Anordnung der Untersuchungshaft – und die Unschuldsvermutung

Bei der Anordnung und Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft ist das Spannungsverhältnis zwischen dem in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleisteten Recht des Einzelnen auf persönliche Freiheit und den unabweisbaren Bedürfnissen einer wirksamen Strafverfolgung zu beachten.

Anordnung der Untersuchungshaft – und die Unschuldsvermutung

Der Entzug der Freiheit eines der Straftat lediglich Verdächtigen ist wegen der Unschuldsvermutung, die ihre Wurzel im Rechtsstaatsprinzip des Art.20 Abs. 3 GG hat und auch in Art. 6 Abs. 2 EMRK ausdrücklich hervorgehoben ist1, nur ausnahmsweise zulässig. Dabei muss den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlich und zweckmäßig erscheinenden Freiheitsbeschränkungen der Freiheitsanspruch des noch nicht rechtskräftig verurteilten Beschuldigten als Korrektiv gegenübergestellt werden, wobei dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine maßgebliche Bedeutung zukommt2.

Im Hinblick auf die besondere Bedeutung des Rechts auf Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG i.V.m. Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG) ist der Grundrechtsschutz bereits durch die Verfahrensgestaltung zu bewirken3. Unverzichtbare Voraussetzung eines rechtsstaatlichen Verfahrens ist, dass Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf zureichender richterlicher Sachaufklärung beruhen4 und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage haben, die der Bedeutung der Freiheitsgarantie entspricht5. Haftfortdauerentscheidungen unterliegen einer erhöhten Begründungstiefe6.

Die mit Haftsachen betrauten Gerichte haben sich bei der zu treffenden Entscheidung über die Fortdauer der Untersuchungshaft mit deren Voraussetzungen eingehend auseinanderzusetzen und diese entsprechend zu begründen7. In der Regel sind in jedem Beschluss über die Anordnung der Fortdauer der Untersuchungshaft aktuelle Ausführungen zu dem weiteren Vorliegen ihrer Voraussetzungen, zur Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Beschuldigten und dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit sowie zur Frage der Verhältnismäßigkeit geboten, weil sich die dafür maßgeblichen Umstände angesichts des Zeitablaufs in ihrer Gewichtigkeit verschieben können8. Die zugehörigen Ausführungen müssen in Inhalt und Umfang eine Überprüfung des Abwägungsergebnisses am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht nur für den Betroffenen selbst, sondern auch für das die Anordnung treffende Fachgericht im Rahmen einer Eigenkontrolle gewährleisten und in sich schlüssig und nachvollziehbar sein9. Die fachgerichtlichen Ausführungen müssen hierzu die maßgeblichen Umstände des jeweiligen Einzelfalls umfassend berücksichtigen und regelmäßig auch den gegen das Vorliegen eines Haftgrundes sprechenden Tatsachen Rechnung tragen, um die (Prognose-)Entscheidung des Gerichts auch intersubjektiv nachvollziehbar zu machen10. Eine Überprüfung der fachgerichtlichen Entscheidung auf die zutreffende Anwendung einfachen Rechts nimmt das Bundesverfassungsgericht hingegen ausschließlich im Rahmen des Willkürverbots vor11.

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Mit einer gerichtlichen Verurteilung vergrößert sich auch das Gewicht des staatlichen Strafanspruchs, weil aufgrund der durchgeführten Beweisaufnahme die Begehung einer Straftat durch den Verurteilten als erwiesen angesehen worden ist12. Der Umstand, dass das Urteil noch nicht rechtskräftig ist, rechtfertigt keine andere Beurteilung, denn die Einlegung eines Rechtsmittels hindert lediglich die Vollstreckung der durch das angegriffene Urteil ausgesprochenen Sanktionen bis zur Überprüfung durch das nächsthöhere Gericht, beseitigt indessen nicht die Existenz des angegriffenen Urteils und damit den Umstand, dass auf der Grundlage eines gerichtlichen Verfahrens bereits ein Schuldnachweis gelungen ist12. Gleichwohl rechtfertigt dieser Gesichtspunkt noch nicht, dass der Verurteilte jedenfalls bis zum Zeitpunkt der Vollverbüßung der ausgesprochenen Strafe in Untersuchungshaft gehalten werden kann; die verhängte Freiheitsstrafe kann nicht ohne weiteres als Maßstab für die mögliche Länge der Untersuchungshaft dienen, weil dies mit dem Resozialisierungszweck der Strafhaft in ein Spannungsverhältnis tritt12. Wird die verhängte Freiheitsstrafe durch Anrechnung der Untersuchungshaft zum überwiegenden Teil oder gar vollständig verbüßt, so können die im Rahmen des Vollzuges der Strafhaft möglichen Maßnahmen zur Resozialisierung nur in geringem Ausmaß oder überhaupt keine Wirkung entfalten13.

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 18. September 2018 – 2 BvR 745/18

  1. vgl. BVerfGE 19, 342, 347; 74, 358, 371[]
  2. vgl. grundlegend BVerfGE 19, 342, 347 sowie BVerfGE 20, 45, 49 f.; 36, 264, 270; 53, 152, 158 f.; BVerfGK 15, 474, 479[]
  3. vgl. hierzu BVerfGE 53, 30, 65; BVerfG, Beschluss vom 22.08.2017 – 2 BvR 2039/16 41; Beschluss vom 13.10.2016 – 2 BvR 1275/16 47[]
  4. vgl. BVerfGE 58, 208, 222[]
  5. vgl. BVerfGE 58, 208, 230; BVerfG, Beschluss vom 16.11.2016 – 2 BvR 151/15 23; Beschluss vom 22.08.2017 – 2 BvR 2039/16 41[]
  6. vgl. BVerfGE 103, 21, 35 f.; BVerfGK 7, 140, 161; 10, 294, 301; 15, 474, 481; 19, 428, 433; BVerfG, Beschluss vom 22.01.2014 – 2 BvR 2248/13 u.a. 38[]
  7. vgl. BVerfG, Beschluss vom 17.01.2013 – 2 BvR 2098/12 42[]
  8. vgl. BVerfGK 7, 140, 161; 10, 294, 301; 15, 474, 481; 19, 428, 433; BVerfG, Beschluss vom 22.01.2014 – 2 BvR 2248/13 u.a. 38[]
  9. vgl. BVerfGK 7, 421, 429 f.; 8, 1, 5 f.; 15, 474, 481 f.; BVerfG, Beschluss vom 22.01.2014 – 2 BvR 2248/13 u.a. 39; Beschluss vom 30.07.2014 – 2 BvR 1457/14 25; Beschluss vom 20.12 2017 – 2 BvR 2552/1719, m.w.N.[]
  10. vgl. BVerfG, Beschluss vom 25.06.2018 – 2 BvR 631/18 34[]
  11. vgl. BVerfGE 18, 85, 92 f.; 65, 317, 322; stRspr[]
  12. vgl. BVerfGK 7, 140, 161[][][]
  13. vgl. BVerfGK 7, 140, 161 f.[]
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