Der nicht ordnungsgemäß zugestellte Strafbefehl

Wird ein Strafbefehl nicht ordnungsgemäß zugestellt, wird die Einspruchsfrist nicht in Gang gesetzt. Die Frage des Zustellungszeitpunktes ist daher der Frage einer möglichen Verfristung und anschließenden Wiedereinsetzung in die Einspruchsfrist vorgelagert.

Der nicht ordnungsgemäß zugestellte Strafbefehl

Bei der Prüfung, ob einem Beschuldigten ein Strafbefehl wirksam zugestellt wurde, sind die Fachgerichte gehalten, den Grundsatz rechtsstaatlicher Verfahrensgestaltung zu beachten. Sie dürfen bei der Anwendung und Auslegung der prozessrechtlichen Vorschriften, die die Gewährung rechtlichen Gehörs sichern sollen, keine überspannten Anforderungen stellen. Dies gilt insbesondere, wenn – wie hier – der erste Zugang zu Gericht infrage steht1.

Gemäß § 418 Abs. 1 ZPO begründen öffentliche Urkunden wie die Postzustellungsurkunde zwar vollen Beweis der darin bezeugten Tatsachen, also insbesondere den Umstand der Zustellung zu einem bestimmten Zeitpunkt. Allerdings lässt § 418 Abs. 2 ZPO den Beweis der Unrichtigkeit der bezeugten Tatsachen zu. Dieser Gegenbeweis lässt sich aber nicht durch die bloße Behauptung führen, das betreffende Schriftstück nicht erhalten zu haben, weil es für die Wirksamkeit der Zustellung nicht darauf ankommt, ob und wann der Adressat das Schriftstück seinem Briefkasten entnommen und ob er es tatsächlich zur Kenntnis genommen hat. Der Gegenbeweis der Unrichtigkeit der in der Zustellungsurkunde bezeugten Tatsachen erfordert vielmehr den Beweis eines anderen als des beurkundeten Geschehensablaufs, der damit ein Fehlverhalten des Zustellers und eine Falschbeurkundung in der Zustellungsurkunde belegt. Hierfür bedarf es einer substantiierten Darlegung der Umstände, die gegen die Richtigkeit des Inhalts der öffentlichen Urkunde sprechen2. Hinreichend substantiierte Darlegungen können – selbst wenn sie die Beweiskraft der Zustellungsurkunde nicht beseitigen – den Gerichten Anlass bieten, weitere Nachforschungen anzustellen3. Kommt ein Gericht zu dem Ergebnis, dass der volle Beweis für den Zugang eines Schriftstücks mit den vorgelegten Mitteln der Glaubhaftmachung nicht erbracht ist, muss es darauf hinweisen und den Betroffenen Gelegenheit geben, Zeugenbeweis anzutreten oder auf andere Beweismittel zurückzugreifen; sodann hat es – auf Antrag oder von Amts wegen – über die behaupteten Umstände Beweis zu erheben4.

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Die fehlerhafte Postzustellungsurkunde

Dies zugrunde gelegt, liegt es für das Bundesverfassungsgericht nahe, dass im vorliegenden Fall die Rechtsanwendung des Landgerichts Lüneburg5 keine Stütze im Prozessrecht mehr findet:

Zwar begegnet es keinen Bedenken, dass das Landgericht im Ausgangspunkt angenommen hat, dass mit der Postzustellungsurkunde zunächst der volle Beweis über die Zustellung des Strafbefehls am 17.04.2018 erbracht gewesen sei. Der Beschwerdeführer hatte hierzu jedoch vorgetragen, dass durch eine Vernehmung seines Bruders sowie des Postzustellers die Unrichtigkeit der in der Postzustellungsurkunde bezeugten Tatsachen bewiesen werden könne, und eine entsprechende Beweiserhebung beantragt. Mit seinem Tatsachenvortrag zum Ablauf der Zustellung und seinem diesbezüglichen Beweisangebot hat der Beschwerdeführer die Frage nach der Erschütterung der Postzustellungsurkunde und dem darin bezeugten Zustellzeitpunkt aufgeworfen. Nach den unter a)) ausgeführten Maßstäben wäre diesem Tatsachenvortrag gemäß § 418 Abs. 2 ZPO im Rahmen der Frage, wann dem Beschwerdeführer der Strafbefehl zugegangen ist, weiter nachzugehen beziehungsweise hierüber Beweis zu erheben gewesen, sofern dieser Vortrag hinreichend substantiiert und das angebotene Beweismittel erheblich war; insbesondere gilt insoweit keine Beschränkung auf präsente Beweismittel.

Der Umstand, dass das Landgericht als Zeitpunkt für die Zustellung des Strafbefehls und damit für den Fristbeginn ohne gesonderte Begründung den 17.04.2018 feststellt, legt nahe, dass das Landgericht den dargestellten Prüfungsmaßstab verkannt hat. Stattdessen prüft es das Vorbringen des Beschwerdeführers ausschließlich als Wiedereinsetzungsantrag am Maßstab des § 45 Abs. 2 Satz 1 StPO; lediglich im Rahmen dieser Prüfung kommt es auf § 418 Abs. 2 ZPO zu sprechen. Nach seiner Auffassung habe der Beschwerdeführer den vollen Gegenbeweis nicht erbracht, da es an einem geeigneten Mittel der Glaubhaftmachung fehle. Es sei nicht Sache des Gerichts, von sich aus Zeugen zu vernehmen oder vernehmen zu lassen. Wie ausgeführt, ist der Beschwerdeführer hinsichtlich des Gegenbeweises zum in der Postzustellungsurkunde genannten Zustellzeitpunkt jedoch nicht auf präsente Beweismittel beschränkt. Sofern der Tatsachenvortrag hinreichend substantiiert und erheblich ist, hat das Gericht dem Beweisangebot nachzugehen.

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Wirtschaftliches Eigentums an einer Kapitalbeteiligung

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 9. Januar 2023 – 2 BvR 2697/18

  1. vgl. BVerfGE 37, 100 <101 f.> vgl. Bayerischer Verfassungsgerichtshof, Entscheidung vom 31.07.2007 – Vf. 16-VI-0719[]
  2. vgl. BVerfG, Beschluss vom 20.02.2002 – 2 BvR 2017/01, Rn. 4; Bayerischer Verfassungsgerichtshof, Entscheidung vom 31.07.2007 – Vf. 16-VI-07 23 m.w.N.[]
  3. vgl. Bayerischer Verfassungsgerichtshof, Entscheidung vom 31.07.2007 – Vf. 16-VI-07 25; vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 20.02.2002 – 2 BvR 2017/01, Rn. 7[]
  4. vgl. BGH, Beschluss vom 28.01.2020 – VIII ZB 39/19 18 zur fristgerechten Einreichung eines Berufungsschriftsatzes[]
  5. LG Lüneburg, Beschluss vom 15.11.2018 – 33 Qs 59/18[]

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