Das Abstandsgebot bei der Sicherungsverwahrung

Aktuell hatte sich der Bundesgerichtshofs mit der Auslegung der Übergangsvorschrift zum Gesetz zur bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebotes im Recht der Sicherungsverwahrung zu befassen. Anlass hierfür bot ein – vom Landgericht Traunstein zurückgewiesener – Antrag der Staatsanwaltschaft auf nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung:

Das Abstandsgebot bei der Sicherungsverwahrung

Das Landgericht Traunstein hatte H. durch Urteil vom 1. Oktober 2004 wegen Mordes in Tateinheit mit Diebstahl mit Waffen unter Einbeziehung einer früheren Verurteilung zu einer Jugend-strafe von neun Jahren und sechs Monaten verurteilt. Als Entlassungstermin nach vollständiger Verbüßung der Jugendstrafe von neun Jahren und sechs Monaten ist der 7. Juli 2013 vorgemerkt. Die Staatsanwaltschaft hat mit Antrag vom 5. Juni 2012 die nachträgliche Unterbringung des H. in der Sicherungsverwahrung gemäß § 7 Abs. 2 JGG (aF) beantragt. Das Landgericht hat ohne Einholung von Sachverständigengutachten Hauptverhandlung anberaumt, da es „rechtliche Bedenken hinsichtlich einer wirksamen gesetzlichen Grundlage für die beantragte nachträgliche An-ordnung der Sicherungsverwahrung habe“. Der Bundesgerichtshof folgte diesen Bedenken nicht und verwies das Verfahren zurück an das Landgericht Traunstein.

Das Landgericht hat den Antrag auf nachträgliche Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung gemäß § 7 Abs. 2 JGG (aF) „aus Rechtsgründen zurückgewiesen, da diese Norm im konkreten Fall nicht als gesetzliche Grundlage herangezogen werden kann“. Zur Begründung wird u.a. ausgeführt: Weder zum Zeitpunkt der Tat noch der Verurteilung sei für einen einem Jugendlichen gleichgestellten Heranwachsenden eine nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung möglich gewesen.

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Gemäß Art. 316e Abs. 1 Satz 2 EGStGB sei § 7 Abs. 2 JGG in der Fassung vom 08.07.2008 nicht anwendbar. Aber selbst wenn, sei durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts1 ein „rechtliches Vakuum“ eingetreten, das durch das beabsichtigte Gesetz zur Reform der Sicherungsverwahrung nicht ausgefüllt würde, da der Entwurf der „Übergangsregelung nicht der Rechtsprechung des BVerfG und des EGMR genügen dürfte und daher voraussichtlich nicht endgültige Gesetzeskraft erreichen wird“.

Die Urteilsausführungen zur Nichtanwendbarkeit des § 7 Abs. 2 JGG (aF) halten sachlichrechtlicher Nachprüfung nicht stand.

Das Gesetz zur bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebotes im Recht der Sicherungsverwahrung vom 05. Dezember 20122 ist am 1. Juni 2013 in Kraft getreten. Durch Artikel 7 dieses Gesetzes wurde nach Artikel 316e EGStGB der Artikel 316f als Übergangsvorschrift eingeführt. Aus dessen Absatz 2 Satz 1 ergibt sich für den vorliegenden Fall, dass die bis zum 31. Mai 2013 geltenden Vorschriften über die Sicherungsverwahrung nach Maßgabe der Sätze 2 bis 4 anzuwenden sind. Danach ist die Anordnung oder Fortdauer der Sicherungsverwahrung auf Grund einer gesetzlichen Regelung, die zur Zeit der letzten Anlasstat noch nicht in Kraft getreten war oder eine nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung, die nicht die Erledigung einer Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus voraussetzt, oder die Fortdauer einer solchen nachträglich angeordneten Sicherungsverwahrung nur zulässig, wenn beim Betroffenen eine psychische Störung vorliegt und aus konkreten Umständen in seiner Person oder seinem Verhalten eine hochgradige Gefahr abzuleiten ist, dass er infolge dieser Störung schwerste Gewalt- oder Sexualstraftaten begehen wird.

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Durch die Änderung (auch) des Artikel 316e EGStGB, in dessen Absatz 1 Satz 2 nach den Wörtern „Absätzen 2 und 3“ die Wörter „sowie in Artikel 316f Absatz 2 und 3“ eingefügt wurden, ist sichergestellt, dass die bis zum 31.12.2010 geltenden Vorschriften über die Sicherungsverwahrung in Fällen rückwirkender Gesetzesanwendung oder in Fällen der nachträglichen Sicherungsverwahrung („Vertrauensschutzfälle“) nur unter den vom BVerfG in seinem Urteil vom 4. Mai 20113 formulierten hohen Voraussetzungen weiter anwendbar sind4.

Die Übergangsvorschrift Artikel 316f EGStGB regelt sowohl die dem StGB als auch die dem JGG unterfallenden Sachverhalte. Absatz 2 Satz 1 bestimmt, dass auf Altfälle hinsichtlich der Sicherungsverwahrung nach Vorschriften des JGG das bis zum 31.05.2013 geltende Recht anzuwenden ist mit den in den Sätzen 2 bis 4 enthaltenen Grundsätzen5.

Die vom BVerfG selbst nur für die Übergangszeit bis zu einer Neuregelung vorgesehene Fortgeltung ist also fortgeschrieben, wobei sich Artikel 316f Absatz 2 Satz 2 EGStGB mit Blick auf die Anforderungen des Artikel 5 Absatz 1 Satz 2 Buchstabe e EMRK nicht auf die bloße Übernahme der Formulierung des BVerfG beschränkt, sondern darüber hinaus ein Kausalitätserfordernis zwischen psychischer Störung und hochgradiger Gefahr statuiert.

Der Bundesgerichtshof hält diese (modifizierte) Fortgeltung für verfassungs- und konventionsgemäß6.

Entgegen der Auffassung des Landgerichts Traunstein war § 7 Abs. 2 JGG (aF) zum Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen Urteils (25.09.2012) daher nach den vom BVerfG durch Urteil vom 04.05.20113 aufgestellten Grundsätzen anzuwenden.

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Dies hat der Bundesgerichtshof bereits in seinem Urteil vom 25. September 20127 ausdrücklich und in einem Verwerfungsbeschluss gemäß § 349 Abs. 2 StPO vom 5. März 20138 inzidenter entschieden, wobei die nachträgliche Anordnung von Sicherungsverwahrung nach § 7 Abs. 2 JGG (aF) auch in diesen Fällen nicht das Vorliegen neuer Tatsachen voraussetzt9.

Das angefochtene Urteil war danach aufzuheben, da auch die seit 1. Juni 2013 geltenden Regelungen eine grundsätzliche Anwendbarkeit des § 7 Abs. 2 JGG aF für Altfälle der vorliegenden Art vorsehen und das Urteil auf dem dargelegten Rechtsfehler beruht.

Die Sache war an das Landgericht Traunstein zurückzuverweisen. Denn der Bundesgerichtshof kann nicht sicher ausschließen, dass Feststellungen getroffen werden können, die auch die – zu Recht – sehr hohen Anforderungen an die nachträgliche Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung gemäß § 105 Abs. 1, § 7 Abs. 2 JGG aF in der modifizierten Fortgeltung erfüllen.

Bundesgerichtshof, Urteil vom 12. Juni 2013 – 1 StR 48/13

  1. BVerfG, Urteil vom 04.05.2011, BVerfGE 128, 326[]
  2. BGBl. I 2425 f.[]
  3. BVerfGE 128, 326[][]
  4. vgl. auch BT-Drucks. 17/9874 vom 06.06.2012 S. 30[]
  5. vgl. auch BT-Drucks. 17/9874 vom 06.06.2012 S. 31[]
  6. vgl. in diesem Sinne auch BVerfG, Beschluss vom 11.03.2013 – 2 BvR 2000/12, StraFo 2013, 213, 214; vgl. auch zu § 66 StGB: BGH, Urteile vom 23.04.2013 – 5 StR 610 und 617/12 sowie vom 24.04.2013 – 5 StR 593/12[]
  7. BGH, Urteil vom 25.09.2012 – 1 StR 160/12[]
  8. BGH, Beschluss vom 05.03.2013 – 1 StR 37/13[]
  9. vgl. BGH, Urteil vom 30.08.2011 – 5 StR 235/11 Rn. 11[]
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Strafzumessungserwägungen - und ihre Darstellung im Urteil