Bei der Anordnung und Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft ist stets das Spannungsverhältnis zwischen dem in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleisteten Recht des Einzelnen auf persönliche Freiheit und den unabweisbaren Bedürfnissen einer wirksamen Strafverfolgung zu beachten.

Grundsätzlich darf nur einem rechtskräftig Verurteilten die Freiheit entzogen werden. Der Entzug der Freiheit eines der Straftat lediglich Verdächtigen ist wegen der Unschuldsvermutung, die ihre Wurzel im Rechtsstaatsprinzip des Art.20 Abs. 3 GG hat und auch in Art. 6 Abs. 2 EMRK ausdrücklich hervorgehoben ist1, nur ausnahmsweise zulässig. Dabei muss den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlich und zweckmäßig erscheinenden Freiheitsbeschränkungen der Freiheitsanspruch des noch nicht rechtskräftig verurteilten Beschuldigten als Korrektiv gegenübergestellt werden, wobei dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine maßgebliche Bedeutung zukommt2.
Die Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte müssen daher alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen und eine gerichtliche Entscheidung über die einem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen. Der Beschleunigungsgrundsatz beansprucht auch für das Zwischenverfahren nach den §§ 199 ff. StPO Geltung. In diesem Stadium muss das Verfahren ebenfalls mit der gebotenen Zügigkeit gefördert werden, um bei Entscheidungsreife über die Zulassung der Anklage zur Hauptverhandlung zu beschließen und im Regelfall innerhalb von weiteren drei Monaten mit der Hauptverhandlung zu beginnen3.
Zur Durchführung eines geordneten Strafverfahrens und zur Sicherstellung der Strafvollstreckung kann die Untersuchungshaft dann nicht mehr als notwendig anerkannt werden, wenn ihre Fortdauer durch Verfahrensverzögerungen verursacht ist, die ihre Ursache nicht in dem konkreten Strafverfahren haben und daher von dem Beschuldigten nicht zu vertreten, sondern vermeidbar und sachlich nicht gerechtfertigt sind4. Entsprechend dem Gewicht der zu ahndenden Straftat können zwar kleinere Verfahrensverzögerungen die Fortdauer der Untersuchungshaft rechtfertigen. Allein die Schwere der Tat und die sich daraus ergebende Straferwartung vermögen aber bei erheblichen, vermeidbaren und dem Staat zuzurechnenden Verfahrensverzögerungen nicht zur Rechtfertigung einer ohnehin schon lang andauernden Untersuchungshaft zu dienen5.
Da der Grundrechtsschutz auch durch die Verfahrensgestaltung zu bewirken ist6, unterliegen Haftfortdauerentscheidungen einer erhöhten Begründungstiefe7. In der Regel sind in jedem Beschluss über die Anordnung der Fortdauer der Untersuchungshaft aktuelle Ausführungen zu dem weiteren Vorliegen ihrer Voraussetzungen, zur Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Beschuldigten und dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit sowie zur Frage der Verhältnismäßigkeit geboten, weil sich die dafür maßgeblichen Umstände angesichts des Zeitablaufs in ihrer Gewichtigkeit verschieben können8. Die zugehörigen Ausführungen müssen in Inhalt und Umfang eine Überprüfung des Abwägungsergebnisses am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht nur für den Betroffenen selbst, sondern auch für das die Anordnung treffende Fachgericht im Rahmen einer Eigenkontrolle gewährleisten und in sich schlüssig und nachvollziehbar sein9.
Diesen Vorgaben genügte im vorliegenden Fall der angegriffene Beschluss des Oberlandesgerichts Karlsruhe10 nicht. Er enthält keine verfassungsrechtlich tragfähige Begründung, die die weitere Fortdauer der Untersuchungshaft rechtfertigen könnte:
Das Verfahren ist nach Eingang der Anklageschrift beim Landgericht nicht in der durch das Gewicht des Freiheitseingriffs gebotenen Zügigkeit gefördert worden. Der angegriffene Beschluss zeigt keine besonderen Umstände auf, die die Fortdauer der Untersuchungshaft verfassungsrechtlich hinnehmbar erscheinen lassen könnten. Er wird damit den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Begründung von Haftfortdauerentscheidungen nicht gerecht.
Das Oberlandesgericht hat nicht schlüssig begründet, warum es sich um einen besonderen Ausnahmefall handeln soll, der es rechtfertigen würde, dass das Landgericht zum Zeitpunkt des angegriffenen Beschlusses vom 18.05.2018 noch nicht über die Zulassung der Anklage im Zwischenverfahren (§§ 199 ff. StPO) entschieden hatte. Die Anklageschrift vom 21.02.2018 lag dort bereits knapp drei Monate vor, die Untersuchungshaft des Untersuchungshäftlings dauerte bereits fast ein Jahr an. Anhaltspunkte dafür, dass die Entscheidungsreife über die Zulassung der Anklage gefehlt haben könnte, liegen nicht vor.
Zwar mag es in vielen Fällen praktikabel sein, über die Zulassung der Anklage zeitgleich mit der Terminierung zu entscheiden. Ist eine Terminierung jedoch auf absehbare Zeit nicht möglich, etwa weil noch Termine abgestimmt werden müssen oder ein geeigneter Sitzungssaal gesucht werden muss, hat das Gericht vorab über die Zulassung der Anklage zu entscheiden und damit das Zwischenverfahren abzuschließen. Maßgeblich ist insoweit nur, inwieweit das Gericht von einem hinreichenden Tatverdacht ausgeht (§ 203 StPO), sodass sich der Angeschuldigte fortan – im Umfang der Zulassung der Anklage – in der prozessualen Stellung eines Angeklagten befindet (§ 157 StPO). Ob bereits Termine abgestimmt werden konnten und ob ein geeigneter Sitzungssaal zur Verfügung steht, ist für die Entscheidungsreife über die Zulassung der Anklage unerheblich (vgl. § 213 StPO).
Zudem setzt sich das Oberlandesgericht nicht hinreichend mit dem Umstand auseinander, dass eine Verzögerung des Verfahrens vor allem auch darin begründet sein könnte, dass der Vorsitzende der Strafkammer erst am 14.05.2018 – zweieinhalb Monate nach Anklageerhebung und wenige Tage vor dem angegriffenen Beschluss des Oberlandesgerichts – mit der Terminsabstimmung begonnen hat. Warum diese nicht schon deutlich früher – etwa zeitgleich mit der Mitteilung der Anklageschrift gemäß § 201 Abs. 1 Satz 1 StPO und gegebenenfalls auch unter Vorbehalt eines noch zu findenden Sitzungssaals – möglich gewesen sein sollte, legt das Oberlandesgericht nicht schlüssig dar. Im Übrigen wären nach der Stellungnahme des Ministeriums der Justiz und für Europa jederzeit kurzfristig geeignete Räumlichkeiten verfügbar gewesen, wie sich auch später bestätigt hat.
Es ist daher gemäß § 95 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG festzustellen, dass der Beschluss des Oberlandesgerichts Karlsruhe vom 18.05.2018 den Untersuchungshäftling in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG verletzt. Der Beschluss ist insoweit unter Zurückverweisung der Sache aufzuheben (§ 93c Abs. 2 i.V.m. § 95 Abs. 2 BVerfGG). Das Oberlandesgericht wird unter Beachtung der vorstehenden Ausführungen erneut über die Haftfortdauer zu entscheiden haben.
Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 1. August 2018 – 2 BvR 1258/18
- vgl. BVerfGE 19, 342, 347; 74, 358, 370 f.[↩]
- vgl. grundlegend BVerfGE 19, 342, 347 sowie BVerfGE 20, 45, 49 f.; 36, 264, 270; 53, 152, 158 f.; BVerfGK 15, 474, 479; BVerfG, Beschluss vom 22.01.2014 – 2 BvR 2248/13 u.a. 32; Beschluss vom 30.07.2014 – 2 BvR 1457/1419; Beschluss vom 20.12 2017 – 2 BvR 2552/17 15; Beschluss vom 11.06.2018 – 2 BvR 819/18 27[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 04.05.2011 – 2 BvR 2781/10 15; Beschluss vom 14.11.2012 – 2 BvR 1164/12 43; Beschluss vom 30.07.2014 – 2 BvR 1457/14 21; Beschluss vom 20.12 2017 – 2 BvR 2552/17 16; Beschluss vom 11.06.2018 – 2 BvR 819/18 28, 37[↩]
- vgl. BVerfGK 15, 474, 480 m.w.N.[↩]
- BVerfGK 7, 140, 156; BVerfG, Beschluss vom 30.07.2014 – 2 BvR 1457/14 22; Beschluss vom 20.12 2017 – 2 BvR 2552/17 17; Beschluss vom 11.06.2018 – 2 BvR 819/18 29[↩]
- vgl. hierzu BVerfGE 53, 30, 65; 63, 131, 143[↩]
- vgl. BVerfGE 103, 21, 35 f.; BVerfGK 7, 140, 161; 10, 294, 301; 15, 474, 481; 19, 428, 433; BVerfG, Beschluss vom 22.01.2014 – 2 BvR 2248/13 u.a. 38[↩]
- vgl. BVerfGK 7, 140, 161; 10, 294, 301; 15, 474, 481; 19, 428, 433; BVerfG, Beschluss vom 22.01.2014 – 2 BvR 2248/13 u.a. 38[↩]
- vgl. BVerfGK 7, 421, 429 f.; 8, 1, 5; 15, 474, 481 f.; BVerfG, Beschluss vom 22.01.2014 – 2 BvR 2248/13 u.a. 39; Beschluss vom 30.07.2014 – 2 BvR 1457/14 25; Beschluss vom 20.12 2017 – 2 BvR 2552/1719; Beschluss vom 11.06.2018 – 2 BvR 819/18 31[↩]
- OLG Karlsruhe, Urteil vom 18.05.2018 – HEs 3 Ws 211/18, HEs 3 Ws 212-219/18[↩]