Der ULAK, einem von den Tarifvertragsparteien gegründeten Verein mit Rechtsfähigkeit aufgrund staatlicher Verleihung, der mit der Zusatzversorgungskasse des Baugewerbes AG unter „SOKA-BAU“ zusammengefasst ist, ist in den Jahren, für die vom Bundesarbeitsgericht die Unwirksamkeit der Allgemeinverbindlichkeitserklärung des Tarifvertrages über das Sozialkassenverfahren festgestellt wurde, durch ein täuschendes Verhalten des Bauunternehmers kein Vermögenschaden i.S.d. § 263 StGB entstanden, sofern die hierfür erforderliche Tarifbindung nicht belegt ist.

Mit Beschluss vom 25.01.2017 hat das Bundesarbeitsgericht festgestellt (§§ 98, 2 Abs. 1 Nr. 5 ArbGG), dass die durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales ausgesprochene Allgemeinverbindlicherklärung vom 03.05.20121 des Tarifvertrags über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe vom 18.12.2009 in der Fassung des Änderungstarifvertrags vom 21.12.2011 unwirksam ist2. Gleiches gilt aufgrund Beschlusses vom selben Tag bezüglich der Allgemeinverbindlicherklärung vom 29.05.20133 des Tarifvertrags über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe vom 18.12.2009 in der Fassung des Änderungstarifvertrags vom 17.12.20124. Damit bestand gemäß § 5 TVG, § 98 Abs. 4 ArbGG (zunächst) nur für tarifgebundene Arbeitgeber eine Beitragspflicht gegenüber der ULAK.
Nichts anderes ergibt sich aus § 8 Abs. 1, § 5 Satz 1 Nr. 3, § 4 Nr. 1, § 3 AEntG in der im Tatzeitraum geltenden Fassung. Die Pflicht für Arbeitgeber im Baugewerbe mit Sitz im Ausland zum Abführen der Urlaubsentgelte an die ULAK setzte voraus, dass die Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklärt wurden.
Auf eine etwaige Beitragspflicht aus einer älteren Fassung des VTV kann der Betrugstatbestand jedenfalls dann nicht gestützt werden; wenn der Angeklagte entgegen § 265 Abs. 1 StPO darauf nicht hingewiesen worden ist5. Da rechtlich ungeklärt ist, ob in strafrechtlicher Hinsicht eine (wenngleich möglicherweise unwirksame) außer Kraft gesetzte Vertragsnorm dann wiederaufleben kann, wenn die Folgenorm ihrerseits nicht rechtmäßig zustande gekommen und damit von vornherein unwirksam ist, kommt der Hinweispflicht besondere Bedeutung zu.
§ 7 i.V. mit Anlagen 30 und 31 des am 25.05.20176 in Kraft getretenen Gesetzes zur Sicherung der Sozialkassenverfahren im Baugewerbe (SokaSiG) ist nicht zur Begründung einer Betrugsstrafbarkeit heranzuziehen; maßgeblich ist die Gesetzeslage zum Zeitpunkt der Tatbegehung, mithin zum Zeitpunkt der Auszahlungen der Beitragsguthaben (Art. 103 Abs. 2 GG)7.
Auch betrügerischen Mittelabrufe für tatsächlich nicht geleistete Urlaubsvergütungen schädigen in einem solchen Fall jedenfalls insoweit nicht das Vermögen der ULAK, wie der Bauunternehmer zum Zeitpunkt der Verfügung umgekehrt Bereicherungsansprüche gegen die ULAK zustanden, die sich im Umfang der Mittelabrufe verringerten.
So auch in dem hier vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fall: Der Bauunternehmer ließ entgegen § 13 Abs. 1 Satz 2, 3 VTV 2012 und VTV 2013 I unwahre Meldungen über tatsächlich nicht geleistete Urlaubsvergütungen einreichen. Mit diesem „Wiederabrufen“ veranlasste er die Verantwortlichen der ULAK zur Auszahlung der zuvor durch die Beitragsabführungen entstandenen Beitragsguthaben, die die Kasse ansammelt und treuhänderisch verwaltet8. Hierauf hatte die Einziehungsbeteiligte keinen Anspruch nach § 13 Abs. 1 Satz 1 VTV und VTV 2013 I. Durch die irrtumsbedingten Zahlungen minderte sich das Barvermögen der ULAK in entsprechender Höhe.
Ein Vermögenschaden trat bei der ULAK aber nicht ein, weil die irrtumsbedingten Vermögensminderungen durch die Geldabflüsse gleichzeitig in entsprechender Höhe durch die Befreiung von bereicherungsrechtlichen Rückzahlungsverbindlichkeiten der ULAK ausgeglichen wurden. Der Getäuschte ist nur dann geschädigt, wenn seine Vermögensverfügung bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise unmittelbar zu einer nicht durch Zuwachs kompensierten Minderung des wirtschaftlichen Gesamtwerts seines Vermögens führt (Prinzip der Gesamtsaldierung der von der Verfügung betroffenen Vermögenspositionen)9. Hier ist der im Erlöschen der Rückzahlungsverbindlichkeiten bestehende voll werthaltige Vermögensvorteil bei der gebotenen Saldierung zum Zeitpunkt der Vermögensverfügung zu berücksichtigen. Denn er steht mit dem vorherigen Zufluss in einem kausalen und wirtschaftlich zwingenden Zusammenhang, auch wenn sich der bereicherungsrechtliche Anspruch auf Rückzahlung der Kassenbeiträge auf der einen Seite und der Anspruch auf Erstattung der Urlaubsvergütungen im Urlaubskassenverfahren auf der anderen Seite ihrer zivilrechtlichen Begründung nach gegenseitig ausschließen:
Die ULAK war gemäß § 812 Abs. 1 Satz 1 Alternative 1, § 818 Abs. 2 BGB zur Rückerstattung der Beiträge verpflichtet. Denn diese hatte die Einziehungsbeteiligte ohne Rechtsgrund geleistet: Mangels wirksamer Allgemeinverbindlicherklärung der Tarifverträge musste die Bauunternehmerin nicht am Urlaubskassenverfahren teilnehmen und schuldete der ULAK damit keine Beiträge gemäß § 8 Nrn. 6, 15.1 BRTV Bau, § 3 Abs. 1, § 15 Abs. 1 Satz 1 VTV 2012 und VTV 2013 I. Die ULAK verwendete die aus den rechtsgrundlos geleisteten Beiträgen gebildeten Guthaben im Vertrauen auf die Beitragspflicht der Einziehungsbeteiligten nach ihrer Vorstellung durch Erstattung der Urlaubsvergütungen zweckentsprechend; damit verringerte sich gleichzeitig mit der Auszahlung der Gelder die ihr zunächst zugeflossene Bereicherung und damit auch ihre Rückzahlungspflicht nach § 812 Abs. 1 Satz 1 Alternative 1, § 818 Abs. 2 BGB. Der Einsatz eines Täuschungsmittels allein macht den im Einklang mit der Rechtsordnung stehenden Vorteil – wie hier die von Anfang an gebotene Rückabwicklung im Bereicherungsschuldverhältnis – nicht unrechtmäßig10.
Bundesgerichtshof, Urteil vom 11. November 2020 – 1 StR 328/19
- BAnz AT vom 22.05.2012 B 4[↩]
- BAG, Beschluss vom 25.01.2017 – 10 ABR 43/15[↩]
- BAnz AT vom 07.06.2013 B 5[↩]
- BAG, Beschluss vom 25.01.2017 – 10 ABR 34/15[↩]
- vgl. BGH, Beschluss vom 08.06.2017 – 1 StR 614/16 Rn. 5, 9[↩]
- BGBl. I 2017 S. 1210[↩]
- vgl. bereits BGH, Beschlüsse vom 08.06.2017 – 1 StR 614/16 Rn. 8; und vom 27.06.2018 – 1 StR 616/17 Rn. 29 zur kraft Gesetzes rückwirkend angeordneten Melde- und Abführungspflicht nach § 7 Abs. 1 SokaSiG, die keine Strafbarkeit gemäß § 263 Abs. 1, § 13 Abs. 1 StGB begründen kann; vgl. zur Zulässigkeit der echten Rückwirkung im Verhältnis der Sozialkassen zu den Arbeitgebern BVerfG, Beschlüsse vom 11.08.2020 – 1 BvR 2654/17 und 1 BvR 1115/18[↩]
- zum Zweck des Urlaubskassenverfahrens: BAG, Urteil vom 25.10.1984 – 6 AZR 35/82 Rn.19 f., BAGE 47, 114[↩]
- st. Rspr.; siehe nur BGH, Urteil vom 17.12.2019 – 1 StR 171/19 Rn. 31 mwN; Beschlüsse vom 19.05.2020 – 2 StR 398/19 Rn. 24; und vom 09.10.2019 – 1 StR 395/19 Rn. 11[↩]
- BGH, Urteile vom 16.04.1953 – 3 StR 63/53, NJW 1953, 1479; und vom 13.07.1999 – 5 StR 667/98 Rn. 21 ff., 24; Beschluss vom 20.11.1981 – 2 StR 586/81 Rn. 14 f., 19; vgl. auch BGH, Beschluss vom 25.01.2012 – 1 StR 45/11, BGHSt 57, 95 Rn. 86 aE; Urteil vom 17.10.1996 – 4 StR 389/96 Rn. 11 f.; BGHSt 42, 268, 271 f.[↩]