträge haben die Tarifvertragsparteien hierauf nicht reagiert. Hieraus kann, wie unter II. oben dargestellt, nur der Schluss gezogen werden, dass die Tarifvertragsparteien dem Arbeitnehmer kein allgemeines Widerrufsrecht in Drucksituationen bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses zubilligen wollten. Es entstand demnach auch keine unbewusste Regelungslücke infolge der Praxis der Abwicklungsverträge. Die allgemeine Problematik über die Reichweite des Begriffs des Auflösungsvertrages ist bereits seit den 1980er Jahren diskutiert worden. Trotz mehrfacher Änderungen des Manteltarifvertrages blieb § 23 MTV Baden-Württemberg seit dem Jahr 1994 dagegen unverändert. Es muss den Tarifvertragsparteien überlassen bleiben, den Anwendungsbereich einer Tarifvorschrift zu bestimmen.

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Arbeitsgericht Freiburg, Urteil vom 8. April 2014 – 5 Ca 395/13

  1. ständige Rechtsprechung des BAG, etwa 26.03.2013, 3 AZR 68/11 – Rdnr. 25 – mit weiteren Nachweisen[]
  2. ständige Rechtsprechung des BAG, etwa 24.01.1985, 2 AZR 67/84[]
  3. BAG 24.01.1985 – 2 AZR 67/84[]
  4. vgl. BAG 12.12.2013, 8 AZR 942/12; 23.04.2013, 3 AZR 23/11[]
  5. 2 AZR 67/84[]