Sieht die Staatsanwaltschaft nach der Erfüllung von Auflagen von der Verfolgung eines Vergehens des Vorenthaltens und der Veruntreuung von Beiträgen (§ 266a StGB) nach § 153a Abs. 1 StPO endgültig ab, so steht § 153a Abs. 1 Satz 5 StPO der Verfolgung einer Ordnungswidrigkeit nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AEntG aF (nunmehr § 23 Abs. 1 Nr. 1 AEntG) wegen der Unterschreitung von Mindestlöhnen (§ 1 Abs. 1 AEntG aF) nicht entgegen.

Zwischen den Taten nach § 266a StGB und der Nichtzahlung des – für die Höhe der Beiträge maßgeblichen – Mindestlohns (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 AEntG aF) besteht weder materiellrechtliche Tateinheit noch liegt eine Tat im prozessualen Sinn (§ 264 StPO) vor1.
Ausgangspunkt der Bewertung ist die materiellrechtliche Betrachtung. Zwar ist der prozessuale Tatbegriff im Verhältnis zum materiellen Recht selbständig2. Jedoch sind materiellrechtlich selbständige Taten in der Regel auch prozessual selbständig3, falls nicht weitergehende Umstände die Annahme einer Tat im Sinne des § 264 Abs. 1 StPO rechtfertigen4. Letzteres wird angenommen, wenn die Handlungen innerlich so verknüpft sind, dass nur ihre gemeinsame Würdigung erlaubt ist, eine getrennte Würdigung sowie Aburteilung in verschiedenen Verfahren mithin als unnatürliche Aufspaltung eines einheitlichen Lebensvorgangs empfunden würden5.
Die Vorwürfe nach § 266a StGB und der Mindestlohnunterschreitung gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 1 AEntG aF stehen im Verhältnis der Tatmehrheit zueinander (§ 53 StGB). Dies gilt für sämtliche tatbestandliche Varianten des § 266a StGB.
Mit Ausnahme von § 266a Abs. 2 Nr. 1 StGB sind in § 266a StGB durchgehend echte Unterlassungsdelikte normiert. Sie knüpfen – wie zum Teil auch der Bußgeldtatbestand des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AEntG aF – häufig an ein Unterlassen des Arbeitgebers an. Auch für Unterlassungen ist die Frage, ob Tateinheit gegeben ist, an den allgemeinen Regeln zu messen. Danach ist entscheidend, ob die mehrfachen Gesetzesverletzungen durch eine einheitliche Unterlassung begangen worden sind. Dabei kann es wie bei positivem Tun auf die bloße Gleichzeitigkeit nicht entscheidend ankommen. Ob „ein und dieselbe Unterlassung“ zu mehreren Gesetzesverletzungen geführt hat, kann vielmehr nur im Hinblick auf die Handlungspflichten beurteilt werden, die durch die Unterlassung verletzt worden sind. Sind mehrere Pflichten durch „ein und dieselbe Handlung“ zu erfüllen, so wird in ihrer Unterlassung regelmäßig nur eine Handlung – im weiteren Sinne – gesehen werden können. Sind hingegen mehrere Handlungen erforderlich, um mehreren – selbst gleichartigen – Pflichten nachzukommen, so sind in ihrer Nichtvornahme in aller Regel mehrere Unterlassungen zu finden; es ist also Tatmehrheit gegeben6. So liegt es hier.
Auch wenn man, wofür viel spricht, für den Fall der Auszahlung zu geringen Lohns den sozialen Handlungsschwerpunkt in der Tätigkeit des Auszahlens und damit in einem positiven Tun sieht, ergibt sich nichts anderes. Denn dann liegt die relevante Handlung in einer den gesetzlichen Mindestarbeitsbedingungen nicht genügenden Leistung an den Arbeitnehmer. Sie fällt gleichfalls nicht mit Tathandlungen nach § 266a StGB zusammen, die in den Fällen der Absätze 1 und 2 Pflichten des Arbeitgebers im Verhältnis zur Einzugsstelle, in den Fällen des Absatzes 3 dessen Obliegenheiten zur Abführung von Lohnbestandteilen zugunsten Dritter betreffen.
Die Betroffene war aufgrund der dem öffentlichen Recht zugehörigen Vorschrift des § 28e Abs. 1 SGB IV gegenüber den Einzugsstellen als Schuldnerin originär zur Leistung der Sozialversicherungsbeiträge verpflichtet7. Diese Pflicht besteht unabhängig von ihrer aus dem Arbeitsverhältnis entsprungenen Lohnzahlungsverpflichtung8. Die Betroffene war damit jedem Gläubiger gegenüber zu unabhängig voneinander vorzunehmenden Zahlungen verpflichtet, die lediglich in ihrer Höhe durch gesetzliche Vorgaben beeinflusst waren9. Dies begründet das Vorliegen von Tatmehrheit10 50/10)).
Sollte – was nach den dem Bundesgerichtshof vorliegenden bruchstückhaften Unterlagen allerdings nicht sehr wahrscheinlich ist – von der Einstellung eine strafbare Handlung nach § 266a Abs. 2 Nr. 1 StGB erfasst worden sein, so läge ebenfalls keine einheitliche Handlung vor. Denn die danach maßgeblichen Falschangaben können nicht mit einem Pflichtenverstoß im Sinne des § 5 Abs. 1 Satz 1 AEntG aF zusammentreffen.
Der aus der materiellrechtlichen Realkonkurrenz folgende Begründungsansatz für die Annahme unterschiedlicher prozessualer Taten wird durch keine weitergehenden Umstände widerlegt11.
Soweit das Amtsgericht der Betroffenen – indes von der Rechtsbeschwerde angegriffen – eine Unkenntnis der Pflicht zur Zahlung von Mindestlöhnen als Grundlage für die Nichterfüllung beider Pflichten zugebilligt hat, rechtfertigt dieses subjektive Element nicht die Annahme einer inneren Verknüpfung der beiden Unterlassungen. Solches wurde nicht einmal in der subjektiv viel stärker ausgeprägten Fallkonstellation anerkannt, in der es der Täter im Rahmen eines Gewerbebetriebs von Anfang an auf derartige Verstöße planmäßig angelegt hat12. Das Erfordernis, die Mindestlohnunterschreitung gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 1 AEntG aF auch bei fahrlässigem Unterlassen als Ordnungswidrigkeit sanktionieren zu können, spricht vielmehr gegen die Annahme einer inneren Verknüpfung. Gerade die getrennte Würdigung von Straftat und Ordnungswidrigkeit in getrennten Verfahren ist im Gesetz angelegt.
Auch der Umstand, dass die auszuzahlenden Löhne und die danach abzuführenden Sozialversicherungsbeiträge gleichermaßen in einem Steuerberatungsbüro – wenn auch mit einem im Verhältnis zur Betroffenen unklar gebliebenen Hinweis auf die Mindestlohnverpflichtung – errechnet worden sind, führt als bloße gemeinsame Vorbereitungshandlung nicht zur Annahme prozessualer Tatidentität13.
Aspekte des sich aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) ergebenden Vertrauensschutzes14 gebieten keine andere Bewertung. Das gemäß § 153a Abs. 1 StPO endgültig eingestellte Ermittlungsverfahren hat ausschließlich das Vorenthalten von Sozialversicherungsbeiträgen nach § 266a StGB zum Gegenstand. Der in der hier maßgeblichen Fallkonstellation nicht gezahlte Mindestlohn ist zwar zugleich eine Grundlage für die Berechnung dieser Beiträge. Er stellt indes lediglich einen Anknüpfungspunkt der strafrechtlichen Subsumtion dar, ohne hierdurch seine Selbständigkeit für weitere Subsumtionen in anderen rechtlichen Zusammenhängen zu verlieren. Die Mindestlohnunterschreitung nimmt deshalb nicht an einem mit der Einstellungsentscheidung verbundenen Vertrauen teil, dass der gewürdigte Sachverhalt einer weiteren nachteiligen Bewertung in einem anderen Verfahren entzogen sei.
Für einen Vertrauenstatbestand ermangelte es auch tatsächlich jeglicher Grundlage. Wie das Oberlandesgericht zutreffend bemerkt, war der Betroffenen aufgrund Akteneinsicht bekannt, dass das Hauptzollamt zum Straf- und zum Ordnungswidrigkeitsverfahren getrennte Schlussberichte vorgelegt hatte; hierdurch wurde sie von dem eigenständig durchzuführenden Ordnungswidrigkeitsverfahren wegen Mindestlohnunterschreitung unterrichtet.
Bundesgerichtshof, Beschluss vom 15. März 2012 – 5 StR 288/11
- Saarländisches OLG, Beschluss vom 23.07.2010 – Ss (B) 50/2010; a.A.: OLG Oldenburg, Beschluss vom 09.04.2009, Nds. Rpfl. 2009, 395 f.; ThürOLG, Beschluss vom 27.08.2009, wistra 2010,39[↩]
- BGH, Beschluss vom 24.07.1987 – 3 StR 86/87, BGHSt 35, 14, 19; BGH, Urteil vom 16.03.1989 – 4 StR 60/89, BGHSt 36, 151, 154[↩]
- BGHSt aaO[↩]
- BGH, Urteile vom 16.03.1989 – 4 StR 60/89, BGHSt 36, 151, und vom 29.09.1987 – 4 StR 376/87, BGHSt 35, 60, 64[↩]
- st. Rspr., vgl. BGH, Beschluss vom 24.11.2004 – 5 StR 206/04, BGHSt 49, 359, 362 mwN[↩]
- BGH, Beschluss vom 30.05.1963 – 1 StR 6/63, BGHSt 18, 376, 379 mwN[↩]
- vgl. BGH, Beschluss vom 28.05.2002 – 5 StR 16/02, BGHSt 47, 318, 319[↩]
- vgl. BGH aaO[↩]
- vgl. BGH, Beschluss vom 30.05.1963 – 1 StR 6/63, BGHSt 18, 376, 379 f.[↩]
- vgl. zum in gleicher Weise zu beurteilenden Verhältnis zwischen Nichtabführen von Lohnsteuer und dem Vorenthalten von Sozialversicherungsbeiträgen: BGH, Beschluss vom 24.07.1987 – 3 StR 86/87, BGHSt 35, 14, 17, und Urteil vom 13.05.1992 – 5 StR 38/92, BGHSt 38, 285, 286; vgl. auch Saarländisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 23.07.2010 – Ss ((B[↩]
- vgl. BGH, Beschluss vom 24.11.2004 – 5 StR 206/04, BGHSt 49, 359, 363[↩]
- vgl. BGH, Beschluss vom 24.07.1987 – 3 StR 86/87, BGHSt 35, 14[↩]
- vgl. BGHSt 35, 14, 18, 20[↩]
- vgl. BGH, Beschluss vom 26.08.2003 – 5 StR 145/03, BGHSt 48, 331, 334[↩]