Das überlange Haftprüfungsverfahren

Vor dem Bundesverfassungsgericht war die Verfassungsbeschwerde eines Untersuchungsgefangen wegen überlanger Dauer des Haftprüfungsverfahrens erfolgreich.

Das überlange Haftprüfungsverfahren

Das Bundesverfassungsgericht hat der Verfassungsbeschwerde stattgegeben und festgestellt, dass der Untersuchungsgefangenen aufgrund der überlangen Dauer des Haftprüfungsverfahrens in seinem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz verletzt ist.

Der Untersuchungsgefangenen ist diverser Wirtschaftsstraftaten verdächtig und befindet sich seit dem 30.06.2022 ununterbrochen in Untersuchungshaft. Erst am 26.06.2023 hat das Oberlandesgericht Frankfurt am Main die Fortdauer der Untersuchungshaft angeordnet, obwohl die Akten zur Haftprüfung bereits am 28.12.2022 und damit vor Ablauf der sogenannten Sechsmonatsfrist an das Gericht gelangt sind. Der Untersuchungsgefangenen wendet sich mit seiner Verfassungsbeschwerde zuletzt gegen die Nichtentscheidung des Oberlandesgerichts bis zum 26.06.2023 und rügt die Verletzung seines Freiheitsgrundrechts (Art. 2 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 104 GG) und seines Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz (Art.19 Abs. 4 GG).

Die überlange Dauer des Haftprüfungsverfahrens verletzt den Untersuchungsgefangenen in seinem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz. Das Oberlandesgericht hat dem Untersuchungsgefangenen faktisch nicht nur die gesetzlich vorgesehene Sechsmonatsprüfung bezüglich des weiteren Vorliegens der Voraussetzungen der Untersuchungshaft genommen, sondern auch die gesetzlich vorgeschriebene Nachprüfung nach neun Monaten. Die vom Oberlandesgericht angeführten Gründe für die Verzögerung hat der Untersuchungsgefangenen nicht zu vertreten. Sie sind nicht geeignet, eine Verzögerung der Entscheidung über mehrere Monate zu rechtfertigen.

Der Ausgangssachverhalt

Der Untersuchungsgefangenen geriet in den Verdacht diverser Wirtschaftsstraftaten. Am 30.06.2022 wurde der Untersuchungsgefangenen verhaftet und der zuvor erlassene Haftbefehl des Amtsgerichts Frankfurt am Main in Vollzug gesetzt. Seither befindet er sich ununterbrochen in Untersuchungshaft.

Mit Verfügung vom 13.12.2022 übersandte die Staatsanwaltschaft die Akten an das Oberlandesgericht Frankfurt am Main zum Zwecke der besonderen Haftprüfung und beantragte die Fortdauer der Untersuchungshaft gegen den Untersuchungsgefangenen. Auf der dortigen Geschäftsstelle gingen sie am 28.12.2022 ein. Am Folgetag versandte der Vorsitzende des 1. Strafsenats eine Abschrift der Übersendungsverfügung an die Beteiligten und gab ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme. Mit Schreiben vom 09.01.2023 beantragte der Untersuchungsgefangenen die Aufhebung des Haftbefehls.

Der Untersuchungsgefangenen bat das Oberlandesgericht mit Schreiben vom 29.03.2023 um Mitteilung, bis wann mit einer Entscheidung über seine Untersuchungshaft zu rechnen sei. Das Oberlandesgericht teilte daraufhin mit, dass der Berichterstatter längerfristig krankheitsbedingt verhindert sei. Der Unterzeichnerin liege das Verfahren seit dem 24.03.2023 zur Bearbeitung in Vertretung vor. Angesichts „eigener“ vorrangig zu bearbeitender Haftsachen und anstehenden Urlaubs sei derzeit nicht absehbar, wann eine Entscheidung ergehen werde. Am 13.04.2023 stellte die zuständige Richterin in einem Aktenvermerk die Gründe für die Verzögerung nochmals dar und führte ergänzend eine Corona-Erkrankung in ihrer Familie an.

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Die am 16.06.2023 beim Bundesverfassungsgericht eingegangene Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen die Nichtentscheidung des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main im gesetzlichen Haftprüfungsverfahren. Zudem hat sich der Untersuchungsgefangenen zunächst gegen den Haftbefehl des Amtsgerichts Frankfurt am Main gewandt und die Verfassungsbeschwerde mit dem Antrag verbunden, diesen im Wege der einstweiligen Anordnung aufzuheben.

Das Oberlandesgericht hat mit Beschluss vom 26.06.2023 die Fortdauer der Untersuchungshaft gegen den Untersuchungsgefangenen angeordnet. Daraufhin hat der Untersuchungsgefangenen den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung für erledigt erklärt und zurückgenommen. Die Verfassungsbeschwerde hat er mit der Maßgabe aufrechterhalten, festzustellen, dass ihn die Nichtentscheidung des Oberlandesgerichts bis zum 26.06.2023 in seinem Grundrecht auf Freiheit und auf effektiven Rechtsschutz verletze.

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts

Das Bundesverfassungsgericht nahm die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gab ihr statt. Es war daher gemäß § 95 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG festzustellen, dass die überlange Dauer des Haftprüfungsverfahrens vor dem Oberlandesgericht Frankfurt am Main den Untersuchungsgefangenen in seinem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Art.19 Abs. 4 GG verletzt.

Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde

Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig.

Sie richtet sich gegen einen tauglichen Beschwerdegegenstand, weil sich der Untersuchungsgefangenen gegen die Nichtentscheidung des Oberlandesgerichts und damit gegen ein Unterlassen der öffentlichen Gewalt nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 13 Nr. 8a, § 90 Abs. 1 BVerfGG wendet.

Der zwischenzeitlich ergangene Haftfortdauerbeschluss des Oberlandesgerichts vom 26.06.2023 steht der Zulässigkeit des Feststellungsantrags nicht entgegen. Er führt nicht zum Entfallen des Rechtsschutzbedürfnisses für die Verfassungsbeschwerde.

Zwar lässt sich ein Rechtsschutzbedürfnis nicht mit der Behauptung der Verletzung des Freiheitsgrundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 GG begründen. Mit Beschluss vom 26.06.2023 hat das Oberlandesgericht Haftfortdauer angeordnet und damit entschieden, dass der Eingriff in das Freiheitsgrundrecht des Untersuchungsgefangenen gerechtfertigt ist. Für eine Rüge des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 GG stellt allein der Haftfortdauerbeschluss den zutreffenden Anknüpfungspunkt für eine Verfassungsbeschwerde dar. Eine erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen den Haftfortdauerbeschluss entzöge dem weiteren Vollzug der Untersuchungshaft die Grundlage. Ein Rechtsschutzbedürfnis für eine dahinter zurückbleibende Verfassungsbeschwerde gegen die Nichtentscheidung des Oberlandesgerichts mit dem Ziel der bloßen Feststellung der Verletzung des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 GG ist weder dargetan noch ersichtlich.

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Der Untersuchungsgefangenen hat jedoch ein fortdauerndes Rechtsschutzbedürfnis an der Feststellung, dass ihn die überlange Dauer des Haftprüfungsverfahrens in seinem Recht auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes aus Art.19 Abs. 4 GG verletzt. Insoweit entfällt das Rechtsschutzbedürfnis nicht dadurch, dass der Untersuchungsgefangenen Verfassungsbeschwerde gegen den Haftfortdauerbeschluss vom 26.06.2023 hätte erheben können. Denn der Haftfortdauerbeschluss trifft keine Aussage über eine Verletzung des Rechts auf effektiven Rechtsschutz aus Art.19 Abs. 4 GG. Es ist verfassungsrechtlich auch nicht geboten, dass ein Verstoß gegen Art.19 Abs. 4 GG wegen überlanger Dauer des Haftprüfungsverfahrens für sich genommen eine Pflicht zur Aufhebung des Haftbefehls oder zu dessen Außervollzugsetzung begründet. Für den Fall einer verspäteten Aktenvorlage unter Überschreitung der sogenannten Sechsmonatsfrist ist in Rechtsprechung und Schrifttum anerkannt, dass eine solche Pflicht nicht besteht1. Das Bundesverfassungsgericht hat diese fachgerichtliche Rechtsprechung nicht beanstandet2. Es ist nicht ersichtlich, weshalb verfassungsrechtlich etwas anderes gelten sollte, wenn die Verzögerung nicht bei der Vorlage der Akten, sondern bei deren Bearbeitung durch das Oberlandesgericht eingetreten ist, erst recht, wenn – wie hier – die Sechsmonatsfrist formell nicht überschritten wird, weil gemäß § 121 Abs. 3 Satz 1 StPO der Fristenlauf bei einer fristgerechten Aktenvorlage ruht. Der Haftfortdauerbeschluss vom 26.06.2023 lässt deshalb das Rechtsschutzbedürfnis für eine Feststellung der Verletzung des Art.19 Abs. 4 GG unberührt.

Das Rechtsschutzbedürfnis ist auch nicht dadurch entfallen, dass das Oberlandesgericht mit seinem Beschluss vom 26.06.2023 den vom Untersuchungsgefangenen beanstandeten Zustand einer unterbliebenen Entscheidung im besonderen Haftprüfungsverfahren beendet hat. Trotz Erledigung des ursprünglichen Rechtsschutzziels besteht ein Bedürfnis nach gerichtlicher Entscheidung fort, wenn das Interesse des Betroffenen an der Feststellung der Rechtslage in besonderer Weise schutzwürdig ist3. Das ist der Fall, wenn wegen des zugrundeliegenden Sachverhalts eine Wiederholungsgefahr für die grundrechtliche Beeinträchtigung besteht4, die Beeinträchtigung durch einen an sich beendeten Eingriff fortwirkt5 oder der Grundrechtseingriff tiefgreifend ist6. Ob vorliegend eine Gefahr besteht, dass sich eine solche Verzögerung bei folgenden Haftprüfungsverfahren wiederholt, kann dahinstehen. Jedenfalls hat das Oberlandesgericht dadurch, dass es über Monate hinweg im Haftprüfungsverfahren des § 121 Abs. 1, § 122 StPO nicht entschieden hat, tiefgreifend in das Recht des Untersuchungsgefangenen auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes aus Art.19 Abs. 4 GG eingegriffen, weil es um Rechtsschutz im Zusammenhang mit der Überprüfung eines Freiheitsentzugs geht, der seinerseits einen tiefgreifenden Grundrechtseingriff darstellt7. Der Untersuchungsgefangenen hat daher ein fortbestehendes schutzwürdiges Interesse an einer nachträglichen verfassungsrechtlichen Überprüfung und gegebenenfalls einer hierauf bezogenen Feststellung der Verfassungswidrigkeit dieses Grundrechtseingriffs durch das Bundesverfassungsgericht8.

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Der Untersuchungsgefangenen hat den Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde beachtet. Fachgerichtliche Rechtsbehelfe gegen die Untätigkeit des Oberlandesgerichts standen ihm nicht zur Verfügung. Eine reine Untätigkeitsbeschwerde sieht die Strafprozessordnung nicht vor9. Eine Verzögerungsrüge gemäß § 198 Abs. 3 GVG kam nicht in Betracht, weil es sich bei dem besonderen Haftprüfungsverfahren gemäß §§ 121, 122 StPO um ein bloßes Zwischenverfahren handelt, das einer isolierten Betrachtung unter Verzögerungsgesichtspunkten nicht zugänglich ist10. Ein amtsgerichtlicher Haftprüfungsantrag nach § 117 Abs. 1 StPO schied ebenfalls aus, weil dem besonderen Haftprüfungsverfahren nach §§ 121, 122 StPO grundsätzlich der Vorrang zukommt11. Daher genügte der Untersuchungsgefangenen dem Grundsatz der Subsidiarität dadurch, dass er sich durch eine Sachstandsanfrage um die Vermeidung weiterer Verzögerungen bemüht hat12.

Begründetheit der Verfassungsbeschwerde

Die Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet.

Die überlange Dauer des Haftprüfungsverfahrens vor dem Oberlandesgericht Frankfurt am Main verletzt den Untersuchungsgefangenen in seinem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Art.19 Abs. 4 GG.

19 Abs. 4 GG gewährleistet nicht nur ein Individualgrundrecht; er enthält auch eine objektive Wertentscheidung13. Sie verpflichtet den Gesetzgeber, einen wirkungsvollen Rechtsschutz unabhängig von individuellen Berechtigungen sicherzustellen. Das Gebot des effektiven Rechtsschutzes verlangt aber nicht nur, dass jeder potentiell rechtsverletzende Akt der Exekutive in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht der richterlichen Prüfung unterstellt ist; vielmehr müssen die Gerichte den betroffenen Rechten auch tatsächliche Wirksamkeit verschaffen14. Der Zugang zu einer gerichtlichen Entscheidung in der Sache darf daher – vorbehaltlich verfassungsunmittelbarer Schranken – in keinem Fall ausgeschlossen, faktisch unmöglich gemacht oder in unzumutbarer, durch Sachgründe nicht mehr zu rechtfertigenden Weise erschwert werden15. Auf die Gewährleistung eines dermaßen wirkungsvollen Rechtsschutzes hat der Einzelne einen verfassungskräftigen Anspruch16. Der Bürger hat demnach einen substantiellen Anspruch auf eine möglichst wirksame gerichtliche Kontrolle bezüglich des ihn betreffenden Handelns oder Unterlassens der öffentlichen Gewalt17. Wirksamer Rechtsschutz bedeutet auch Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit. Die Angemessenheit der Dauer eines Verfahrens ist nach den besonderen Umständen des einzelnen Falles zu bestimmen18.

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Der Anspruch auf effektiven Rechtsschutz erlangt im Hinblick auf Eingriffe in das Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 GG besondere Bedeutung. Bei einem Haftprüfungsverfahren ist außerdem Art. 5 Abs. 4 EMRK zu berücksichtigen.

Die Europäische Menschenrechtskonvention ist als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite der Grundrechte heranzuziehen19. Eine schematische Parallelisierung der Aussagen des Grundgesetzes mit denen der Europäischen Menschenrechtskonvention ist allerdings nicht verlangt20. Bei der Heranziehung der Europäischen Menschenrechtskonvention sind die Leitentscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu berücksichtigen, auch wenn sie nicht denselben Streitgegenstand betreffen, denn der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte kommt eine faktische Orientierungs- und Leitfunktion für die Auslegung der Europäischen Menschenrechtskonvention über den konkret entschiedenen Einzelfall hinaus zu21.

Im Sinne einer solchen, funktionsanalogen Adaption der Gewährleistungsgehalte der Europäischen Menschenrechtskonvention kommt den aus Art. 5 Abs. 4 EMRK folgenden Verfahrensgarantien und der insoweit einschlägigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Haftbeschwerdeverfahren besondere Bedeutung zu22. Dies hat nach Sinn und Zweck für das von Amts wegen stattfindende besondere Haftprüfungsverfahren der §§ 121, 122 StPO ebenso zu gelten, wenngleich der Wortlaut des Art. 5 Abs. 4 EMRK auf einen Antrag des Betroffenen Bezug nimmt.

5 Abs. 4 EMRK gewährt jeder Person, die festgenommen oder der die Freiheit entzogen ist, das Recht zu beantragen, dass ein Gericht innerhalb kurzer Frist über die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung entscheidet und ihre Entlassung anordnet, wenn die Freiheitsentziehung nicht rechtmäßig ist. Wenngleich eine feste zeitliche Grenze nicht existiert, sondern die Umstände des Einzelfalls, unter anderem die Schwierigkeit des Verfahrens, das Verhalten der innerstaatlichen Behörden und Gerichte sowie der festgenommenen Person und die Bedeutung der Rechtssache für den Betroffenen entscheidend sind, ist ein strenger Maßstab anzulegen23. Bei einem anhängigen Strafverfahren muss zügig über die Rechtmäßigkeit der Haft entschieden werden, damit die festgenommene Person vollen Umfangs in den Genuss der Unschuldsvermutung kommt23.

Diesen Maßstäben ist das Oberlandesgericht nicht gerecht geworden, indem es bis zum 26.06.2023 eine Entscheidung im besonderen Haftprüfungsverfahren unterlassen hat.

Das Oberlandesgericht hat dadurch in das Grundrecht des Untersuchungsgefangenen auf effektiven Rechtsschutz aus Art.19 Abs. 4 GG eingegriffen. Die Verfahrensakten sind am 28.12.2022 und damit vor Ablauf der Sechsmonatsfrist zur Haftprüfung an das Oberlandesgericht gelangt. Nach Eingang der Stellungnahme des Untersuchungsgefangenen am 9.01.2023 vergingen bis zur Entscheidung des Oberlandesgerichts über die Haftfortdauer am 26.06.2023 mehr als fünf Monate. § 122 Abs. 4 Satz 2 StPO sieht demgegenüber vor, dass die Prüfung, ob die Voraussetzungen der Untersuchungshaft weiter vorliegen, spätestens nach drei Monaten zu wiederholen ist. Zwar ruht gemäß § 121 Abs. 3 StPO der Fristenlauf des § 121 Abs. 1 StPO bis zur Entscheidung des Oberlandesgerichts, sodass dem Untersuchungsgefangenen formell keine der in §§ 121, 122 StPO vorgeschriebenen Prüfungen verwehrt worden ist. Indem die Entscheidung des Oberlandesgerichts aber erst knapp sechs Monate nach Ablauf der Sechsmonatsfrist des § 121 Abs. 1 StPO ergangen ist, hat das Oberlandesgericht durch die überlange Verfahrensdauer dem Untersuchungsgefangenen faktisch nicht nur die gemäß § 121 Abs. 1, § 122 StPO vorgesehene Sechsmonatsprüfung, sondern auch die durch § 122 Abs. 4 StPO vorgeschriebene Nachprüfung nach neun Monaten genommen.

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Die vom Oberlandesgericht angeführten Gründe für die Verzögerung rechtfertigen den Eingriff in das Recht auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes aus Art.19 Abs. 4 GG nicht. Bei den in der Antwort auf die Sachstandsanfrage des Untersuchungsgefangenen am 30.03.2023 angeführten und im Aktenvermerk vom 13.04.2023 festgehaltenen Gründen für die Nichtbearbeitung handelt es sich sämtlich um solche, die der Untersuchungsgefangenen nicht zu vertreten hat und die nicht geeignet sind, eine Verzögerung der Entscheidung über mehrere Monate zu rechtfertigen. Das gilt für den Verweis der Richterin auf ihren bevorstehenden Urlaub und die Corona-Erkrankung in ihrer Familie ebenso wie für den Hinweis auf vorrangig zu bearbeitende „eigene“ Haftsachen. Dass die Richterin erst am 24.03.2023 für das Verfahren vertretungsweise zuständig wurde, rechtfertigt die Verzögerung ebenfalls nicht, weil es in der gerichtsinternen Sphäre liegt, dass auf die seit November 2022 bestehende Erkrankung eines Beisitzers erst im März reagiert wurde. Unabhängig davon sind von der Zuweisung des Verfahrens an die neue Richterin am 24.03.2023 bis zur Entscheidung des Oberlandesgerichts am 26.06.2023 noch einmal mehr als drei Monate vergangen. Damit hat das Oberlandesgericht versäumt, dem Recht des Untersuchungsgefangenen auf Durchführung der besonderen Haftprüfung nach § 122 StPO praktische Wirksamkeit zu verschaffen, weil es ihm den gesetzlich vorgesehenen Rechtsschutz nicht innerhalb angemessener Zeit gewährt hat.

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 21. September 2023 – 2 BvR 825/23

  1. vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 21.08.2007 – 3 OBL 86/07 <42>, 3 OBL 86/07, 3 Ws 486/07 11; BGH, Beschluss vom 18.05.2022 – 3 StR 181/21 39; Gärtner, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl.2019, § 121 Rn. 41[]
  2. vgl. BVerfGE 42, 1 <9 f.> BVerfG, Beschluss vom 23.01.2023 – 2 BvR 1343/22, Rn. 5[]
  3. vgl. BVerfGE 9, 89 <93 f.> 10, 302 <308> 53, 152 <157 f.> 58, 208 <219> 83, 24 <29 f.> 104, 220 <230>[]
  4. vgl. BVerfGE 69, 257 <266> 81, 208 <213> 104, 220 <233> BVerfG, Beschluss vom 04.12.2008 – 2 BvR 1043/08, Rn. 15[]
  5. vgl. BVerfGE 81, 138 <140> 96, 27 <40> 104, 220 <233>[]
  6. vgl. BVerfGE 96, 27 <40> 104, 220 <233> 134, 33 <54 Rn. 52> 149, 293 <316 Rn. 59>[]
  7. vgl. BVerfGE 53, 152 <157 f.> BVerfG, Beschluss vom 25.06.2018 – 2 BvR 631/18, Rn. 27[]
  8. vgl. BVerfGE 9, 89 <92 ff.> 32, 87 <92> 53, 152 <157 f.> 91, 125 <133> 104, 220 <234 f.> BVerfG, Beschluss vom 22.04.2021 – 2 BvR 320/20, Rn. 23[]
  9. vgl. Zabeck, in: Karlsruher Kommentar, StPO, 9. Aufl.2023, § 304 Rn. 3[]
  10. vgl. Kreicker, in: Münchener Kommentar zur StPO, 2018, § 198 GVG Rn. 24[]
  11. vgl. Gericke, in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 9. Aufl.2023, § 122 Rn. 11[]
  12. vgl. BVerfG, Beschluss vom 09.12.2009 – 2 BvQ 84/09, Rn. 2[]
  13. vgl. BVerfGE 58, 1 <40>[]
  14. vgl. BVerfGE 35, 263 <274> 40, 272 <275> 67, 43 <58> 84, 34 <49> 143, 216 <224 f. Rn.20> stRspr[]
  15. vgl. BVerfGE 10, 264 <268> 44, 302 <305> 143, 216 <225 f. Rn. 21>[]
  16. vgl. BVerfGE 149, 346 <363 Rn. 34>[]
  17. vgl. BVerfGE 40, 272 <275>[]
  18. vgl. BVerfGE 55, 349 <369>[]
  19. vgl. BVerfGE 111, 307 <317 f.> 128, 326 <366 ff.> 148, 296 <351 Rn. 128> 149, 293 <328 Rn. 86> 158, 1 <36 Rn. 70> – Ökotox-Daten[]
  20. vgl. BVerfGE 128, 326 <366, 392 f.> 156, 354 <397 Rn. 122> – Vermögensabschöpfung[]
  21. vgl. BVerfGE 111, 307 <320> 128, 326 <368> 148, 296 <351 f. Rn. 129>[]
  22. vgl. BVerfG, Beschluss vom 18.09.2018 – 2 BvR 745/18, Rn. 46[]
  23. vgl. EGMR, Patalakh v. Germany, Urteil vom 08.03.2018, Nr. 22692/15, § 33[][]
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Strafzumessung - und die Untersuchungshaft

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