Gerichtiche Auslieferungsentscheidungen verstoßen gegen Art.19 Abs. 4 GG, wenn das Gericht den Sachverhalt hinsichtlich der Gefahr, dass der Beschwerdeführer (hier: in Ungarn) menschenunwürdige Haftbedingungen erleidet, nicht hinreichend aufgeklärt hat.

Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts steht dem nicht entgegen. Der Auslieferungsverkehr mit anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union ist durch den Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates vom 13.06.2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten1 in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26.02.20092 geänderten Fassung (im Folgenden: Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl bzw. RbEuHb) unionsrechtlich weitgehend determiniert3. Dies gilt jedoch nicht für das diesbezügliche Prozessrecht, wie sich aus Erwägungsgrund 12 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl ausdrücklich ergibt. Danach belässt der Rahmenbeschluss jedem Mitgliedstaat u.a. die Freiheit zur Anwendung seiner verfassungsmäßigen Regelung des Anspruchs auf ein ordnungsgemäßes Gerichtsverfahren.
Soweit der Rahmenbeschluss entsprechende Regelungen enthält, sind diese überdies durch weitreichende Verweise auf das innerstaatliche Recht der Mitgliedstaaten gekennzeichnet (Art. 11 Abs. 1 und 2, Art. 12, Art. 13 Abs. 1, 2, 3 und 4, Art. 14 RbEuHb). Hinsichtlich der Frage, welche Maßstäbe für eine gerichtliche Sachverhaltsaufklärung im Auslieferungsverfahren gelten, enthält er keine Regelungen. Unterlässt ein Fachgericht im Verfahren über die Zulässigkeit einer Auslieferung im Anwendungsbereich des Rahmenbeschlusses Ermittlungen zur Sachverhaltsaufklärung, so findet daher Art.19 Abs. 4 GG Anwendung.
Art.19 Abs. 4 Satz 1 GG garantiert einen effektiven und möglichst lückenlosen richterlichen Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt4. Er gewährleistet nicht nur das formelle Recht und die theoretische Möglichkeit, die Gerichte anzurufen, sondern verleiht dem Einzelnen, der behauptet, durch einen Akt öffentlicher Gewalt verletzt zu sein, oder der im Vorgriff einer belastenden hoheitlichen Maßnahme geltend macht, diese würde in unzulässiger Weise in seine Rechte eingreifen, einen substantiellen Anspruch auf eine wirksame gerichtliche Kontrolle5.
Die fachgerichtliche Überprüfung grundrechtseingreifender Maßnahmen kann die Beachtung des geltenden Rechts und den effektiven Schutz der berührten Interessen nur gewährleisten, wenn sie auf zureichender Aufklärung des jeweiligen Sachverhalts beruht6. Um dem Gebot effektiven Rechtsschutzes zu genügen, darf das Fachgericht auf die Ausschöpfung aller Erkenntnismöglichkeiten daher nur verzichten, wenn Beweismittel unzulässig, schlechterdings untauglich, unerreichbar oder für die Entscheidung unerheblich sind. Dagegen darf es von einer Beweisaufnahme nicht schon dann absehen, wenn die Aufklärung besonders arbeits- oder zeitaufwendig erscheint7. Auch im Rahmen des gerichtlichen Zulässigkeitsverfahrens im Vorgriff auf eine Auslieferung sind die zuständigen Gerichte verpflichtet, den entscheidungserheblichen Sachverhalt aufzuklären und etwaige Auslieferungshindernisse in hinreichender Weise, also in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht vollständig, zu prüfen8.
Zu dem von den deutschen Gerichten zu ermittelnden Sachverhalt gehört insbesondere die Behandlung, die der Verfolgte im ersuchenden Staat zu erwarten hat. Bei der Prüfung der Zulässigkeit der Auslieferung haben sie grundsätzlich die ihnen möglichen Ermittlungen zur Aufklärung einer behaupteten Verletzung der verfassungsrechtlichen Grundsätze von Amts wegen durchzuführen; den Betroffenen trifft insoweit keine Beweislast9.
Einem Mitgliedstaat der Europäischen Union ist zwar im Hinblick auf die Einhaltung der Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit und des Menschenrechtsschutzes grundsätzlich besonderes Vertrauen entgegenzubringen. Die Europäische Union bekennt sich zur Achtung von Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und der Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören (vgl. Art. 2 EUV). Ihre Mitgliedstaaten haben sich sämtlich der Europäischen Menschenrechtskonvention unterstellt. Soweit sie Unionsrecht durchführen, sind sie überdies an die Gewährleistungen der Grundrechtecharta der Europäischen Union (GRCh) gebunden (vgl. Art. 51 GRCh). Das für die Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung zuständige Gericht ist daher grundsätzlich nicht verpflichtet, bestehende Aufklärungsmöglichkeiten auszuschöpfen oder positiv festzustellen, dass dem um Auslieferung ersuchenden Mitgliedstaat hinsichtlich der Wahrung des Mindeststandards vertraut werden kann. Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens wird jedoch dann erschüttert, wenn tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass im Falle einer Auslieferung die aus Art. 4 GRCh folgenden Anforderungen nicht eingehalten würden. Das zuständige Gericht trifft insoweit die Pflicht, Ermittlungen hinsichtlich der Rechtslage und der Praxis im ersuchenden Mitgliedstaat vorzunehmen, wenn der Betroffene hinreichende Anhaltspunkte für solche Ermittlungen dargelegt hat10. Stellt sich danach heraus, dass der vom Grundgesetz geforderte Mindeststandard vom ersuchenden Mitgliedstaat nicht eingehalten wird, darf das zuständige Gericht die Auslieferung nicht für zulässig erklären11.
Diese Verpflichtung steht im Einklang mit der Rechtsprechung des EuGH zur Durchführung des Europäischen Haftbefehls12. Das Bestehen einer Rechtsschutzmöglichkeit genügt für sich genommen nicht, um das Vorliegen einer echten Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung des Betroffenen im Sinne von Art. 4 GRCh auszuschließen. Das zuständige Gericht bleibt verpflichtet, bei Vorliegen hinreichender Anhaltspunkte die konkreten Haftbedingungen in Bezug auf jede betroffene Person individuell zu prüfen, um sich zu vergewissern, dass die Entscheidung über die Übergabe dieser Person diese nicht einer echten Gefahr aussetzt, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erleiden13. Dazu muss es gegebenenfalls zusätzliche Informationen oder Zusicherungen der ausstellenden Justizbehörde einholen14.
Nach diesen Maßstäben hat das Oberlandesgericht München15 den Sachverhalt hinsichtlich der Gefahr, dass der Beschwerdeführer in Ungarn menschenunwürdige Haftbedingungen erleidet, nicht genügend aufgeklärt. Der Beschwerdeführer hat hinreichende Anhaltspunkte dafür dargelegt, dass in den Haftanstalten in Ungarn systemische Mängel vorliegen. Diese Anhaltspunkte ergeben sich insbesondere aus dem Urteil des EGMR vom 10.03.201516 sowie aus der Vorlage des Hanseatischen Oberlandesgerichts in Bremen17. Das Oberlandesgericht hätte dies prüfen und weitere Informationen, insbesondere zu der Haftanstalt, in der der Beschwerdeführer inhaftiert werden würde, einholen müssen.
Der bloße Verweis auf die Entscheidung des EGMR vom 14.11.2017 in der Sache Domján v. Hungary18 stützt nicht ohne weiteres die Annahme, dass dem Beschwerdeführer keine im Auslieferungsverfahren zu beanstandenden Haftbedingungen im Zielstaat drohen19. Zwar enthält diese Entscheidung den Hinweis auf das am 1.01.2017 in Kraft getretene ungarische Gesetz, das präventive und nachträgliche Rechtsbehelfe gegen menschenrechtswidrige Haftbedingungen vorsieht20. Der Gerichtshof hat in dieser Sache – unter Bekräftigung der allgemeinen Zulässigkeitsanforderungen – jedoch lediglich entschieden, dass die geschaffenen Rechtsbehelfe nicht a priori ungeeignet und unwirksam sind. Ein Gefangener, der nach seinem Vortrag in Ungarn menschenrechtswidrigen Haftbedingungen ausgesetzt war, müsse sie daher gemäß Art. 35 Abs. 1 EMRK als Teil des nationalen Rechtswegs im Rahmen ihrer Statthaftigkeit nutzen, um eine Entschädigung für das Erleiden solcher Haftbedingungen zu erlangen, bevor er sich mit einem entsprechenden Begehren an den Gerichtshof wenden könne21. Die Annahme des Oberlandesgerichts, dass der EGMR mit dieser Entscheidung seine Rechtsprechung dahingehend geändert habe, dass systemische Mängel im ungarischen Strafvollzug nicht mehr bestünden und unmenschliche Haftbedingungen nicht mehr drohten, ist schon deshalb nicht nachvollziehbar, weil der EGMR weiterhin auf defizitäre, wenn auch verbesserte Haftbedingungen im ungarischen Strafvollzug hingewiesen hat22. Dass nunmehr Rechtsbehelfe geschaffen wurden, die eine (vor allem finanzielle) Wiedergutmachung für erlittene unmenschliche Haftbedingungen ermöglichen, muss zwar im Rahmen des Art. 35 Abs. 1 EMRK Bedeutung erlangen23, führt im Auslieferungsverfahren aber nicht ohne weiteres dazu, dass eine Auslieferung trotz bestehender Gefahr unmenschlicher Haftbedingungen zulässig wäre. Demnach hätte das Oberlandesgericht unabhängig von der Frage einer möglichen späteren Wiedergutmachung prüfen müssen, ob die konkrete Gefahr besteht, dass der Betroffene eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung erleidet24.
Auch der bloße Verweis des Oberlandesgerichts auf eine Entscheidung des Oberlandesgerichts Köln25 ersetzt nicht die Aufklärung der konkreten Umstände im vorliegenden Auslieferungsverfahren, zumal das in Bezug genommene Gericht eine solche Aufklärung – anders als das Oberlandesgericht München im vorliegenden Fall – als erforderlich angesehen hat. Bei der zitierten Entscheidung handelte es sich zudem um eine Auslieferungshaftentscheidung, in der das Oberlandesgericht Köln dementsprechend auch nur ausgeführt hat, die Auslieferung sei nicht von vornherein unzulässig (§ 15 Abs. 2 IRG). Dies hat es damit begründet, dass eine von ihm veranlasste Anfrage an die ungarischen Behörden mit dem Ziel, in Erfahrung zu bringen, in welche Haftanstalt der Betroffene im Falle seiner Überstellung verbracht werde und welche Haftbedingungen ihn dort erwarteten, noch nicht beantwortet worden war. Die Beantwortung dieser Anfrage hat das Oberlandesgericht Köln in nachvollziehbarer Weise als Voraussetzung der Prüfung angesehen, ob die Einwendungen des Betroffenen, er befürchte menschenunwürdige Haftbedingungen in Ungarn, der Zulässigkeit seiner Auslieferung entgegenstünden. Damit ist das Oberlandesgericht Köln seiner Pflicht nachgekommen, die Umstände im Zielstaat im weiteren Verfahren aufzuklären.
Von dem im vorliegenden Verfahren vom Bayerischen Staatsministerium der Justiz vorgelegten Schreiben des Bundesamts für Justiz vom 23.04.2018, das konkrete Angaben zu den aktuellen Veränderungen der Haftbedingungen in Ungarn enthält, hatte das Oberlandesgericht bei Erlass seiner Entscheidungen keine Kenntnis. Es kann deshalb nicht im Nachhinein zu einer anderen rechtlichen Bewertung führen. Überdies hat das Bundesamt für Justiz weiterhin systemische Defizite im ungarischen Strafvollzug beschrieben und das Bedürfnis (aber auch die Möglichkeit) der Einholung konkreter Zusicherungen von den ungarischen Behörden thematisiert26.
Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 16. August 2018 – 2 BvR 237/18
- ABl EU Nr. L 190 vom 18.07.2002, S. 1[↩]
- ABl EU Nr. L 81 vom 27.03.2009, S. 24[↩]
- vgl. BVerfGE 140, 317, 342 f. Rn. 52; BVerfG, Beschluss vom 18.08.2017 – 2 BvR 424/17 32[↩]
- vgl. BVerfGE 67, 43, 58; BVerfG, Beschlüsse vom 30.06.2015 – 2 BvR 1206/1319; und vom 30.11.2016 – 2 BvR 1519/14 33[↩]
- vgl. BVerfGE 101, 106, 122 f.; 103, 142, 156; 113, 273, 310; 129, 1, 20[↩]
- vgl. BVerfGE 101, 275, 294 f.; BVerfGK 9, 390, 395; 9, 460, 463; 13, 472, 476; 13, 487, 493; 17, 429, 430 f.; 19, 157, 164; 20, 107, 112[↩]
- BVerfG, Beschluss vom 23.01.2017 – 2 BvR 2584/12 18[↩]
- BVerfG, Beschluss vom 13.11.2017 – 2 BvR 1381/17 26[↩]
- vgl. BVerfGE 8, 81, 84 f.; 52, 391, 406 f.; 63, 215, 225; 64, 46, 59; 140, 317, 348 Rn. 65; BVerfG, Beschluss vom 29.05.1996 – 2 BvR 66/96, EuGRZ 1996, S. 324, 326; Beschluss vom 15.12 1996 – 2 BvR 2407/96 6; Beschluss vom 09.11.2000 – 2 BvR 1560/00, NJW 2001, S. 3111, 3112[↩]
- vgl. BVerfGE 140, 317, 350 f. Rn. 73 f.[↩]
- vgl. BVerfGE 140, 317, 352 Rn. 75[↩]
- vgl. EuGH, Urteil vom 05.04.2016, Aranyosi und Ca?lda?raru, – C-404/15 und – C-659/15 PPU, EU:C:2016:198 und Urteil vom 25.07.2018, ML, – C-220/18 PPU, EU:C:2018:589[↩]
- vgl. EuGH, Urteil vom 25.07.2018, ML, – C-220/18 PPU, EU:C:2018:589, Rn. 73 ff.[↩]
- vgl. EuGH, Urteil vom 25.07.2018, ML, – C-220/18 PPU, EU:C:2018:589, Rn. 108 ff.[↩]
- OLG München, Beschlüsse vom 19.01.2018 und 09.02.2018 – 1 AR 543/17[↩]
- EGMR, Varga and Others v. Hungary, Nr. 14097/12 u.a.[↩]
- Hanseat. OLG Bremen, Beschluss vom 12.09.2016 – 1 Ausl A 3/15[↩]
- EGMR, Entscheidung vom 14.11.2017 – Nr. 5433/17[↩]
- vgl. EuGH, Urteil vom 25.07.2018, ML, – C-220/18 PPU, EU:C:2018:589, Rn. 76[↩]
- vgl. EGMR, Domján v. Hungary, Entscheidung vom 14.11.2017, Nr. 5433/17, Rn. 9 ff.[↩]
- vgl. EGMR, Domján v. Hungary, Entscheidung vom 14.11.2017, Nr. 5433/17, Rn. 35 ff.[↩]
- EGMR, Domján v. Hungary, Entscheidung vom 14.11.2017, Nr. 5433/17, Rn. 2 ff.[↩]
- so wäre auch im verfassungsrechtlichen Kontext vor dem Hintergrund von § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG zu entscheiden, vgl. BVerfGK 19, 424, 426 f.[↩]
- vgl. EuGH, Urteil vom 25.07.2018, ML, – C-220/18 PPU, EU:C:2018:589, Rn. 74 f.; Schlussanträge des Generalanwalts Campos Sánchez-Bordona vom 04.07.2018 in der Rs. – C-220/18 PPU, ML, EU:C:2018:547, Rn. 57[↩]
- OLG Köln, Beschluss vom 22.11.2017 – 6 AuslA 125/17[↩]
- zur Möglichkeit eines solchen Vorgehens siehe auch EuGH, Urteil vom 25.07.2018, ML, – C-220/18 PPU, EU:C:2018:589, Rn. 108 ff.[↩]