2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleistet jedermann „die Freiheit der Person“ und nimmt einen hohen Rang unter den Grundrechten ein. Das kommt darin zum Ausdruck, dass Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG die Freiheit der Person als „unverletzlich“ bezeichnet, Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG ihre Beschränkung nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes zulässt und Art. 104 Abs. 2 bis 4 GG besondere Verfahrensgarantien statuieren1.

Die freiheitssichernde Funktion des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG erfordert auch im Verfahrensrecht Beachtung. Aus ihr ergeben sich Mindesterfordernisse für eine zuverlässige Wahrheitserforschung. Es ist unverzichtbare Voraussetzung eines rechtstaatlichen Verfahrens, dass Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf zureichender richterlicher Sachaufklärung beruhen und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage haben2. Dabei erhöhen sich aufgrund des zunehmenden Gewichts des Freiheitsanspruchs aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG bei langandauernden Unterbringungen die Anforderungen an die Wahrheitserforschung und die verfassungsgerichtliche Kontrolldichte3.
Die Feststellung der Voraussetzungen für die Fortdauer der Sicherungsverwahrung setzt eine wertende richterliche Entscheidung voraus, die das Bundesverfassungsgericht nicht in allen Einzelheiten nachprüfen kann4. Die Prüfung beschränkt sich vielmehr darauf, ob das Fachgericht in objektiv unvertretbarer Weise vorgegangen ist oder die verfassungsrechtliche Bedeutung und Tragweite des durch Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG und Art. 104 Abs. 1 GG verbürgten Freiheitsrechts verkannt hat5.
Verfahrensrechtlich folgt aus dem auch für den Vollzug einer Sicherungsverwahrung aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG folgenden Gebot bestmöglicher Sachaufklärung6, dass sich das Strafvollstreckungsgericht um eine möglichst breite Tatsachenbasis zu bemühen und alle maßgeblichen Gesichtspunkte näher darzulegen hat7. Die Entscheidung über die Fortdauer der Sicherungsverwahrung hat sich auf ein Sachverständigengutachten zu stützen, das der besonderen Tragweite und dem Ausnahmecharakter dieser Entscheidung gerecht wird. Dabei ist darauf Bedacht zu nehmen, dass es hinreichend substantiiert ist und anerkannten wissenschaftlichen Standards genügt8. Auch einem Gutachten, das ohne Exploration des Betroffenen allein auf der Grundlage der Akten, der Vorgutachten sowie der Unterbringungsunterlagen erstellt worden ist, kommt Bedeutung zu, da ein neuer Gutachter die Feststellungen und Stellungnahmen der Unterbringungseinrichtung einer eigenständigen Bewertung zuführen wird, bei der sich seine gesteigerte Unvoreingenommenheit und kritische Distanz entfalten können9. Es ist Aufgabe des Gerichts zu prüfen, ob das Gutachten bestimmten Mindeststandards genügt. Sodann hat es eigenständig zu beurteilen, ob die Voraussetzungen für eine Fortdauer der Sicherungsverwahrung über den Zehnjahreszeitraum hinaus vorliegen, wobei es dem ärztlichen Gutachten richterliche Kontrolle entgegenzusetzen hat10.
Materiell fordert das Übermaßverbot, die Sicherungsbelange und den Freiheitsanspruch des Untergebrachten im Einzelfall abzuwägen. Je länger die Unterbringung andauert, umso strenger sind die Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit des Freiheitsentzugs11.
Bei dem Begriff der psychischen Störung handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, der mit den überkommenen Kategorisierungen der Psychiatrie nicht deckungsgleich ist12. Ob seine Merkmale im Einzelfall erfüllt sind, haben die Gerichte eigenständig zu prüfen. Auch wenn die Frage regelmäßig nur auf der Grundlage eines Sachverständigengutachtens zu beantworten sein wird, obliegt die rechtliche Beurteilung der von den Sachverständigen ermittelten medizinischen oder psychologischen Tatsachen allein den Gerichten13. Abzustellen ist dabei auf den aktuellen psychischen (Dauer-)Zustand des Betroffenen und die daraus resultierende künftige Gefährlichkeit14.
Die gerichtliche Gefahrenprognose, d.h. die eigenständige Prognoseentscheidung des Gerichts15 hat sich darauf zu erstrecken, ob und welche Art rechtswidriger Taten von dem Untergebrachten drohen, wie ausgeprägt das Maß der Gefährdung ist (Häufigkeit, Rückfallfrequenz) und welches Gewicht den bedrohten Rechtsgütern zukommt. Die von dem Untergebrachten ausgehende Gefahr ist hinreichend zu konkretisieren; der Grad der Wahrscheinlichkeit zukünftiger rechtswidriger Taten ist zu bestimmen; deren bloße Möglichkeit vermag die weitere Maßregelvollstreckung nicht zu rechtfertigen. Bei allem ist auf die Besonderheiten des Falles einzugehen16.
Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der auch bei der Entscheidung über die Fortdauer einer langandauernden Unterbringung in der Sicherungsverwahrung zu beachten ist, ist mit Verfassungsrang ausgestattet. Er beherrscht Anordnung und Fortdauer einer freiheitsentziehenden Maßregel der Besserung und Sicherung. Das sich daraus ergebende Spannungsverhältnis zwischen dem Freiheitsanspruch des Betroffenen und dem Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit vor zu erwartenden erheblichen Rechtsgutverletzungen verlangt nach gerechtem und vertretbarem Ausgleich. Dieser lässt sich für die Entscheidungen über die Aussetzung der Maßregelvollstreckung nur dadurch bewirken, dass Sicherungsbelange und der Freiheitsanspruch des Untergebrachten als wechselseitiges Korrektiv gesehen und im Einzelfall gegeneinander abgewogen werden17.
Der Gesetzgeber hat den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit für die Maßregeln der Besserung und Sicherung in § 62 StGB gesetzlich festgelegt. Damit hat er ohnehin von Verfassungs wegen geltendes Recht nochmals im sachlichen Kodifikationszusammenhang hervorgehoben, um dem Grundsatz besonderen Nachdruck zu verleihen18. Er trägt dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zudem dadurch Rechnung, dass die Fortdauer einer freiheitsentziehenden Maßregel bei langandauernden Unterbringungen von erhöhten Voraussetzungen abhängig gemacht wird. So zeigt § 67d Abs. 3 StGB, dass die Erledigung einer Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nach zehn Jahren stets an erster Stelle steht. Dahinter rangiert die Aussetzung, die gegenüber der weiteren Vollstreckung das mildere Mittel darstellt. Erst an letzter Stelle ist als ultima ratio die weitere Vollstreckung zulässig19. Die gleiche Wertung ist Art. 316f Abs. 2 Satz 2 EGStGB zu entnehmen.
Mit Blick auf die verfassungsrechtliche Verankerung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und die hohe Bedeutung einer trotz der unbestimmten Dauer der Sicherungsverwahrung gebotenen realisierbaren Freiheitsperspektive20 kommt der Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Fortdauer der Sicherungsverwahrung auch dann noch eigenständige Bedeutung zu, wenn die strengen tatbestandlichen Voraussetzungen für die Fortdaueranordnung vorliegen. Dies gilt in besonderem Maße bei langandauernden Unterbringungen11.
Da es sich um eine wertende Entscheidung handelt, die nach ausfüllungsbedürftigen Kriterien und unter Prognosegesichtspunkten fällt, kann das Bundesverfassungsgericht sie nicht in allen Einzelheiten, sondern nur daraufhin nachprüfen, ob eine Abwägung überhaupt stattgefunden hat und ob die dabei zugrunde gelegten Bewertungsmaßstäbe der Verfassung entsprechen, insbesondere Inhalt und Tragweite des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit nicht verkennen21.
Das Übermaßverbot stellt zunächst materielle Anforderungen an die Prognoseentscheidung. Die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung darf nur so lange vollstreckt werden, wie der Zweck dieser Maßregel es unabweisbar erfordert und zu seiner Erreichung den Untergebrachten weniger belastende Maßnahmen – im Rahmen der Aussetzung der Vollstreckung zur Bewährung – nicht genügen. Je länger die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung andauert, umso strenger sind die Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit des Freiheitsentzugs. Das Freiheitsgrundrecht gewinnt wegen des sich verschärfenden Eingriffs immer stärkeres Gewicht für die Wertungsentscheidung des Strafvollstreckungsrichters. Es liegt nahe, dass er ihm bei der Frage der Verantwortbarkeit einer eventuellen Erprobung in Freiheit Rechnung trägt. Der im Einzelfall unter Umständen nachhaltige Einfluss des gewichtiger werdenden Freiheitsanspruchs stößt jedoch dort an Grenzen, wo es mit Blick auf die Art der von dem Untergebrachten drohenden Taten, deren Bedeutung und Wahrscheinlichkeit vor dem staatlichen Schutzauftrag für die Rechtsgüter des Einzelnen und der Allgemeinheit unvertretbar erscheint, den Untergebrachten in die Freiheit zu entlassen22.
Nach langjährigem Freiheitsentzug kann die gerichtliche Prognose außerordentlich schwierig sein. Dem Strafvollstreckungsrichter ist die Aufgabe übertragen, hier in besonders verantwortungsvoller Weise einerseits dem berechtigten Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit Rechnung zu tragen, andererseits darauf zu achten, dass die dem Einzelnen von Verfassungs wegen zukommende Chance, seine Freiheit wiederzugewinnen, realisierbar bleibt23.
Vollzugslockerungen haben für die zu treffende Prognoseentscheidung besondere Bedeutung. Für den Richter erweitert und stabilisiert sich die Basis der prognostischen Beurteilung, wenn dem Untergebrachten zuvor Vollzugslockerungen gewährt worden sind. Dies gilt insbesondere für langdauernde Freiheitsentziehungen. Hier zeigt sich typischerweise in besonderem Maße die Notwendigkeit, in sorgfältig gestuftem Vorgehen durch Lockerungen die Resozialisierungsfähigkeit des Betroffenen zu testen und ihn schrittweise auf die Entlassung vorzubereiten24. In der Folge bestehen besondere Prüfungs- und Begründungspflichten des Strafvollstreckungsgerichts. Will es die Ablehnung der Aussetzung (auch) auf die fehlende Erprobung in Lockerungen stützen, hat es von Verfassungs wegen selbstständig zu klären, ob die Begrenzung der Prognosebasis zu rechtfertigen ist, weil die Versagung von Lockerungen auf hinreichendem Grund beruht25. Neben der Verantwortung der Vollzugsbehörde steht die Eigenverantwortung des Untergebrachten für die Durchsetzung seines Freiheitsgrundrechts und seines Resozialisierungsanspruchs. Sie verlangt, dass er die Möglichkeit, sich (weitergehende) Lockerungen zu erstreiten, nutzt25. Ebenso ist grundsätzlich zu erwarten, dass er gewährte Lockerungen in Anspruch nimmt.
Kommt das Gericht seiner Pflicht nicht hinreichend nach, entspricht die (auch) auf die fehlende Erprobung gestützte Ablehnung der Aussetzung nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen. Etwas anderes gilt, wenn sich die Rechtmäßigkeit der Lockerungsversagung im Verfassungsbeschwerdeverfahren sicher feststellen lässt26. Ist die Vollzugsbehörde bei ihrer Entscheidung über die Gewährung von Vollzugslockerungen dem grundrechtlich garantierten Freiheitsanspruch nicht hinreichend gerecht geworden, müssen die Strafvollstreckungsgerichte ihr unter Ausschöpfung ihrer prozessualen Möglichkeiten deutlich machen, dass Vollzugslockerungen geboten sind. Soweit die Strafvollstreckungsgerichte sich insoweit auf die Erteilung von Hinweisen an die Vollzugsbehörde verlegen, ist dies für sich genommen grundsätzlich nicht zu beanstanden. Solche Hinweise bergen aber die Gefahr geringer praktischer Wirksamkeit in sich. Die Einwirkung der Vollstreckungsgerichte muss wegen der besonderen Bedeutung der Vollzugslockerungen für die Prognosebasis der richterlichen Entscheidung effektiv sein. Dies haben die Gerichte bei ihrer Entscheidung, wie sie der Vollzugsbehörde das Gebotensein von Lockerungen deutlich machen, zu berücksichtigen27.
Diese für die Aussetzung einer lebenslangen Freiheitsstrafe zur Bewährung entwickelten Grundsätze sind auf die Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Anordnung der Fortdauer einer freiheitsentziehenden Maßregel übertragbar28.
ngesichts des immer stärker werdenden Freiheitsanspruchs des Beschwerdeführers werden die Fachgerichte im weiteren Verlauf der -hier bereits 12 Jahre andauernden- Unterbringung hinsichtlich der Gewährung von Lockerungen effektiv auf die Vollzugsbehörde einzuwirken und ihr gegebenenfalls unter Ausschöpfung ihrer prozessualen Möglichkeiten deutlich zu machen haben, dass Vollzugslockerungen geboten sind. Das Bundesverfassungsgericht hat ausdrücklich festgestellt, dass zu diesen – im Einzelfall zu prüfenden – Möglichkeiten auch ein Vorgehen auf der Grundlage von § 454a Abs. 1 StPO gehört29.
Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 13. März 2023 – 2 BvR 829/21
- vgl. BVerfGE 35, 185 <190> 109, 133 <157> 128, 326 <372>[↩]
- vgl. BVerfGE 70, 297 <308> BVerfG, Beschlüsse vom 23.09.2008 – 2 BvR 936/08, Rn. 18; und vom 28.09.2020 – 2 BvR 1235/17, Rn. 41[↩]
- vgl. BVerfGE 70, 297 <316> 109, 133 <162 ff.> 117, 71 <106 f.>[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 22.03.2018 – 2 BvR 1509/15, Rn.19[↩]
- vgl. BVerfGE 18, 85 <92 f.> 72, 105 <114 f.>[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 06.08.2014 – 2 BvR 2632/13, Rn. 16; Beschluss vom 28.09.2020 – 2 BvR 1235/17, Rn. 43[↩]
- vgl. BVerfGE 117, 71 <107>[↩]
- vgl. BVerfGE 70, 297 <310> 109, 133 <164> 117, 71 <107>[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 28.09.2020 – 2 BvR 1235/17, Rn. 42[↩]
- vgl. BVerfGE 109, 133 <164> m.w.N.[↩]
- vgl. BVerfGE 70, 297 <311 ff.>[↩][↩]
- vgl. BT-Drs. 17/3403, S. 53 f.[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 15.09.2011 – 2 BvR 1516/11, Rn. 39 m.w.N.[↩]
- vgl. BVerfGE 128, 326 <407>[↩]
- vgl. BVerfGE 58, 208 <223> 70, 297 <310> 109, 133 <164>[↩]
- vgl. BVerfGE 70, 297 <313> – zur Prognoseentscheidung nach § 67d Abs. 2 StGB[↩]
- vgl. BVerfGE 70, 297 <311> – für die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus; 109, 133 <159>[↩]
- vgl. BVerfGE 70, 297 <312>[↩]
- vgl. BVerfGE 109, 133 <159 ff.>[↩]
- vgl. BVerfGE 45, 187 <245> 64, 261 <272> 128, 326 <380>[↩]
- vgl. BVerfGE 70, 297 <314 f.> m.w.N.[↩]
- vgl. BVerfGE 70, 297 <314 f.> 109, 133 <159> 117, 71 <97 f.> BVerfG, Beschluss vom 30.04.2009 – 2 BvR 2009/08, Rn. 26[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 23.09.1991 – 2 BvR 1327/89 22 m.w.N. – zur Ablehnung der Aussetzung einer lebenslangen Freiheitsstrafe zur Bewährung[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 30.04.2009 – 2 BvR 2009/08, Rn. 28 ff., 39 m.w.N.[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 30.04.2009 – 2 BvR 2009/08, Rn. 31 ff. m.w.N.[↩][↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 30.04.2009 – 2 BvR 2009/08, Rn. 35[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 30.04.2009 – 2 BvR 2009/08, Rn. 40 ff. m.w.N.[↩]
- zur Bedeutung von Vollzugslockerungen in der Sicherungsverwahrung vgl. BVerfGE 128, 326 <380>[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 30.04.2009 – 2 BvR 2009/08, Rn. 44 m.w.N.[↩]
Bildnachweis:
- Justizvollzugsanstalt: Falco