Nach § 235 Abs. 1 Nr. 1 StGB macht sich unter anderem strafbar, wer eine Person unter achtzehn Jahren mit Gewalt einem Elternteil entzieht oder vorenthält. Das ist dann der Fall, wenn die Personensorge, also die Pflicht und das Recht der Eltern oder des sorgeberechtigten Elternteils zur Pflege, Erziehung, Beaufsichtigung und Aufenthaltsbestimmung durch räumliche Trennung für eine gewisse, nicht nur ganz vorübergehende Dauer so wesentlich beeinträchtigt wird, dass sie nicht mehr ausgeübt werden kann1.

Das Verhalten des – nicht sorgeberechtigten – Vaters, der seine geschiedene Ehefrau mit Gewalt aus der Wohnung im syrischen Aleppo verwies und sie damit von ihrer Tochter trennte, in der Folgezeit jeglichen Kontakt zwischen beiden unterband und die Ausreise seiner Tochter aus Syrien verweigerte, erfüllt diesen Tatbestand.
Maßstab der im Rahmen von § 235 StGB erforderlichen Prüfung, ob dem Geschädigten das Recht zur Personensorge für den Minderjährigen zusteht, ist das deutsche Recht einschließlich des Internationalen Privatrechts2. Danach hatte die Mutter vorliegend zum Zeitpunkt der gewaltsamen Trennung von Mutter und Tochter die (alleinige) Sorge inne, die ihr 2001 durch eine familiengerichtliche Entscheidung zugesprochen worden war. Der Umstand, dass sich die Tochter im Tatzeitpunkt bereits seit einiger Zeit in Aleppo aufhielt, hatte nicht dazu geführt, dass die Mutter das ihr ursprünglich zustehende Sorgerecht verloren hatte.
Es kann dahinstehen, ob inländische gerichtliche Sorgerechtsentscheidungen den Regelungen des Internationalen Privatrechts stets vorgehen3, so dass sich eine Überprüfung anhand der Regelungen des Internationalen Privatrechts erübrigt. Denn auch nach den Art. 3 ff. EGBGB bemaß sich im Tatzeitpunkt die Bewertung des Sorgerechtsverhältnisses nach dem deutschen Bürgerlichen Gesetzbuch.
Nach Art. 21 EGBGB – gemäß Art. 3 Nr. 2 EGBGB vorrangige Regelungen in völkerrechtlichen Vereinbarungen waren zur Tatzeit im Verhältnis zu Syrien nicht anwendbar – unterliegt das Rechtsverhältnis zwischen einem Kind und seinen Eltern dem Recht des Staates, in dem das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Dieser gewöhnliche Aufenthalt richtet sich danach, an welchem Ort oder in welchem Land der Minderjährige seinen Daseinsmittelpunkt hat4. Da mit dem Wechsel des gewöhnlichen Aufenthaltsortes auch ein Wandel des Sorgerechtsstatuts verbunden ist, sind an die Feststellung des gewöhnlichen Aufenthalts keine zu geringen Anforderungen zu stellen. Erforderlich ist stets ein Aufenthalt von einiger Dauer. Daneben ist zur Begründung eines neuen Aufenthaltsortes auch zu verlangen, dass bereits weitere Beziehungen insbesondere familiärer oder beruflicher Art bestehen, in denen der Schwerpunkt der Bindungen der betreffenden Person zu sehen ist. Der Wille, den Aufenthaltsort zum Mittelpunkt der Lebensverhältnisse zu machen, ist nicht erforderlich. Entscheidend ist vielmehr der „faktische“ Wohnsitz, der den Daseinsmittelpunkt darstellt5.
Bei Minderjährigen ist der gewöhnliche Aufenthalt nach diesen Kriterien selbständig auf ihre Person bezogen zu ermitteln; er leitet sich nicht vom gewöhnlichen Aufenthalt oder Wohnsitz des Sorgeberechtigten ab6. Da es auf den tatsächlichen Daseinsmittelpunkt des Minderjährigen ankommt, kann ein gewöhnlicher Aufenthalt auch gegen den Willen des Sorgeberechtigten7 oder des Minderjährigen begründet werden. Allerdings kommt dem Willen des Minderjährigen – dessen Verstandesreife vorausgesetzt – bei der Beurteilung, ob er sich in seine neue Umgebung bereits sozial eingegliedert hat, eine Indizfunktion zu8. Durch zeitweilige Abwesenheit, auch von längerer Dauer, wird der gewöhnliche Aufenthalt nicht unbedingt aufgehoben, sofern die Absicht besteht, an den früheren Aufenthaltsort zurückzukehren9.
Nach diesem Maßstab hatte im vorliegenden Fall der gewöhnliche Aufenthalt der Tochter bis zum Tatbeginn noch nicht gewechselt. Nach den Feststellungen hatte sich die sorgeberechtigte Mutter zu Beginn der Abreise aus Deutschland nur vage Gedanken über die Dauer des Aufenthalts in Syrien gemacht. Dieser sollte zwar länger, aber doch nur vorübergehend sein und nicht notwendigerweise bis zur Volljährigkeit der Tochter andauern. Dass es der Sorgeberechtigten darauf ankam, ihre Tochter von ihrem Freundeskreis als Teil des damaligen Lebensumfelds in Deutschland zu trennen, begründete nicht spiegelbildlich deren soziale Integration in Aleppo. Diese findet bei einer Fünfzehn- bis Sechzehnjährigen ihren Ausdruck nicht mehr vorrangig in ihren familiären Einbindungen, sondern maßgeblich auch in den Beziehungen zu Außenstehenden und manifestiert sich unter anderem in Schulbesuch, Ausbildung und Freundschaften10. Eine solche soziale Einbindung hatte bis zum Tatbeginn jedoch allenfalls in Bezug auf die familiären Verhältnisse stattgefunden, wobei die Minderjährige einen nicht unerheblichen Zeitraum nach ihrer Abreise noch von einem Ferienaufenthalt bzw. vorübergehendem Aufenthalt zum Zweck der Erlangung einer Namensänderung ausging. Ein Schulbesuch fand nicht statt.
Damit hatte sich im Tatzeitpunkt das Sorgerechtsstatut (noch) nicht im Sinne von Art. 21 EGBGB gewandelt. Die Frau des Vaters war aufgrund der gerichtlichen Entscheidung aus dem Jahr 2001, die auch nicht gemäß § 1696 Abs. 1 BGB abgeändert worden war, weiterhin allein sorgeberechtigt.
Auf die Tat ist deutsches Strafrecht anwendbar. Trotz des im Ausland gelegenen Handlungsortes handelt es sich um eine Inlandstat im Sinne von § 3 StGB, weil der zum Tatbestand gehörende Erfolg jedenfalls auch in Deutschland eingetreten ist.
Erfolgsort im Sinne von § 9 Abs. 1 StGB ist der Ort, an dem ein zum gesetzlichen Tatbestand gehörender Handlungserfolg eintritt. „Erfolg“ meint damit nicht jede Auswirkung der Tat, sondern nur solche Tatfolgen, die für die Verwirklichung des Tatbestandes erheblich sind11. Der Erfolgsort liegt mithin im Inland, wenn dort die tatbestandlich vorausgesetzte Wirkung eingetreten ist12. Tatwirkungen, die für die Tatbestandsverwirklichung nicht oder nicht mehr relevant sind, begründen keinen Tatort13. Beim Dauerdelikt genügt es, wenn der durch die fortdauernde Handlung bewirkte tatbestandlich vorausgesetzte Erfolg nur während eines Teils der Tatzeit im Inland eintritt14.
Nach diesen Maßstäben ist ein inländischer Erfolgsort begründet. Die Entziehung Minderjähriger nach § 235 Abs. 1 Nr. 1 StGB ist ein Erfolgsdelikt15. Die Tatbestandsmerkmale des Entziehens bzw. Vorenthaltens knüpfen an ein Handeln des Täters an, das – gegebenenfalls mit den tatbestandlich vorausgesetzten Mitteln der Gewalt, Drohung oder List – den Erfolg, nämlich die durch räumliche Trennung bedingte wesentliche Beeinträchtigung der Personensorge, bewirkt.
Dieser von § 235 Abs. 1 Nr. 1 StGB vorausgesetzte Erfolg ist vorliegend jedenfalls auch im Inland eingetreten. Zwar geschah die Trennung der Sorgeberechtigten von ihrer Tochter bereits in Syrien. Doch wurde der Inlandsbezug der Tat begründet, als sich die sorgeberechtigte Mutter zurück nach Deutschland begab, wo sie ihren Wohnsitz und auch die Tochter weiterhin ihren familienrechtlich gewöhnlichen Aufenthaltsort hatte. Denn zu diesem Zeitpunkt dauerte der rechtswidrig geschaffene Zustand noch an. Da die Geschädigte im Zeitpunkt ihrer Rückkehr weiterhin an der Ausübung ihres Sorgerechts gehindert war, trat diese Wirkung der Handlung des Vaters nunmehr im Inland ein. Hierbei handelte es sich nicht nur um eine mittelbare Tatwirkung, die für die Tatbestandsverwirklichung nicht mehr relevant war. Da § 235 Abs. 1 StGB ein Dauerdelikt darstellt16, setzte die Verwirklichung des Straftatbestandes sich zum Zeitpunkt der Rückkehr der Sorgeberechtigten in Deutschland fort.
Die Vorschrift des § 5 Nr. 6a StGB drängt nicht zu einer anderen Beurteilung. Hiernach gilt das deutsche Strafrecht in den Fällen der Entziehung eines Kindes nach § 235 Abs. 2 Nr. 2 StGB stets, wenn sich die Tat gegen eine Person richtet, die im Inland ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt hat. Hieraus lässt sich jedoch nicht der Schluss ziehen, der Gesetzgeber habe die Entziehung von Kindern oder Minderjährigen, bei denen die Tathandlung im Ausland vorgenommen wird, generell als Auslandstat einstufen und/oder den Anwendungsbereich von § 9 StGB einschränken wollen. Den Gesetzesmaterialen lässt sich hierzu lediglich entnehmen, dass der Gesetzgeber durch die Einführung des § 5 Nr. 6a StGB in den Fällen des § 235 Abs. 2 Nr. 2 StGB die Strafbarkeit auch bei Auslandstaten sichergestellt wissen wollte17. Selbst wenn man in Fällen, in denen – wie hier – die Tathandlung im Ausland vorgenommen wird, annimmt, dass unter bestimmten Voraussetzungen der fortdauernde Erfolg im Inland eintritt, verbleibt für § 5 Nr. 6a StGB ein eigenständiger Anwendungsbereich. Zu denken ist etwa an die Fälle, in denen die Kindesentziehung im Ausland geschieht und auch der Sorgeberechtigte während der gesamten Zeit bis zur Rückführung des Kindes nicht ins Inland zurückkehrt, aber auch an die einer Verletzung eines im Ausland zu erfüllenden Umgangsrechts.
Bundesgerichtshof, Urteil vom 22. Januar 2015 – 3 StR 410/14
- BGH, Urteil vom 21.04.1961 – 4 StR 20/61, BGHSt 16, 58, 61; SSW- StGB/Schluckebier, 2. Aufl., § 235 Rn. 6[↩]
- BT-Drs. 13/8587, S. 27; LK/Werle/Jeßberger aaO, § 5 Rn. 107 mwN; NK- StGB-Böse, 4. Aufl., Vorbemerkungen zu § 3 Rn. 63[↩]
- vgl. MünchKomm-BGB/Helms, 6. Aufl., Art. 21 EGBGB Rn.19; Schack, Internationales Zivilverfahrensrecht, 6. Aufl., Rn. 23, 1020[↩]
- BGH, Urteil vom 05.02.1975 – IV ZR 103/73, NJW 1975, 1068 [zu Art. 1 des Haager Übereinkommens über das auf Unterhaltsverpflichtungen gegenüber Kindern anzuwendende Recht]; Beschluss vom 29.10.1980 – IVb ZB 586/80, NJW 1981, 520 [zu Art. 13 Abs. 1 MSA]; Staudinger/Henrich (2014) Art. 21 EGBGB Rn. 16[↩]
- BGH, Urteil vom 05.02.1975 – IV ZR 103/73, NJW 1975, 1068; Beschluss vom 29.10.1980 – IVb ZB 586/80, NJW 1981, 520[↩]
- BGH, Beschluss vom 29.10.1980 – IVb ZB 586/80, NJW 1981, 520[↩]
- BGH, Beschluss vom 29.10.1980 – IVb ZB 586/80, NJW 1981, 520, 521; OLG Hamm, Urteil vom 29.04.1988 – 5 UF 57/88, NJW 1989, 672[↩]
- BeckOK Bamberger/Roth/Lorenz, BGB, Art. 5 EGBGB Rn. 14; MünchKomm-BGB/Sonnenberger, 5. Aufl., Einl. IPR Rn. 725; vgl. auch Staudinger/Bausback (2013) Art. 5 EGBGB Rn. 46[↩]
- vgl. BGH, Urteil vom 05.02.1975 – IV ZR 103/73, NJW 1975, 1068; BeckOK Bamberger/Roth/Lorenz aaO[↩]
- vgl. hierzu BGH, Beschluss vom 29.10.1980 – IVb ZB 586/80, NJW 1981, 520, 521; OLG Jena, Beschluss vom 19.11.2014 – 4 UF 543/13 15 mwN[↩]
- so schon zu § 3 Abs. 3 StGB aF: BGH, Urteil vom 09.10.1964 – 3 StR 34/64, BGHSt 20, 45, 51[↩]
- MünchKomm-StGB/Ambos aaO, § 9 Rn. 16[↩]
- BGH, Beschluss vom 27.06.2006 – 3 StR 403/05, NStZ-RR 2007, 48, 50; OLG Köln, Beschluss vom 18.11.2008 – 82 Ss 89/08, NStZ-RR 2009, 84; MünchKomm-StGB/Ambos aaO, § 9 Rn. 16[↩]
- vgl. LK/Werle/Jeßberger aaO, § 9 Rn. 55; Lackner/Kühl, StGB, 28. Aufl., § 9 Rn. 2; vgl. auch OLG München, Beschluss vom 04.12 2006 – OLGAusl 262/06, NJW 2007, 788, 789[↩]
- vgl. Geppert, Gedächtnisschrift für Hilde Kaufmann, 1986, S. 759, 779; MünchKomm-StGB/Wieck-Noodt aaO, § 235 Rn. 10, 101; iE auch SK- StGB/Wolters, 136. Lfg., § 235 Rn. 9[↩]
- BGH, Urteil vom 09.02.2006 – 5 StR 564/05, NStZ 2006, 447, 448 mwN; MünchKomm-StGB/Wieck-Noodt aaO; NK- StGB-Sonnen aaO, § 235 Rn. 34[↩]
- BT-Drs. 13/8587, S. 27[↩]