Die sorgeberechtigten Eltern eines an Diabetes erkrankten Kindes sind verpflichtet, sich über die Gefahren einer Überzuckerung und Unterzuckerung des Kindes sowie die entsprechenden Symptome zu informieren, durch hinreichende Insulingaben einen Insulinmangel (Überzuckerung) zu verhindern, eine massive Überzuckerung (Ketoazidose) zu erkennen und in einem solchen Fall sofort ärztliche Hilfe herbeizuholen.

Um diesen Pflichten genügen zu können, sind die sorgeberechtigten Eltern eines an Diabetes erkrankten Kindes verpflichtet, das Kind in regelmäßigen Abständen mehrmals im Jahr einem kinderdiabetologischen Facharzt oder einer kinderdiabetologischen Fachklinik vorzustellen, dort den Langzeitblutzuckerwert bestimmen zu lassen und sich im Rahmen einer solchen ständigen ärztlichen Betreuung des Kindes oder anderweitig über die Anforderungen an die Betreuung eines diabeteskranken Kindes hinreichend zu informieren.
Wenn die sorgeberechtigten Eltern eines an Diabetes erkrankten Kindes eine massive Überzuckerung (Ketoazidose) des Kindes aufgrund unzureichenden Wissens über die Symptome und Gefahren eines solchen Zustandes nicht erkennen und auf eine Ketoazidose nicht durch Herbeirufen sofortiger ärztlicher Hilfe reagieren, machen sie sich wegen fahrlässiger Tötung strafbar, wenn das Kind an der Ketoazidose verstirbt.
In dem hier entschiedenen Fall war das Kind an insulinpflichtigem Diabetes Mellitus Typ I erkrankt. Diese Erkrankung bedeutet, dass der eigene Körper – die Bauchspeicheldrüse – der betroffenen Person das für die Verstoffwechselung von Kohlehydraten lebensnotwendige Insulin nicht mehr selbst produziert und deshalb eine Insulinzufuhr von außen dauerhaft überlebensnotwendig ist. Es handelt sich bei dem Diabetes Mellitus Typ I um eine Autoimmunerkrankung, die zu einer irreversiblen Zerstörung der insulinproduzierenden Inselzellen der Bauchspeicheldrüse führt, weswegen eine Heilung im Sinne einer Regeneration der körpereigenen Insulinproduktion ausgeschlossen ist. Ohne eine lebenslange Insulinzufuhr von außen – durch Spritzen – in ausreichender Menge kann eine an Diabetes Mellitus Typ I erkrankte Person nicht überleben. Bei einer dauerhaften gut kontrollierten Insulinzufuhr von außen ist dem Betroffenen indes ein weitgehend unbeeinträchtigtes Leben mit der Erkrankung gut möglich.
im entschiedenen Fall taten sich die Eltern zunächst ausgesprochen schwer mit der eindeutigen Diagnose, dass ihre Tochter Sighild an insulinpflichtigem Diabetes erkrankt war. Denn sie standen der klassischen Schulmedizin sehr skeptisch gegenüber – und tun dies auch weiterhin, was sich unter anderem darin manifestiert, dass bis heute keines ihrer Kinder geimpft ist. Sie verfochten die idealisierte Vorstellung eines Lebens im Einklang mit der Natur und auf der Basis einer natürlichen Ernährung, weshalb sie sich mit der Gabe von – mit Hilfe der Gentechnik hergestelltem – Insulin zunächst nicht anzufreunden vermochten, auch wenn sie die Insulinversorgung der Tochter zunächst sicherstellten. Allerdings behielten sie ihre grundsätzliche Skepsis gegenüber der Schulmedizin bei. Dies hatte zur Folge, dass sie ihre Tochter Sighild im Anschluss an den stationären Krankenhausaufenthalt im Klinikum B. im September 2007 keinem Arzt mehr vorstellten und sich insbesondere auch nicht mit Sighild in die permanente Betreuung und Obhut durch eine kinderdiabetologische Fachpraxis oder eine kinderdiabetologische Fachklinik begaben. Eine solche permanente Betreuung durch einen Kinderdiabetologen war jedoch aus medizinischer Sicht geboten und gehört zum medizinischen Standard der korrekten Betreuung und Begleitung an Diabetes erkrankter Kinder. Insbesondere ist es aus medizinischer Sicht unbedingt erforderlich, dass an Diabetes erkrankte Kinder in etwa dreimonatigen Abständen in einer kinderdiabetologischen Fachpraxis oder Fachklinik untersucht werden und dabei insbesondere der Langzeit-Blutzuckerwert (HbA1c-Wert) bestimmt wird, um Aufschluss darüber zu gewinnen, ob dem Kind hinreichend Insulin zugeführt wird. Eine solche quartalsweise Bestimmung des HbA1c-Wertes gehört zum Pflichtprogramm einer ordnungsgemäßen diabetologischen Versorgung eines an Diabetes erkrankten Kindes, um nicht nur Spätschäden des Diabetes zu vermeiden, sondern auch eine ungestörte körperliche und geistige Entwicklung des Kindes zu gewährleisten. Eine solche regelmäßige ärztliche Untersuchung und Betreuung ist auch deshalb aus medizinischer Sicht geboten und obliegt auch deshalb den Sorgeberechtigten eines an Diabetes erkrankten Kindes als Rechtspflicht, weil Bestandteil einer solchen ärztlichen Betreuung immer auch die Schulung der Sorgeberechtigten über den richtigen Umgang mit der Erkrankung, über die Symptome und Gefahren einer Über- oder Unterzuckerung sowie über die sachgerechte Reaktion der Sorgeberechtigten auf Über- und Unterzuckerungen ist.
Die Eltern wussten zwar aufgrund der Informationen, die sie vom Klinikum erhalten hatten, sowie aufgrund ihrer eigenen Erkundigungen mittels des Internet und durch die Lektüre von Beratungsbroschüren, dass es bei sehr hohen, über einem Wert von 250 mg/dl liegenden Blutzuckerwerten zu einer Ketoazidose kommen kann, die ohne unverzügliche Reaktion zwangsläufig zum Tod des Betroffenen führt. Auch wussten sie grundsätzlich über die Symptome einer solchen Ketoazidose Bescheid. Weil sie jedoch eine permanente ärztliche Betreuung ablehnten und diese deshalb unterblieb, waren sie insofern nicht hinreichend sensibilisiert. Sie gingen vielmehr beide davon aus, dass es bei der von ihnen ohne jeden ärztlichen Beistand durchgeführten Insulintherapie primär darum gehen müsse, Unterzuckerungen zu vermeiden, und dass Überzuckerungen zwar schädlich seien, jedoch in erster Linie wegen der aus ihnen resultierenden möglichen Spätfolgen einer Diabeteserkrankung.
Zu Weihnachten verstarb die Tochter infolge einer durch Insulinmangel bedingten schweren Ketoazidose. Diese schwere Ketoazidose wurde von den Eltern sorgfaltspflichtwidrig nicht erkannt, weshalb sie es pflichtwidrig unterließen, unverzüglich notärztliche Hilfe herbeizuholen. Wäre bis zum Abend des 24.12.ärztliche Hilfe herbeigeholt worden, hätte die Ketoazidose ohne Zweifel erfolgreich behandelt werden können und hätte die Tochter die Stoffwechselentgleisung mit Sicherheit überlebt.
Dadurch, dass die Eltern im Verlaufe des 24.12. ie jedenfalls in ihrer Gesamtheit eindeutigen Symptome einer schweren Ketoazidose ihrer Tochter unzutreffend bewerteten und es deshalb unterließen, die unbedingt notwendige ärztliche Behandlung zu veranlassen, handelten sie sorgfaltspflichtwidrig. Denn aufgrund ihrer Pflicht zur elterlichen Sorge für ihre Tochter Sighild B. waren sie gehalten, ihre Tochter Sighild mit genügend Insulin zu versorgen und nicht nur Unterzuckerungen, sondern ebenso auch massive Überzuckerungen zu verhindern. Zudem waren sie von Rechts wegen gehalten, auf Anzeichen einer Ketoazidose zu achten, bei Vorliegen solcher Anzeichen unverzüglich eine Ketonbestimmung im Urin ihrer Tochter vorzunehmen und bei einem insofern bestehenden positiven Befund eine sofortige ärztliche Behandlung ihrer Tochter zu veranlassen. Diesen Pflichten sind die Angeklagten beide nicht nachgekommen, obwohl sie nicht nur pflichtgemäß hätten agieren müssen, sondern dies auch subjektiv hätten tun können. Denn die Symptome der Ketoazidose, die Sighild B. spätestens seit dem Morgen des 24.12.2009 zeigte, waren jedenfalls in ihrer Gesamtheit eindeutig und unterschieden sich deutlich von denen eines bloßen grippalen Infektes. Die beiden Angeklagten hatten zumindest durch ihr Selbststudium im Anschluss an die Diagnose des Diabetes bei ihrer Tochter grundlegende Kenntnisse über die Symptome und Risiken einer Ketoazidose erlangt. Im Übrigen hatten sie es entgegen ihrer Pflicht als Eltern und Sorgeberechtigte von Sighild unterlassen, sich mit ihrer Tochter in eine permanente kinderdiabetologische medizinische Betreuung zu begeben, in deren Rahmen die Angeklagten als diejenigen, die sich um eine sachgerechte Diabetesbehandlung ihrer Tochter im Alltag zu kümmern hatten, regelmäßig über die mit einer Diabeteserkrankung verbundenen Risiken, namentlich auch über die Symptome und Risiken einer Überzuckerung und Ketoazidose, informiert worden wären. Denn eine solche permanente Wissensvermittlung und Sensibilisierung derjenigen, die für ein diabeteskrankes Kind zu sorgen haben, gehört zum Standard der medizinischen Betreuung von diabeteskranken Kindern und deren Sorgeberechtigten.
Der Tod der Tochter war vorhersehbar. Denn eine durch Insulinmangel bedingte schwere Übersäuerung des Körpers führt unweigerlich zu einem Multiorganversagen und damit zu einem Versterben der betroffenen Person, weil die zentralen menschlichen Organe in einem übersäuerten Milieu nicht funktionsfähig sind. Diese tödliche Folge des Unterlassens der Herbeiholung ärztlicher Hilfe war auch für die Eltern in der konkreten Situation am 24.12. subjektiv vorhersehbar, weil das Versterben der betroffenen Person die typische und zwangsläufige Folge einer unbehandelten Ketoazidose ist und auf diese Folge einer unbehandelten Ketoazidose daher nicht nur in Diabetes-Schulungen, sondern auch in den einschlägigen Informationsmaterialien immer wieder hingewiesen wird. Die Angeklagten hätten mithin zumindest das erforderliche Wissen um die tödlichen Folgen einer Ketoazidose erlangen können und müssen.
Landgericht Hannover, Urteil vom 11. Februar 2015 – 39 Ks 1362 Js 80554/10 (13/14) – 39 Ks 13/14