Der Entzug des in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleisteten Rechts der Freiheit eines einer Straftat lediglich Verdächtigen ist aufgrund der Unschuldsvermutung nur ausnahmsweise zulässig. Der vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlichen und zweckmäßig erscheinenden Freiheitsbeschränkung muss unter maßgeblicher Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit der Freiheitsanspruch des noch nicht rechtskräftig verurteilten Beschuldigten als Korrektiv gegenübergestellt werden.

Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verlangt in diesem Zusammenhang auch, dass die Dauer der Untersuchungshaft nicht außer Verhältnis zu der zu erwartenden Strafe steht, und setzt ihr unabhängig von der Straferwartung Grenzen. Mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft vergrößert sich regelmäßig das Gewicht des Freiheitsanspruchs gegenüber dem Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung.
Daraus folgt, dass die Anforderungen an die Zügigkeit der Arbeit in einer Haftsache mit der Dauer der Untersuchungshaft steigen, aber auch die Anforderungen an den die Haftfortdauer rechtfertigenden Grund zunehmen1.
Das Beschleunigungsgebot in Haftsachen erfordert, dass die Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen und eine gerichtliche Entscheidung über die dem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen. Zur Durchführung eines geordneten Strafverfahrens und einer Sicherstellung der etwaigen späteren Strafvollstreckung kann die Untersuchungshaft deshalb nicht mehr als notwendig anerkannt werden, wenn deren Fortdauer auf vermeidbarer Verfahrensverzögerung beruht.
Bei absehbar umfangreichen Verfahren ist eine Hauptverhandlung mit im Grundsatz durchschnittlich mehr als einem Hauptverhandlungstag pro Woche notwendig. Insgesamt ist eine auf den Einzelfall bezogene Prüfung des Verfahrensablaufs durchzuführen. Zu würdigen sind auch die voraussichtliche Gesamtdauer des Verfahrens und die für den Fall einer Verurteilung konkret im Raum stehende Straferwartung2.
Das Beschleunigungsgebot in umfangreichen Haftsachen erfordert auch eine vorausschauende, auch größere Zeiträume umgreifende Verhandlungsplanung3.
Vor diesem Hintergrund erschloss es sich für den Bundesgerichtshof im hier entschiedenen Fall nicht ohne Weiteres, dass das Oberlandesgericht die Verhandlungstermine bisher in Etappen bestimmt hat, anstatt von vornherein eine ausreichende Anzahl an Terminen anzuberaumen. Ungeachtet dieses Umstands haben jedoch nach Aufhebung des Termins am 17.12 2019 bisher insgesamt 29 fast ausnahmslos ganztägige Verhandlungstage stattgefunden. Zieht man die zwei maßvollen Urlaubspausen während der nordrheinwestfälischen Sommerund Herbstferien ab4, die sich im Rahmen der Strafprozessordnung halten und zusammen nur fünfeinhalb Wochen umfassen, errechnet sich für die verbleibenden 22, 5 Wochen seit Verhandlungsbeginn eine durchschnittliche Verhandlungsdichte von knapp 1, 3 Tagen pro Woche. Diese Frequenz ist angesichts der konkreten Umstände des vorliegenden Falles, etwa der inhaltlichen Komplexität des Verfahrens u.a. wurden zuletzt auf Antrag der Verteidigung der Angeklagten Daten in einem Umfang von 32 Gigabyte beigezogen und der Anzahl der Verfahrensbeteiligten nicht zu beanstanden.
Anhaltspunkte dafür, dass das Oberlandesgericht den Prozess bisher nicht stringent und effizient geführt hat, liegen nicht vor. Allein bis zum einschließlich 24. Hauptverhandlungstag hat das Oberlandesgericht 29 Zeugen und sechs Sachverständige vernommen. Es kommt hinzu, dass hinsichtlich eines Urkundenkonvoluts, welches über 1000 Seiten umfasst, das Selbstleseverfahren gemäß § 249 Abs. 2 StPO angeordnet ist. Die Schriftstücke stehen den Verfahrensbeteiligten seit Juli 2019 zur Verfügung, ein Dolmetscher für den Mitangeklagten ist bereitgestellt. Dadurch hat das Oberlandesgericht eine der Verfahrensbeschleunigung dienende zusätzliche Konzentration des Prozessstoffs bewirkt5.
Bedeutsame Verzögerungen oder Versäumnisse, welche die Fortdauer der Untersuchungshaft mit Blick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit hindern würden, sind auch mit Blick auf das Beschwerdevorbringen nicht ersichtlich. Auf den Umstand, dass vom Oberlandesgericht zusätzlich vorgeschlagene Verhandlungstermine an Verhinderungen der Verteidiger gescheitert sind und ein bereits terminierter Hauptverhandlungstag deshalb sogar vollständig entfallen musste6, kommt es danach nicht maßgebend an.
Bundesgerichtshof, Beschluss vom 18. Dezember 2019 – StB 29/19
- st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Beschlüsse vom 08.08.2019 StB 19/19; vom 21.04.2016 StB 5/16, NStZ-RR 2016, 217 f.[↩]
- st. Rspr.; vgl. etwa BVerfG, Beschluss vom 17.01.2013 2 BvR 2098/12 39 ff. mwN; BGH, Beschluss vom 21.04.2016 StB 5/16, NStZ-RR 2016, 217, 218[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 23.01.2008 2 BvR 2652/07[↩]
- vgl. dazu BVerfG, Beschluss vom 23.01.2008 BvR 2652/07 53; BGH, Beschluss vom 05.10.2018 StB 45/18 11[↩]
- vgl. BGH, Beschluss vom 17.07.2019 StB 18/19 12[↩]
- vgl. dazu BVerfG, Beschluss vom 23.01.2008 2 BvR 2652/07 55[↩]
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