Das in der Vergangenheit durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und das CPT1 festgestellte erhebliche Überbelegungsproblem in ungarischen Haftanstalten wurde sowohl durch gesetzliche, als auch organisatorische und bauliche Maßnahmen beseitigt. Das Rechtshilfeverbot gem. § 73 IRG steht der Zulässigkeit der Auslieferung vor diesem Hintergrund derzeit nicht entgegen, wenn die ungarischen Behörden bezüglich der im Falle der Auslieferung zu erwartenden Haftbedingungen eine allgemeine Zusicherung dahingehend abgeben, dass der Verfolgte für die gesamte Haftzeit nach Überstellung kontinuierlich EMRK-konforme Bedingungen vorfinden wird.

Nach § 73 IRG ist – europarechtskonform2 – die Leistung von Rechtshilfe im Auslieferungsverkehr mit Mitgliedstaaten der Europäischen Union unzulässig, wenn ihre Erledigung zu den in Art. 6 des Vertrages über die Europäische Union (EUV) enthaltenen Grundsätzen im Widerspruch stünde. Dies aber ist vorliegend nicht der Fall. Denn es ist sichergestellt, dass die Haftbedingungen, die der Verurteilte im Falle seiner Auslieferung an Ungarn im dortigen Strafvollzug zu erwarten hat, den in Art. 3 EMRK verankerten menschenrechtlichen Mindestanforderungen genügen.
Die ungarischen Justizbehörden haben der Generalstaatsanwaltschaft Celle auf deren Anfrage hin durch Erklärung des Justizministeriums die von dem Verfolgten zu erwartenden Haftbedingungen näher dargelegt. Danach wird der Verfolgte im Falle seiner Auslieferung jederzeit Haftbedingungen vorfinden, die den Anforderungen der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte (EMRK) entsprechen. Ihm wird für die gesamte Haftzeit nach Überstellung kontinuierlich zugesichert, EMRK-konforme Bedingungen hinsichtlich Wohnraum, sanitärer Einrichtungen sowie Zugang zum Freien vorzufinden. Der mögliche Zutritt und die Besichtigung der Haftbedingungen in der jeweiligen Strafvollzugsanstalt für konsularische, diplomatische Vertreter der Bundesrepublik Deutschland in Ungarn wird garantiert.
Der Umstand, dass die ungarischen Behörden mitgeteilt haben, es stehe noch nicht fest, in welchen Haftanstalten der Verfolgte nach seiner Auslieferung gegebenenfalls untergebracht werde, ist nicht geeignet, eine Besorgnis menschenrechtswidriger Haftbedingungen zu begründen.
Zwar haben die ungarischen Behörden damit die vom Oberlandesgericht im Haftbefehl vom 08.06.2021 explizit erforderte Mitteilung der voraussichtlichen konkreten Haftanstalten unbeantwortet gelassen; die von den ungarischen Behörden erteilte allgemeine Zusicherung ist indes unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EUGH sowie der im Folgenden dargestellten weiteren allgemein zugänglichen Informationen sowie der daraus ersichtlichen Entwicklung der Bedingungen im ungarischen Strafvollzug ausreichend, um ausschließen zu können, dass die Haftbedingungen in irgendeiner Haftanstalt im Ausstellungsmitgliedstaat nicht den Anforderungen der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte entsprechen.
Im Einzelnen:
Nach der Rechtsprechung des EuGH dürfen vom Ausstellungsmitgliedstaat allgemein erteilte Zusicherungen, dass die betroffene Person unabhängig von der Haftanstalt, in der sie im Ausstellungsmitgliedstaat inhaftiert werden wird, keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung aufgrund ihrer konkreten und genauen Haftbedingungen erfahren werde, nicht ignoriert werden, denn ein Verstoß gegen eine solche Zusicherung, soweit sie den Erklärenden bindet, könnte diesem gegenüber vor den Gerichten des Ausstellungsmitgliedstaats geltend gemacht werden. Hat die ausstellende Justizbehörde diese Zusicherung erteilt oder zumindest gebilligt, nachdem sie erforderlichenfalls die oder eine der zentralen Behörden des Ausstellungsmitgliedstaats im Sinne von Art. 7 des Rahmenbeschlusses um Unterstützung ersucht hat, muss sich die vollstreckende Justizbehörde in Anbetracht des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten, auf dem das System des Europäischen Haftbefehls beruht, auf diese Zusicherung zumindest dann verlassen, wenn keinerlei konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Haftbedingungen in einer bestimmten Haftanstalt gegen Art. 4 der Charta verstoßen3.
Im vorliegenden Fall besteht angesichts des Umstandes, dass die Generalstaatsanwaltschaft die vom OLG Celle im Haftbefehl vom 08.06.2021 aufgeworfenen Fragen zu den Haftbedingungen, die der Verfolgte im Falle seiner Auslieferung an Ungarn zu erwarten hätte, mit Schreiben vom 11.06.2021 an das Kreisgericht in Kaposvár übermittelt hat, woraufhin das ungarische Justizministerium die bereits dargelegte Erklärung vom 06.07.2021 übermittelt hat, kein Zweifel daran, dass die ausstellende ungarische Justizbehörde die erteilte Zusicherung gebilligt hat.
Das Oberlandesgericht ist mithin unter Berücksichtigung der dargelegten Rechtsprechung gehalten, sich auf diese Zusicherung zumindest dann zu verlassen, wenn keinerlei konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Haftbedingungen in einer bestimmten Haftanstalt gegen Art. 4 der Charta verstoßen. So liegt der Fall hier.
Das Oberlandesgericht hat insoweit in die Bewertung eingestellt, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte noch mit Urteil vom 10.03.20154 es für erwiesen erachtete, dass der für Häftlinge in der Republik Ungarn verfügbare beschränkte Haftzellenraum5, verstärkt durch andere ungünstige Umstände, eine erniedrigende Behandlung darstellte und im konkreten Fall eine Verletzung des Verbots unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung aus Art. 3 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) begründete6. Zudem ergibt sich noch aus dem Bericht des Europäischen Komitees zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe7 vom 30.04.2013 ein erhebliches Überbelegungsproblem in ungarischen Haftanstalten; so soll im Jahr 2013 insgesamt 18.120 Häftlingen die Gesamtzahl von 12.573 Haftplätzen gegenübergestanden haben8. Vor diesem Hintergrund ist in der Rechtsprechung in der Vergangenheit das Vorliegen systematischer oder allgemeiner Mängel der Haftbedingungen in Ungarn angenommen worden9.
Dem Oberlandesgericht ist indes aus weiteren hier (z.T. ehemals) anhängigen Auslieferungsverfahren10 die aktuelle Entwicklung in Ungarn bzgl. der Bekämpfung der Überbelegungen in den dortigen Haftanstalten bekannt.
So hatte das Oberlandesgericht mit Beschluss vom 06.01.202011 die Auslieferung des Verfolgten nach Ungarn zwar für zulässig erklärt, allerdings bereits zuvor im Auslieferungshaftbefehl vom 11.10.2019 explizit darauf hingewiesen, dass die ungarischen Behörden im Verlaufe des Verfahrens Gelegenheit haben werden darzulegen, dass die Haftbedingungen, die der Verfolgte im Falle seiner Auslieferung im ungarischen Strafvollzug zu erwarten haben wird, den in Art. 3 EMRK verankerten menschenrechtlichen Mindestanforderungen genügen werden. Mit Schreiben vom 29.10.2019 teilte das ungarische Justizministerium daraufhin mit, der Verfolgte werde nach Übergabe an die ungarischen Behörden zunächst der Strafvollzugsanstalt Budapest zugeführt und im Anschluss entweder in der Vollzugsanstalt Szombathely oder Tiszalök untergebracht werden. Zudem wurden die Haftbedingungen in den dortigen Anstalten näher dargelegt und garantiert, dass dem Verfolgten in allen drei Haftanstalten eine anteilige Haftraumgröße von mindestens 3 qm gewährt werde. Dem von den ungarischen Behörden im derzeit hier anhängigen Verfahren 2 AR Ausl 25/21, welches sich gegen denselben Verfolgten richtet und ein Nachtragsersuchen nach § 35 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IRG beinhaltet, übersandten Anhörungsprotokoll des Bezirksgerichts Kiskunhalas vom 29.01.2021 konnte das Oberlandesgericht indes entnehmen, dass sich der Verfolgte offenkundig jedenfalls zum damaligen Zeitpunkt weder in der JVA Budapest, noch in der JVA Szombathely oder Tiszalök befunden hatte, sondern in der JVA Kiskunhalas. Ausweislich des Protokolls gab er dort an, bereits am 28.07.2020 und damit zwei Tage nach seiner Überstellung an die ungarischen Behörden dort inhaftiert worden zu sein. Angesichts der Rechtsprechung, ausweislich derer das Vertrauen in weitere Erklärungen und Auskünfte der Justizbehörden des ersuchenden Staates erschüttert ist, wenn die Behörden des um eine Auslieferung ersuchenden Staates in vorangegangenen Auslieferungsverfahren erteilte Zusicherungen bzw. Erklärungen und mit der Auslieferungsentscheidung verbundene Bedingungen nicht eingehalten haben und diese Vorgänge nicht nachvollziehbar aufklären12 erachtete das Oberlandesgericht eine nähere Aufklärung der dargelegten Vorgänge für unerlässlich. Mit Verfügung vom 12.03.2021 wurden die ungarischen Behörden mithin um nähere Aufklärung der Vorgänge ersucht.
Hierauf hat das ungarische Justizministerium darauf hingewiesen, dass keine zentralen nationalen Vorschriften existieren, die eine Zuweisung des Verfolgten nach seiner Auslieferung in eine bestimmte Haftanstalt regeln. Die Nichteinhaltung der im Verfahren 2 AR 69/19 übermittelten Zuführung des Verfolgten zu bestimmten Haftanstalten sei jedoch angesichts der jüngeren Entwicklung des Strafvollzuges in Ungarn nicht relevant. Die ungarische Regierung habe im Jahre 2020 unverzügliche Maßnahmen zur Bekämpfung der Missbräuche der Entschädigungen für die Überbelegung der Justizvollzugsanstalten angeordnet, deren konsequente Umsetzung zu einer Verminderung der durchschnittlichen Auslastung der Justizvollzugsanstalten von 112 % auf 96 % geführt hätten. Die Auslastung jeder einzelnen Haftanstalt in Ungarn übersteige nicht 100 %. Zudem werde die Auslastungsquote aller Haftanstalten ständig überwacht und so gewährleistet, dass es in keiner Haftanstalt zu einer Überlegung komme. Vor diesem Hintergrund könne garantiert werden, dass in allen Haftanstalten die Haftbedingungen im Einklang mit den Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention erfolge.
Die dargelegte positive Entwicklung erscheint auch belastbar. Bereits aus dem CPT-Bericht vom 17.03.2020 über den Besuch ungarischer Haftanstalten vom 20. – 29.11.2018 lässt sich insgesamt betrachtet im Vergleich zu den Erkenntnissen des CPT über das Jahr 2013 eine deutliche Verbesserung der Bedingungen in den besuchten Haftanstalten entnehmen13. Zudem ergibt sich auch aus dem Schreiben des Bundesamtes der Justiz vom 23.04.201814, dass Ungarn seit dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 10.03.2015 sowohl gesetzliche, als auch organisatorische und bauliche Maßnahmen ergriffen hat, um die im Urteil festgestellten Verletzungen von Art 3 und 13 EMRK zu beseitigen. Durch diese Maßnahmen, die noch nicht abgeschlossen, sondern sich weiter in der Umsetzung befanden und die u.a. in der Renovierung und Erweiterung von bestehenden Gefängnissen bestanden, konnte die Überbelegung von 143% auf 126 % reduziert werden. Ziel sei, den Häftlingen in Einzelzellen 6 qm Grundfläche und in Gemeinschaftszellen mindestens 4qm anteilige Grundfläche zur Verfügung zu stellen. Diese Information korrespondiert mit der Stellungnahme des „Hungarian Helsinki Committee (HHC)“ vom 27.08.2020, einer Nichtregierungsorganisation, die 1989 zur Sicherstellung der in nationalen und internationalen Gesetzen garantierten Umsetzung von Menschenrechten gegründet wurde, ausweislich derer im Zeitraum von Januar 2013 bis Ende November 2019 eine rückläufige Auslastung der ungarischen Gefängnisse zu konstatieren war und die durchschnittliche Auslastung in diesem Zeitraum von 139 % auf 112% sank.
Ferner ergeben sich aus einer Internetrecherche sowohl Einträge, die die von der ungarischen Regierung eingeleiteten Maßnahmen zur Beseitigung der Überfüllung der Gefängnisse thematisieren, als auch Einträge, die das positive Ergebnis der Bemühungen bestätigen.
Darüber hinaus ergibt sich aus einer Mitteilung des HCC vom 13.08.2020, dass die von der Regierung am 13.07.2020 bekannt gegebene Neuschaffung von 2.750 neuen Haftplätzen zu einer deutlichen Verbesserung der „Ist-Situation“ in den ungarischen Haftanstalten geführt habe; die Grundfläche der Zellen für 3 Häftlinge betrage nunmehr 12, 5qm und von 6 Personen 25, 5qm.
Nach alledem bestehen keinerlei konkrete Anhaltspunkte mehr dafür, dass die Haftbedingungen in einer bestimmten Haftanstalt in Ungarn gegen Art. 4 der Charta verstoßen. Vielmehr erscheint insbesondere gewährleistet, dass dem Verfolgten in jeder ungarischen Haftanstalt eine anteilige individuelle Haftraumgröße von mehr als 3 qm zur Verfügung gestellt wird.
Oberlandesgericht Celle, Beschluss vom 21. Juli 2021 – 2 AR (Ausl) 40/21
- European Committee for the Prevention of Torture and Inhuman or Degrading Treatment or Punishment[↩]
- vgl. Erwägungsgründe 12 und 13 der Präambel zum Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl [RB-EuHB] sowie Art. 1 Abs. 3 RB-EuHB[↩]
- EuGH, Urteil vom 25.07.2018, – C-220/18; BVerfG, Beschluss vom 01.12.2020 – 2 BvR 1845/18[↩]
- siehe EGMR, Urteil vom 10.03.2015, Varga u.a. v. Ungarn – Nr. 14097/12, 45135/12, 73712/12, 34001/13, 44055/13 und 64586/13[↩]
- vielfach weniger als 3 qm, oftmals sogar weniger als 2 qm[↩]
- siehe EGMR, Varga u.a. v. Ungarn, a.a.O., §§ 91-92[↩]
- European Committee for the Prevention of Torture and Inhuman or Degrading Treatment or Punishment, CPT[↩]
- siehe CPT/Inf (2014) 13, S.19[↩]
- OLG Bremen, Beschluss vom 16.03.2020 – 1 Ausl A 78/19; OLG Bremen, Beschluss vom 21.09.2018 – 1 Ausl A 21/17; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 31.01.2018 – Ausl 301 AR 54/17; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 26.05.2017 – Ausl 301 AR 54/17[↩]
- u.a. OLG Celle – 2 AR Ausl 25/21[↩]
- OLG Celle, Beschluss vom 06.01.2020 – 2 AR Ausl 69/19[↩]
- vgl. hierzu: OLG Bremen, Beschluss vom 16.03.2020 – 1 Ausl A 78/19[↩]
- vgl. CPT/Inf (2020) 8[↩]
- BfJ, Schreiben vom 23.04.2018 – III-1 9351 – U 1 – B 3 2015/2016[↩]