Der objektiv willkürliche Eingriff in die Gerichtsbesetzung

Die Vorschrift des § 28 Abs. 1 StPO steht einer Besetzungsrüge nicht entgegen, wenn die Anwendungsvoraussetzungen der §§ 24, 30, 31 StPO verkannt werden und so in objektiv willkürlicher Weise in die Gerichtsbesetzung eingegriffen wird. Wegen Besorgnis der Befangenheit kann ein Richter – wenn im Zeitpunkt der Entscheidung ein Ablehnungsgesuch eines Ablehnungsberechtigen im Sinne von § 24 Abs. 3 StPO nicht vorliegt – nur infolge einer Selbstanzeige nach § 30 StPO von der Mitwirkung ausgeschlossen werden; von Amts wegen findet eine Überprüfung nur hinsichtlich der gesetzlichen Ausschlussgründe nach §§ 22, 23 StPO statt.

Der objektiv willkürliche Eingriff in die Gerichtsbesetzung

Der Zulässigkeit der Besetzungsrüge steht § 28 Abs. 1 StPO nicht entgegen. Nach dieser Regelung ist ein Beschluss, mit dem die Ablehnung eines Richters für begründet erklärt wird, zwar nicht anfechtbar; dies gilt in entsprechender Anwendung auch, wenn das Gericht nach §§ 30, 31 StPO auf die Selbstanzeige eines (ehrenamtlichen) Richters oder von Amts wegen entscheidet1. Anders liegt der Fall aber mit der Folge der Anfechtbarkeit, wenn die Anwendungsvoraussetzungen der Norm verkannt werden und so in objektiv willkürlicher Weise in die Gerichtsbesetzung eingegriffen wird2. So verhält es sich hier:

Die Voraussetzungen des nach § 31 StPO auch für Schöffen geltenden § 30 StPO waren nicht gegeben. Nach dieser Norm ist ausweislich ihres eindeutigen Wortlauts zu entscheiden, wenn ein Ablehnungsgesuch nicht angebracht ist, aber entweder ein Richter von einem Verhältnis Anzeige macht, das seine Ablehnung rechtfertigen könnte, oder wenn aus anderen Gründen Zweifel entstehen, ob ein Richter kraft Gesetzes ausgeschlossen ist. Von Amts wegen findet mithin eine Überprüfung nur hinsichtlich der gesetzlichen Ausschlussgründe nach §§ 22, 23 StPO statt3.

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Wegen Besorgnis der Befangenheit kann ein Richter – wenn wie hier im Zeitpunkt der Entscheidung ein Ablehnungsgesuch eines Ablehnungsberechtigen im Sinne von § 24 Abs. 3 StPO nicht vorliegt – nur infolge einer Selbstanzeige nach § 30 StPO von der Mitwirkung ausgeschlossen werden; eine solche Selbstanzeige ist mithin Entscheidungsvoraussetzung4. Hier lag eine Selbstanzeige der Schöffin nicht vor; diese hatte vielmehr in ihrer Stellungnahme auf die Verfügung der Vorsitzenden vom 09.03.2020 lediglich mitgeteilt, dass das gegen sie geführte Ermittlungsverfahren mit dem vorliegenden Strafverfahren nichts zu tun habe und sie sich nicht befangen fühle.

Die vorliegende Besetzungsrüge ist auch im Hinblick auf die Anforderungen von § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO zulässig erhoben:

So war bei Erhebung des Besetzungseinwands in der Hauptverhandlung weiterer Vortrag schon deshalb nicht erforderlich, weil ein Fall eines nach § 222b StPO zu erhebenden Besetzungseinwands gerade nicht vorlag. Im Übrigen hätte es hier über die – rechtlich zutreffende – Begründung hinaus, die Schöffin hätte wegen Besorgnis der Befangenheit nur auf Antrag eines Antragsberechtigten, nicht aber von Amts wegen ausgeschlossen werden dürfen, keines weiteren Tatsachenvortrags bedurft, weil damit alle entscheidungserheblichen Umstände dargelegt waren. Ebenso war hier kein näherer Vortrag zum Schicksal eines von der Verteidigung wegen des Beschlusses gegen die Berufsrichter der Strafkammer angebrachten Befangenheitsgesuchs nötig, weil sich daraus für die erhobene Besetzungsrüge nichts ergibt.

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Schließlich war es auch nicht erforderlich, die dienstliche Stellungnahme der Schöffin im Wortlaut mitzuteilen. Ihr wesentlicher Inhalt ergab sich bereits aus dem mitgeteilten Antrag der Generalstaatsanwaltschaft und dem ebenfalls vollständig wiedergegebenen Beschluss des Oberlandesgerichts. Weiteres musste aus der Stellungnahme nicht vorgetragen werden, zumal da die Strafkammer sich in ihrem Beschluss zum Ausschluss der Schöffin auf diese Stellungnahme nicht gestützt hat. Insbesondere hat sie nicht darauf abgestellt, in der Stellungnahme könne eine Selbstanzeige zu sehen sein. Vielmehr ergibt sich aus der Verfügung der Vorsitzenden, mit der ihr Vermerk und die Vermerke des anderen Strafkammervorsitzenden an die Verfahrensbeteiligten gesandt wurden, dass die „Kammer […] ein Vorgehen nach §§ 30, 31 StPO von Amts wegen“ prüfe.

Erst weit nach Erlass des Beschlusses zog die Strafkammer in ihrer Nichtabhilfeentscheidung das – verspätete und damit unzulässige – Ablehnungsgesuch der Staatsanwaltschaft und die dienstliche Stellungnahme der Schöffin heran, um deren Ausschluss mit einer weiteren Begründung zu rechtfertigen. Angesichts des Inhalts der dienstlichen Stellungnahme ist es aber schon nicht nachvollziehbar, warum darin eine Selbstanzeige zu sehen sein sollte.

Die Besetzungsrüge hat aus den genannten Gründen auch in der Sache Erfolg. Der Ausschluss der Schöffin war mangels Vorliegens der Entscheidungsvoraussetzungen der §§ 30, 31 StPO gesetzeswidrig und die Strafkammer mit dem Ergänzungsschöffen damit ab dem 13.03.2020 nicht mehr vorschriftsmäßig besetzt.

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Das von der Staatsanwaltschaft am 13.03.2020 nachträglich gegen die Schöffin angebrachte Ablehnungsgesuch führt zu keiner anderen Beurteilung, denn dieses war nicht im Sinne von § 25 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StPO unverzüglich geltend gemacht worden und damit unzulässig. Die Umstände, die nach dem Antrag der Staatsanwaltschaft, der keine eigene Begründung enthielt, sondern lediglich auf die Gründe des bereits ergangenen Beschlusses der Strafkammer Bezug nahm, die Befangenheit der Schöffin begründen sollten, hatte die Vorsitzende den Verfahrensbeteiligten bereits mit Verfügung vom 09.03.2020 mitgeteilt und Gelegenheit zur Stellungnahme bis zum 11.03.2020 gegeben. Angesichts dessen war die Stellung des Gesuchs erst im Hauptverhandlungstermin vom 13.03.2020, und dort auch erst nach der Mittagspause, nicht ohne schuldhaftes Zögern und damit verspätet5. Der Umstand, dass erst in diesem Termin die – unzutreffende – Rechtauffassung der Strafkammer, sie könne die Schöffin auch ohne Befangenheitsgesuch eines Antragsberechtigten und ohne Selbstanzeige von Amts wegen von der weiteren Mitwirkung ausschließen, von der Verteidigung bezweifelt wurde, ändert daran nichts.

Bundesgerichtshof, Beschluss vom 2. Februar 2022 – 5 StR 153/21

  1. BGH, Urteil vom 13.03.1962 – 5 StR 544/61, GA 1962, 338; LR/Siolek, StPO, 27. Aufl., § 30 Rn. 18 mwN[]
  2. vgl. auch LR/Siolek, aaO, Rn. 21; MünchKomm-StPO/Conen/Tsambikakis, § 30 Rn. 8; jeweils mwN, die insoweit von einer Verletzung von § 16 Satz 2 GVG ausgehen[]
  3. MünchKomm-StPO/Conen/Tsambikakis, aaO, Rn. 1; Meyer-Goßner/Schmitt, aaO, § 30 Rn. 3[]
  4. LR/Siolek, aaO, Rn. 21[]
  5. vgl. dazu auch BGH, Urteil vom 03.02.1982 – 2 StR 374/81, NStZ 1982, 291, 292[]
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