Das ärztliche Attest im Strafprozess

Die Vernehmung eines Arztes kann auch dann durch die Verlesung eines ärztlichen Attests ersetzt werden, wenn die ärztliche Sicht zu Schlüssen aus der attestierten Körperverletzung auf ein anderes Delikt nichts beitragen kann. Dies ist regelmäßig der Fall, wenn die Körperverletzung bei einer nachfolgenden Sexualstraftat allein als Drohung fortgewirkt haben kann.

Das ärztliche Attest im Strafprozess

§ 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO erlaubt aus letztlich pragmatischen Gründen1, ärztliche Atteste zu, wie hier, nicht schweren Körperverletzungen (i.S.d. § 226 StGB) zu verlesen, nicht aber zu Erkenntnissen, die der Arzt nur bei Gelegenheit der Feststellung einer Verletzung gewonnen hat, z.B. über Angaben zur Ursache der Verletzungen, wenn diese ebenfalls in dem Attest dokumentiert sind2.

Dieser Gesichtspunkt ist jedoch in dem hier vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fall nicht einschlägig: Der Arzt hat hinsichtlich der Dornen nicht etwa eine für ihn ohne Angaben der Geschädigten nicht erkennbare Ursache der Verletzung in seinem Attest festgehalten, sondern er hat attestiert, dass die Geschädigte auch – für ihn sichtbar – dadurch verletzt war, dass sich in ihrem Körper noch abgebrochene Dornenstücke befanden.

Im Übrigen hat der Bundesgerichtshof wiederholt ausgesprochen, dass – über den Wortlaut von § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO hinaus3 – eine Einschränkung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes (§ 250 StPO) durch Verlesung eines Attestes nicht zulässig ist, wenn sich die Bedeutung der aus dem Attest ersichtlichen Verletzungen nicht in der Feststellung ihres Vorliegens erschöpft4.

Dies wird regelmäßig angenommen, wenn Gewalt nicht nur zu einer Körperverletzung geführt hat, sondern zugleich auch ein Tatbestandsmerkmal für ein anderes Delikt darstellt, etwa bei einem räuberischen Diebstahl5, oder, in der forensischen Praxis nicht selten, bei Sexualdelikten6. Regelmäßig liegt dann neben Tateinheit auch eine Indizwirkung der Körperverletzung für das andere Delikt vor.

Tateinheit zwischen der Körperverletzung und dem anderen Delikt schließt die Anwendung von § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO nicht zwingend aus, wie der Bundesgerichtshof im Blick auf „generelle Umschreibungen der Unzulässigkeit einer Verlesung nach § 256 StPO, (die) über die jeweils zugrunde liegenden Fallgestaltungen hinaus (gehen)“ präzisierend klargestellt hat7. Erforderlich ist vielmehr ein „überzeugender Grund“8 für die Annahme, nach Sinn und Zweck des Gesetzes9 reiche eine Verlesung des Attests nicht aus.

Dies gilt nach Auffassung des Bundesgerichtshofs auch dann, wenn es um die Vernehmung des Arztes im Blick auf Schlussfolgerungen geht, die aus den Verletzungen hinsichtlich des anderen Delikts gezogen werden können. Eine Vernehmung ist nur dann erforderlich, wenn der unmittelbare Eindruck eine zuverlässigere Grundlage der richterlichen Überzeugungsbildung sein kann als die Verlesung des Attestes10, etwa dazu, ob Verletzungen im Bereich des Unterleibs auf ein gewaltsam begangenes Sexualdelikt hindeuten. Kann ärztliche Sicht zu Schlussfolgerungen dieser Art über die bloße Feststellung der attestierten Verletzung hinaus dagegen nichts beitragen, so besteht regelmäßig auch kein überzeugender Grund für eine Vernehmung des Arztes. Im Kern kommt es also darauf an, ob eine solche Vernehmung Gebot der richterlichen Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) ist, die (auch sonst) von § 256 StPO unberührt bleibt11.

Im vorliegenden Fall kann die ärztliche Sicht zur Beantwortung der Frage, ob die attestierten Verletzungen durch die Dornen die Verletzte nachfolgend aus Furcht vor erneuter Misshandlung zu Manipulationen am Geschlechtsteil des Verletzers veranlasst haben könnten, offensichtlich nichts beitragen. Anderes ist auch dem Revisionsvorbringen nicht zu entnehmen. Die Verlesung des Attestes überschreitet daher die Grenzen der Anwendbarkeit von § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO nicht.

Von alledem abgesehen, beruhte das Urteil ohnehin nicht auf der Verlesung des Attestes. Dies ergibt sich zwar nicht aus den Angaben des Angeklagten, der bestritten hat, zur Tatzeit am Tatort gewesen zu sein, und auf die Möglichkeit verwiesen hat, dass ihn die Geschädigte mit einer anderen Person verwechselt. Die Urteilsgründe verweisen jedoch über die Angaben der Geschädigten hinaus auf eine Reihe gewichtiger, von dem Attest unabhängiger Indizien, wie etwa im Gesicht der Geschädigten gesicherter DNA-Abrieb, der dem Angeklagten zuzuordnen ist. Unter diesen Umständen besteht, so im Ergebnis auch der Generalbundesanwalt, kein Anhaltspunkt für die Annahme, die Strafkammer wäre entgegen ihrer ausdrücklichen Feststellung, wonach das Attest (nur) ihre (ohnehin getroffenen) Feststellungen „bestätigt“12, ohne das Attest möglicherweise zu anderen Feststellungen gelangt.

Bundesgerichtshof, Beschluss vom 21. September 2011 – 1 StR 367/11

  1. vgl. LR-Gollwitzer, StPO, 25. Aufl., § 256 Rn. 1 und 3 mwN[]
  2. BGH, Urteil vom 23.04.1953 – 4 StR 667/52, BGHSt 4, 155, 156; BGH bei Dallinger, MDR 1955, 397; BGH, Beschluss vom 30.11.1983 – 3 StR 370/83, StV 1984, 142, 143; Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl., § 256 Rn.19 mwN[]
  3. BGH, Urteil vom 27.11.1985 – 3 StR 438/85, BGHSt 33, 389, 391[]
  4. st. Rspr.; vgl. BGH, Beschluss vom 06.10.1988 – 1 StR 569/88, BGHR, StPO, § 256 Abs. 1 Körperverletzung 2[]
  5. BGH, Beschluss vom 11.07.1996 – 1 StR 392/96, StV 1996, 649[]
  6. vgl. nur BGH, Urteil vom 07.11.1979 – 3 StR 16/79, NJW 1980, 651; BGH, Beschluss vom 24.07.1984 – 5 StR 478/84, bei Pfeiffer NStZ 1985, 204, 206 ; BGH, Beschluss vom 04.03.2008 – 3 StR 559/07, NStZ 2008, 474[]
  7. BGH, Urteil vom 27.11.1985 – 3 StR 438/85, BGHSt 33, 389, 392[]
  8. BGHSt, aaO, 393[]
  9. BGHSt, aaO, 391, 393[]
  10. BGH, Urteil vom 09.04.1953 – 5 StR 824/52, BGHSt 4, 155, 156; BGH bei Pfeiffer, NStZ 1984, 209, 211, Nr. 21; BGH, Beschluss vom 04.03.2008 – 3 StR 559/07, NStZ 2008, 474[]
  11. vgl. schon BGH, Urteil vom 04.04.1951 – 1 StR 54/51, BGHSt 1, 94, 96; BGH, Urteil vom 16.03.1993 – 1 StR 829/92, BGHR, StPO § 256 Abs. 1 Aufklärungspflicht 1; BGH, Beschluss vom 24.04.1979 – 5 StR 513/78, bei Pfeiffer NStZ 1981, 93, 95 (zu § 244 Abs. 2 StPO); vgl. auch Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl., § 256 Rn. 2 mit Hinweis auf Nr. 111 Abs. 3 Satz 2 RiStBV[]
  12. vgl. BGH, Urteil vom 21.08.2002 – 2 StR 111/02; BGH, Beschluss vom 13.09.2001 – 1 StR 378/01 mwN[]