Die Anrechung von Abschiebehaft setzt u.a. voraus, dass Anlass für die im Ausland erfahrene Freiheitsentziehung diejenige Tat gewesen ist, die den Gegenstand des deutschen Strafverfahrens bildet oder gebildet hat. Bei im Ausland erlittener Abschiebehaft kommt es – anders als bei der Auslieferungshaft – auf den Einzelfall an.

Die Anrechnung einer erlittenen Untersuchungshaft oder sonstigen Freiheitsentziehung gemäß § 51 Abs.1 Satz 1 StGB obliegt grundsätzlich nicht dem Gericht, sondern folgt aus dem Gesetz, welches sich unmittelbar an die zuständige Strafvollstreckungsbehörde richtet; dieser kommt die Aufgabe zu, bei der Strafzeitberechnung den bis zur Rechtskraft des Urteils anrechenbaren Freiheitsentzug von der Strafe abzuziehen. Wirkt der gerichtliche Ausspruch deshalb lediglich deklaratorisch, ist er überflüssig und kann entfallen, weil er die gesetzlich gebotene Anrechnung nicht zu beeinflussen vermag1.
Anderes gilt indessen in Fällen wie dem vorliegenden, in denen der Richter nach § 51 Abs. 4 Satz 2 StGB den Maßstab der Anrechnung im Ausland erlittener Freiheitsentziehung in jedem Falle nach seinem Ermessen zu bestimmen hat; in dieser Konstellation ist die Anrechnungsanordnung nach § 51 Abs. 3 StGB im Urteil ausdrücklich auszusprechen2. Hiermit werden zugleich etwaige Zweifel an der Anrechnung mit bindender Wirkung ausgeräumt3.
Im hier entschiedenen Fall bedeutet dies: Die Wertung des Oberlandesgerichts, die von der Angeklagten in der Türkei erlittene Freiheitsentziehung sei gemäß § 51 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Satz 2 StGB auf die erkannte Freiheitsstrafe anrechenbar, findet in den Feststellungen keine sichere Grundlage. Sie wäre dann ohne Weiteres zutreffend, wenn die Angeklagte tatsächlich unter dem Vorwurf der Mitgliedschaft im IS im Rahmen eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens türkischer Strafverfolgungsbehörden festgenommen worden und der Sache nach in dem Abschiebezentrum Untersuchungshaft vollstreckt worden wäre. Ein solcher Hergang kann nach den getroffenen Feststellungen zwar nicht ausgeschlossen werden; weitaus näher liegt mit Rücksicht auf die Unterbringung der Angeklagten in einem Abschiebezentrum und ihre Überstellung an die Bundesrepublik Deutschland indessen die Annahme, dass sie – mit Blick auf tatsächlich bestehende Verdachtsmomente bezüglich einer Beteiligung am IS – außerhalb eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens in Abschiebehaft genommen wurde. Auch in diesem Fall, der ebenfalls von den getroffenen Feststellungen gedeckt sein könnte, wäre eine Anrechnung nicht ausgeschlossen.
Allerdings erfordert die Anrechnung von Abschiebehaft gemäß § 51 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Satz 2 StGB das Vorliegen weiterer einschränkender Voraussetzungen. Insoweit gilt das Folgende4:
Die Vorschriften setzen voraus, dass Anlass für die im Ausland erfahrene Freiheitsentziehung diejenige Tat gewesen ist, die den Gegenstand des deutschen Strafverfahrens bildet oder gebildet hat (sog. Grundsatz der Verfahrenseinheit)5.
So liegt es regelmäßig bei der Auslieferungshaft.
Bei im Ausland erlittener Abschiebehaft kommt es auf den Einzelfall an:
- Sie ist dann anrechenbar, wenn sich eine sachlich nicht gerechtfertigte Benachteiligung des Verurteilten, der sich in Abschiebehaft befunden hat, gegenüber solchen ergibt, die Auslieferungshaft durchlebt haben6. Denn nach Sinn und Zweck von § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB soll jede Art von Freiheitsentziehung, die aus Anlass der Tat stattgefunden hat, auf die ausgesprochene Strafe angerechnet werden, unabhängig davon, ob die Freiheitsentziehung nach den Vorschriften der Strafprozessordnung erfolgt ist oder aufgrund anderer Regelungen, unabhängig auch davon, ob deutsche oder ausländische Behörden die Freiheitsentziehung angeordnet haben. Eine im Ausland erlittene Abschiebehaft ist daher anzurechnen, wenn sie durch die Tat infolge der internationalen Fahndung durch die deutschen Behörden veranlasst gewesen ist7. In diesen Fällen der „Auslieferung durch Abschiebung“ liegt die von § 51 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Satz 2 StGB vorausgesetzte funktionale Verfahrenseinheit zwischen der Auslandshaft und dem deutschen Strafverfahren vor. Die Anrechnung ist dann Ausfluss des Freiheitsrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG8.
- Ist die Abschiebehaft dagegen auf kein – in- oder ausländisches – Strafverfahren, sondern auf andere Umstände zurückzuführen, besteht für eine Anrechnung prinzipiell kein sachlicher Grund. Dann gilt, dass der Angeklagte durch die Anrechnung der ausländischen Haft nicht besser stehen soll, als er gestanden hätte, wenn das gesamte Tatgeschehen im Inland abgeurteilt worden wäre9. Insoweit ist eine Differenzierung zwischen Auslieferungs- und Abschiebehaft sachlich gerechtfertigt6.
Nach diesen Maßstäben konnte im vorliegenden Fall vom Bundesgerichtshof auf Grundlage der bisherigen Feststellungen nicht entschieden werden, ob die gegen die Angeklagte in der Türkei vollzogene Haft – auch für den Fall, dass es sich nach dortiger Rechtsanwendung um Abschiebehaft gehandelt haben sollte – eine anrechnungsfähige, im Ausland erlittene Freiheitsentziehung gemäß § 51 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Satz 2 StGB darstellt; denn es fehlt diesbezüglich an jeglichen Feststellungen dazu, ob seitens deutscher Behörden überhaupt ein Auslieferungsverfahren angestrengt oder sonstige – gegebenenfalls auch informelle – Bemühungen um eine Überstellung der Angeklagten entfaltet wurden und bereits diese dazu führten, dass die Angeklagte seitens der türkischen Behörden in die Bundesrepublik Deutschland abgeschoben wurde. Allein der Umstand, dass die türkischen Behörden beabsichtigt haben könnten, die Angeklagte vom türkischen Staatsgebiet zunächst nach Syrien, sodann – auf ihren entsprechenden Wunsch – nach Deutschland zu entfernen, weil Anhaltspunkte für ihre Eingliederung in eine terroristische Vereinigung bestanden, führt noch nicht zu einer Anrechnung der Freiheitsentziehung. Wenn die Haft keinen Bezug zu einer Ahndung einer etwaigen Straftat – in der Türkei oder in Deutschland – aufgewiesen hätte, dürfte ihr Anlass eine nach türkischem Recht bestehende Ausreisepflicht wegen unrechtmäßigen Aufenthalts gewesen sein.
Bundesgerichtshof, Urteil vom 1. Juli 2021 – 3 StR 473/20
- vgl. BGH, Beschlüsse vom 12.10.1977 – 2 StR 410/77, BGHSt 27, 287, 288; vom 04.08.1983 – 4 StR 236/83, NStZ 1983, 524; vom 07.04.1994 – 1 StR 166/94, NStZ 1994, 335 f.; MünchKomm-StGB/Maier, 4. Aufl., § 51 Rn. 7; Fischer, StGB, 68. Aufl., § 51 Rn. 4, 22 jew. mwN[↩]
- vgl. BGH, Beschlüsse vom 05.03.1982 – 3 StR 56/82, NStZ 1982, 326; vom 17.02.2015 – 3 StR 505/14 5; Urteile vom 14.11.1979 – 3 StR 323/7917; vom 11.07.1985 – 4 StR 293/85 5; SK-StGB/Wolters, 9. Aufl., § 51 Rn. 25; LK/Schneider, 13. Aufl., § 51 Rn. 39 f.; MünchKomm-StGB/Maier, 4. Aufl., § 51 Rn. 46 ff.; SSW-StGB/Eschelbach, 5. Aufl. § 51 Rn. 16; Schönke/Schröder/Kinzig, StGB, 30. Aufl., § 51 Rn. 16 jew. mwN[↩]
- s. LK/Schneider, StGB, 13. Aufl., § 51 Rn. 53, 63[↩]
- vgl. BGH, Beschluss vom 05.08.2020 – 3 StR 231/20 11[↩]
- vgl. etwa BGH, Beschluss vom 13.12.2016 – 3 StR 440/16 4[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 14.01.2005 – 2 BvR 1825/03, BVerfGK 5, 17, 24[↩][↩]
- vgl. BGH, Beschluss vom 10.04.1997 – 5 StR 674/96, BGHR StGB § 51 Abs. 3 Anrechnung 4; ferner BGH, Beschluss vom 05.06.2012 – 4 StR 58/12, NStZ-RR 2012, 271[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 14.01.2005 – 2 BvR 1825/03, BVerfGK 5, 17, 23 f.[↩]
- vgl. BGH, Beschluss vom 13.12.2016 – 3 StR 440/16 4[↩]
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