Eine unzureichend begründete Entscheidung über die Aufrechterhaltung der Auslieferungshaft verletzt den Betroffenen in seinem Freiheitsgrundrecht.

Die Anordnung der Auslieferungshaft stellt ebenso wie die Anordnung der Untersuchungshaft einen staatlichen Eingriff in das Grundrecht auf persönliche Freiheit dar, der nur aufgrund eines Gesetzes und nur dann erfolgen darf, wenn überwiegende Belange des Gemeinwohls dies zwingend gebieten (vgl. Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG)1. Die erforderliche gesetzliche Grundlage für die Anordnung der Auslieferungshaft bildet § 15 Abs. 1 IRG. Während gemäß § 15 Abs. 1 Nr. 1 IRG nach dem Eingang des Auslieferungsersuchens gegen den Verfolgten die Auslieferungshaft dann angeordnet werden kann, wenn die Gefahr besteht, dass er sich dem Auslieferungsverfahren oder der Durchführung der Auslieferung entziehen werde, ermöglicht § 25 IRG eine Außervollzugsetzung eines Auslieferungshaftbefehls, wenn weniger einschneidende Maßnahmen die Gewähr bieten, dass der Zweck der Auslieferungshaft auch durch sie erreicht wird.
Die Auslieferungshaft ist als Maßnahme der internationalen Rechts- und Amtshilfe Teil der gegen den Verfolgten durchgeführten Strafverfolgung insgesamt2. Bei der Anordnung und Aufrechterhaltung der Auslieferungshaft sowie bei der Entscheidung über ihren fortdauernden Vollzug ist – wie auch im Rahmen der Untersuchungshaft – stets das Spannungsverhältnis zwischen dem in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleisteten Recht des Einzelnen auf persönliche Freiheit und den Bedürfnissen einer funktionierenden Strafrechtspflege und eines funktionierenden zwischenstaatlichen Rechtshilfeverkehrs zu beachten. Grundsätzlich darf einer Person nur nach einer rechtskräftigen Verurteilung die Freiheit entzogen werden. Der vorherige Entzug der Freiheit ist wegen der Unschuldsvermutung, die ihre Wurzel im Rechtsstaatsprinzip des Art.20 Abs. 3 GG hat und auch in Art. 6 Abs. 2 EMRK ausdrücklich hervorgehoben ist3, nur ausnahmsweise zulässig. Den zur Durchführung der Auslieferung erforderlich und zweckmäßig erscheinenden Freiheitsbeschränkungen muss daher der Freiheitsanspruch der betroffenen Person als Korrektiv gegenübergestellt werden, wobei dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine maßgebliche Bedeutung zukommt4.
Ferner ist zu berücksichtigen, dass der Grundrechtsschutz auch durch die Verfahrensgestaltung zu bewirken ist5. Verfahren, mit denen die Fortdauer der Haft gerichtlich überprüft wird, müssen deshalb so ausgestaltet sein, dass nicht die Gefahr einer Entwertung der materiellen Grundrechtsposition aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 GG besteht. Dem ist vor allem durch erhöhte Anforderungen an die Begründungstiefe Rechnung zu tragen6. Die mit Haftsachen betrauten Gerichte haben sich mit den Voraussetzungen für den fortdauernden Vollzug der Haft eingehend auseinanderzusetzen und ihre Entscheidungen entsprechend zu begründen. In der Regel sind in jedem Beschluss über die Anordnung beziehungsweise Aufrechterhaltung der Haft aktuelle Ausführungen zu dem (weiteren) Vorliegen der rechtlichen Voraussetzungen, zur Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Betroffenen und den hierzu in Widerstreit stehenden Interessen sowie zur Frage der Verhältnismäßigkeit geboten7.
Diese Ausführungen müssen in Inhalt und Umfang eine Überprüfung des Abwägungsergebnisses am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht nur für den Betroffenen selbst, sondern auch für das die Anordnung treffende Fachgericht im Rahmen einer Eigenkontrolle gewährleisten und in sich schlüssig und nachvollziehbar sein8.
Diesen verfassungsrechtlichen Maßstäben genügte der hier angegriffene Beschluss des Oberlandesgerichts Köln9 nicht:
Bereits die Erwägungen, mit denen das Oberlandesgericht die Fluchtgefahr bejaht, begegnen verfassungsrechtlichen Bedenken. Dass der Beschwerdeführer sich bisher dem Auslieferungsverfahren entzogen habe, geht aus dem Beschluss nicht hervor, auch wenn das Oberlandesgericht dies anzunehmen scheint, wenn es für maßgeblich erachtet, ob der Beschwerdeführer sich durch „weiteres Sichfernhalten“ dem Verfahren entziehen werde. Neben der hohen Strafandrohung, die die Fluchtgefahr nach der bisherigen fachgerichtlichen Rechtsprechung und der Literatur nicht allein zu belegen vermag10, sondern lediglich Ausgangspunkt der vorzunehmenden intensiven Einzelfallprüfung ist11, stützt das Oberlandesgericht seine Beurteilung allein auf die Erwägung, der Beschwerdeführer selbst habe den Schluss auf eine Fluchtgefahr dadurch nahegelegt, dass er die mangelhaften Haftbedingungen und rechtsstaatliche Defizite im Zielstaat gerügt und vorgetragen habe, es bestehe aufgrund seiner Religionszugehörigkeit die Gefahr, in Ungarn zum Opfer erniedrigender Behandlung zu werden. Allein von dem prozessualen Vortrag des anwaltlichen Vertreters zur Zulässigkeit der Auslieferung darauf zu schließen, dass der Beschwerdeführer vorhabe, sich dem Auslieferungsverfahren zu entziehen, erscheint verfassungsrechtlich bedenklich. Denn dies rechtfertigte es, jeden von einem Auslieferungsverfahren Betroffenen, der sich nicht mit dem vereinfachten Verfahren einverstanden erklärt, sondern gerichtlichen Rechtsschutz im Zulässigkeitsverfahren vor den Oberlandesgerichten in Anspruch nimmt, in Auslieferungshaft zu nehmen, ohne dass es auf die weiteren Umstände des Einzelfalls maßgeblich ankäme.
Im Ergebnis kann dahinstehen, ob bereits die Prüfung der Fluchtgefahr in dem angegriffenen Beschluss – unter den erhöhten Anforderungen der verfassungsrechtlichen Überprüfung der fachgerichtlichen Anwendung einfachen Rechts12 – zu seiner Aufhebung führt, weil das Gericht hierin Bedeutung und Tragweite des Freiheitsgrundrechts des Beschwerdeführers verkannt hat.
Jedenfalls genügt die Begründungstiefe der Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen. Während der vom Oberlandesgericht erlassene Auslieferungshaftbefehl keinerlei Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Haftanordnung enthält, besteht die Verhältnismäßigkeitsprüfung in dem angegriffenen Beschluss lediglich aus dem Verweis auf die defizitären Ausführungen zur Fluchtgefahr und der nicht weiter ausgeführten oder belegten Behauptung, weniger einschneidende Maßnahmen kämen nicht in Betracht.
Eine verfassungsrechtlich notwendige, explizite Abwägungsentscheidung des Gerichts, die erkennen lässt, dass es sich unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Einzelfalls, hier etwa der Art, des Umfangs, der Stetigkeit und Dauer des Aufenthalts des Betroffenen im ersuchten Staat sowie der sozialen, familiären, persönlichen und beruflichen Bindungen und bestehender Arbeitsverhältnisse13, ernstlich mit der Frage der Verhältnismäßigkeit der Freiheitsentziehung befasst hat, und die die Gesichtspunkte identifiziert, welche das Gericht als maßgeblich erachtet hat, um ein Überwiegen des Interesses, die Durchführung des Auslieferungsverfahrens und der Auslieferung zu sichern, gegenüber dem Freiheitsgrundrecht des Betroffenen zu rechtfertigen, fehlt in dem angegriffenen Beschluss.
Der Beschluss des Oberlandesgerichts Köln wurde daher vom Bundesverfassungsgericht im Umfang der festgestellten Grundrechtsverletzung aufgehoben; die Sache wird an das Oberlandesgericht zurückverwiesen (§ 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2, § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG). Das Oberlandesgericht wird unter Beachtung der dargelegten verfassungsrechtlichen Anforderungen erneut über den Antrag des Beschwerdeführers auf Aussetzung des Vollzugs des Auslieferungshaftbefehls zu entscheiden haben.
Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 14. Dezember 2017 – 2 BvR 2655/17
- BVerfGE 53, 152, 158; 61, 28, 32[↩]
- BVerfG, Beschluss vom 03.02.2000 – 2 BvR 66/00 12[↩]
- vgl. BVerfGE 19, 342, 347; 74, 358, 370 f.[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 22.01.2014 – 2 BvR 2248/13 u.a. 32; vgl. hinsichtlich der Haftdauer zudem BVerfGE 19, 342, 347; 20, 45, 49 f.; 36, 264, 270; 53, 152, 158 f.; 61, 28, 34 ff.; BVerfGK 15, 474, 479; zum Zweck der Auslieferungshaft BVerfG, Beschluss vom 03.02.2000 – 2 BvR 66/00 14[↩]
- vgl. hierzu BVerfGE 53, 30, 65; 63, 131, 143[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 22.01.2014 – 2 BvR 2248/13 u.a. 38; Beschluss vom 13.10.2016 – 2 BvR 1275/16 47; Beschluss vom 22.08.2017 – 2 BvR 2039/16 41; zu verfassungsrechtlich unterlegten Begründungsanforderungen vgl. BVerfGE 103, 21, 35 f.[↩]
- vgl. BVerfGK 7, 140, 161; 10, 294, 301; 15, 474, 481; 19, 428, 433; Beschluss vom 22.01.2014 – 2 BvR 2248/13 u.a. 38[↩]
- vgl. BVerfGK 7, 421, 429 f.; 8, 1, 5; 15, 474, 481 f.; BVerfG, Beschluss vom 22.01.2014 – 2 BvR 2248/13 u.a. 39; Beschluss vom 13.10.2016 – 2 BvR 1275/16 47; Beschluss vom 22.08.2017 – 2 BvR 2039/16 41[↩]
- OLG Köln, Beschluss vom 22.11.2017 – 6 AuslA. 125/17[↩]
- vgl. Böhm, in: Grützner/Pötz/Kreß, Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, § 15 IRG, Rn. 36 m.w.N. [Dezember 2008]; König, in: Ambos/König/Rackow, Rechtshilferecht in Strafsachen, 1. Aufl.2015, § 15 IRG, Rn.191 m.w.N.; siehe auch BGH, Beschluss vom 04.11.1970 – 4 ARs 43/70, BGHSt 23, 380, 383[↩]
- Schomburg/Hackner, in: Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 5. Aufl.2012, § 15 IRG, Rn.19a m.w.N.; OLG Hamm, Beschluss vom 03.03.2009 – (2) 4 Ausl A 21/09 (62/09) [↩]
- vgl. BVerfGE 18, 85, 92 f.; 89, 276, 285[↩]
- vgl. Böhm, in: Grützner/Pötz/Kreß, Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, § 15 IRG, Rn. 38 f. m.w.N. [Dezember 2008][↩]