Bei der Anordnung und Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft ist das Spannungsverhältnis zwischen dem in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleisteten Recht des Einzelnen auf persönliche Freiheit und den unabweisbaren Bedürfnissen einer wirksamen Strafverfolgung zu beachten, wobei dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine maßgebliche Bedeutung zukommt.

Hierzu führt das BVerfG im Beschluss vom 17.01.2013 – 2 BvR 2098/12 – (juris) unter anderem aus:
Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist nicht nur für die Anordnung, sondern auch für die Dauer der Untersuchungshaft von Bedeutung. Er verlangt, dass die Dauer der Untersuchungshaft nicht außer Verhältnis zur erwarteten Strafe steht, und setzt ihr auch unabhängig von der Straferwartung Grenzen1. Das Gewicht des Freiheitsanspruchs vergrößert sich gegenüber dem Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung regelmäßig mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft2. Daraus folgt, dass die Anforderungen an die Zügigkeit der Arbeit in einer Haftsache mit der Dauer der Untersuchungshaft steigen.
Das verfassungsrechtlich in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG verankerte Beschleunigungsgebot in Haftsachen3 verlangt, dass die Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen und eine gerichtliche Entscheidung über die einem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen. An den zügigen Fortgang des Verfahrens sind dabei umso strengere Anforderungen zu stellen, je länger die Untersuchungshaft schon andauert. Zur Durchführung eines geordneten Strafverfahrens und einer Sicherstellung der späteren Strafvollstreckung kann die Untersuchungshaft deshalb nicht mehr als notwendig anerkannt werden, wenn ihre Fortdauer durch vermeidbare Verfahrensverzögerungen verursacht ist.
Bei absehbar umfangreicheren Verfahren ist daher stets eine vorausschauende, auch größere Zeiträume umgreifende Hauptverhandlung mit mehr als einem durchschnittlichen Hauptverhandlungstag pro Woche notwendig4. Von dem Beschuldigten nicht zu vertretende, sachlich nicht gerechtfertigte und vermeidbare erhebliche Verfahrensverzögerungen stehen regelmäßig einer weiteren Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft entgegen5.
Die Anforderungen des Beschleunigungsgebots mindern sich auch nicht grundsätzlich deswegen, weil – wie auch vorliegend – Gegenstand des Verfahrens Taten von hohem Gewicht sind und eine hohe Gesamtstraferwartung im Raum steht. Allein diese Faktoren können jedenfalls bei erheblichen vermeidbaren und dem Staat zuzurechnenden Verfahrensverzögerungen nicht zur weiteren Rechtfertigung einer ohnehin schon lang andauernden Untersuchungshaft herangezogen werden6.
Es kann dahinstehen, ob der bisherige Verlauf der nunmehr zum zweiten Mal krankheitsbedingt ausgesetzten Hauptverhandlung dem Beschleunigungsgebot ausnahmslos genügt hat. Jedenfalls ist ein Verstoß gegen selbiges durch den geplanten weiteren Verlauf des Strafverfahrens hinreichend sicher absehbar, was einem bereits erfolgten Verstoß gleichsteht7.
Zumindest nach jetzigem Erkenntnisstand handelt es sich ersichtlich um ein absehbar umfangreiches Verfahren, das nach der Rechtsprechung des BVerfG8 die Durchführung von mehr als einem durchschnittlichen Hauptverhandlungstag pro Woche gebietet, zumal sich die Angeklagten zum nunmehr ins Auge gefassten erneuten Beginn der Hauptverhandlung am 12.11.2013 (unter Berücksichtigung etwa verbüßter Auslieferungshaft) seit über 18 Monaten in Untersuchungshaft befinden würden.
Aufgrund der von der Strafkammer vorgelegten Neuterminierung sind in der Zeit vom 12.11.2013 bis zum 28.02.2014 insgesamt 18 Verhandlungstage geplant. Dies entspricht einer Verhandlungsdichte von 1, 2 Tagen pro Woche.
So wenig sich der Rechtsprechung des BVerfG ein Rechtssatz dahin gehend entnehmen lässt, dass das in Haftsachen geltende Beschleunigungsgebot stets verletzt wäre, wenn die Hauptverhandlung in einer Haftsache an durchschnittlich weniger als einem Tag pro Woche stattfindet9, ist umgekehrt ein Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot nicht schon deshalb ausgeschlossen, weil die Verhandlungsdichte knapp über dieser Schwelle liegt. Vielmehr ist stets im Einzelfall zu prüfen, ob der Verfahrensgang und mithin auch die Terminsdichte unter weitergehender Berücksichtigung der (geplanten) Dauer der einzelnen Terminstage, dem erforderlichen Ausgleich zwischen dem Freiheitsanspruch des Beschuldigten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG einerseits und den unabweisbaren Bedürfnissen effektiver Strafverfolgung andererseits noch gerecht wird. Insoweit steigen auch die Anforderungen an die Terminierungsdichte mit der fortschreitenden Dauer der Untersuchungshaft10.
In Anbetracht der Dauer der zum Zeitpunkt der erneut beginnenden Hauptverhandlung bereits vollzogenen Untersuchungshaft und der zu erwartenden erheblichen weiteren Verfahrensdauer genügt die nunmehr ins Auge gefasste Verhandlungsdichte selbst bei ganztägig geplanter Terminierung den Anforderungen an das Beschleunigungsgebot nicht mehr. Eine dichtere Terminierung lässt die Personalsituation der Kammer nach den Ausführungen des Vorsitzenden zu ihrer Besetzung und Belastung mit anderen Haftsachen ersichtlich nicht zu, zumal die Überlastungsanzeige der Kammer das Präsidium lediglich zur Nachbesetzung im Hinblick auf den krankheitsbedingt verhinderten Berichterstatter, nicht aber zur Einrichtung einer Hilfsstrafkammer oder anderer die Geschäftsbelastung spürbar mindernder Maßnahmen veranlasst hat, so dass hinreichend sicher absehbar ist, dass es auch im weiteren Verlauf zu keiner wesentlich größeren Terminsdichte und mithin zu bereits jetzt absehbaren und mit dem Beschleunigungsgebot nicht mehr vereinbaren Verzögerungen kommen wird7. Diese beruhen auch nicht auf einer nur kurzfristigen Überlastungssituation der befassten Kammer. Eine solche besteht, wie nicht zuletzt auch die zumindest grenzwertige Terminierungsdichte der zuletzt ausgesetzten Hauptverhandlung zeigt, vielmehr bereits seit längerer Zeit. Spätestens seit dem Eingang von insgesamt 8 KLs- bzw. Ks-Verfahren im Zeitraum vom 01.08.2013 bis zum 10.10.2013, in welchen sich Beschuldigte ebenfalls in Untersuchungshaft befinden, ist sie evident und offensichtlich mit der gegebenen Besetzung der Kammer auch nicht zu beheben. Aufgrund der aktuellen Beschlussfassung des Präsidiums vom 28.10.2013 wird sie auch auf unbestimmte Zeit andauern. Als wichtiger Grund im Sinne von § 121 Abs. 1 StPO kann sie daher nicht (länger) angesehen werden11.
Die Angeklagten haben es nicht zu vertreten, wenn ihre Haftsache nicht binnen angemessener Zeit zur Verhandlung bzw. zu einem Abschluss gelangt, weil dem Gericht die personellen oder sächlichen Mittel fehlen, die zur ordnungsgemäßen Bewältigung des Geschäftsanfalls erforderlich wären12. Nichts anders gilt dann, wenn innerhalb des Gerichts bei nicht nur kurzfristiger Überlastung der mit Haftsachen befassten Spruchkörper durch die für die Binnenverteilung der Geschäfte zuständigen Präsidien – gegebenenfalls unter unvermeidbarer Hintanstellung anderer, von Verfassungs wegen weniger eilbedürftiger Geschäftsbereiche – keine rasche Abhilfe geschaffen wird, die es den mit Haftsachen befassten Spruchkörpern ermöglicht – ggf. auch unter Inanspruchnahme eines nach pflichtgemäßem Ermessen für notwendig erachteten Ergänzungsrichters – dem Beschleunigungsgebot vollumfänglich gerecht zu werden.
Nach alledem waren die gegen die Angeklagten ergangenen Haftbefehle mit der Folge der Freilassung der Angeklagten aufzuheben.
Oberlandesgericht Stuttgart, Beschluss vom 4. November 2013 – 4a HEs 154 – 159/12; 4a HEs 154 ‑159/12; 4a HEs 154/12; 4a HEs 155/12; 4a HEs 156/12; 4a HEs 157/12; 4a HEs 158/12; 4a HEs 159/12; 4 Ws 24/13; 4 Ws 32/13
- BVerfGE 20, 45 <49 f.>[↩]
- vgl. BVerfGE 36, 264 <270>; 53, 152 <158 f.>[↩]
- vgl. BVerfGE 46, 194 <195>[↩]
- vgl. BVerfGK 7, 21 <46 f.>; 7, 140 <157>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Oberlandesgerichts vom 23.01.2008 – 2 BvR 2652/07 52[↩]
- vgl. BVerfGK 17, 517 <523>[↩]
- vgl. BVerfG, 16.03.2006, 2 BvR 170/06, BVerfGK 7, 421 <428>; BVerfG, EuGRZ 2009, 414 <416>[↩]
- BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 19.09.2007 – 2 BvR 1850/07 – 5[↩][↩]
- BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 19.09.2007 – 2 BvR 1850/07 – 7 m.w.N.[↩]
- vgl. OLG Stuttgart, Beschluss vom 26.08.2013, 1 Ws 166/13, zur Veröffentlichung vorgesehen[↩]
- BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 23.01.2008 – 2 BvR 2652/07 – 49[↩]
- BVerfG, Kammerbeschluss vom 06.08.1990 – 2 BvR 918/90 – 11; Meyer-Goßner, StPO, 56. Auflage, § 121 Rn. 22 m.w.N.[↩]
- BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 04.05.2011 – 2 BvR 2781/10 – 17ff; BVerfGE 36, 264, 274[↩]