Auf die sofortige Beschwerde gegen die Ablehnung der Bestellung eines weiteren Verteidigers prüft das Beschwerdegericht, ob der Vorsitzende des Erstgerichts die Grenzen seines Beurteilungsspielraums zu den tatbestandlichen Voraussetzungen des § 144 Abs. 1 StPO eingehalten und sein Entscheidungsermessen fehlerfrei ausgeübt hat. Es kann die Beurteilung des Vorsitzenden, dass die Sicherung der zügigen Durchführung des Verfahrens die Beiordnung nicht erfordert, nur dann beanstanden, wenn sie sich nicht mehr im Rahmen des Vertretbaren hält.

Das Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde ist gemäß der – ihrem Wortlaut nach unmittelbar anwendbaren – Vorschrift des § 142 Abs. 7 Satz 1 StPO statthaft. Der Anwendung der in § 144 Abs. 2 Satz 2 StPO geregelten Verweisung bedarf es nicht. Sie gilt auch nach ihrer systematischen Stellung allein für die Entscheidung über die Aufhebung der Bestellung eines zusätzlichen Verteidigers nach § 144 Abs. 2 Satz 1 StPO1.
Die sofortige Beschwerde bleibt jedoch in der Sache erfolglos, wenn der zur Entscheidung berufene Vorsitzende des (hier:) mit der Sache befassten Oberlandesgerichtssenats (§ 142 Abs. 3 Nr. 3 StPO) bei seiner Entscheidung über den Antrag des Angeklagten auf Beiordnung eines zweiten Pflichtverteidigers die Grenzen des Beurteilungsspielraums nicht überschritten hat, der ihm zu den tatbestandlichen Voraussetzungen des § 144 Abs. 1 StPO zugestanden hat.
Nach der seit dem 13.12.2019 geltenden Vorschrift des § 144 Abs. 1 StPO können in Fällen der notwendigen Verteidigung einem Beschuldigten zu seinem Wahl- oder (ersten) Pflichtverteidiger „bis zu zwei weitere Pflichtverteidiger zusätzlich“ bestellt werden, „wenn dies zur Sicherung der zügigen Durchführung des Verfahrens, insbesondere wegen dessen Umfang oder Schwierigkeit, erforderlich ist“.
Nach ihrem Wortlaut hat die Vorschrift demnach zur zentralen Voraussetzung, dass die Sicherung der zügigen Durchführung des Verfahrens die Beiordnung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers erfordert. Eine solche – „vom Willen des Beschuldigten unabhängige„2 – Bestellung ist somit nicht schon dann geboten, wenn sie eine das weitere Verfahren sichernde Wirkung hat; vielmehr muss sie zum Zeitpunkt ihrer Anordnung zur Sicherung der zügigen Verfahrensdurchführung notwendig sein. Soweit der Gesetzeswortlaut „Umfang oder Schwierigkeit“ des Verfahrens anführt, benennt er lediglich exemplarisch („insbesondere“) einen der Hauptanwendungsfälle für diese zentrale Normvoraussetzung. Hierauf ist bei der Auslegung Bedacht zu nehmen. Auf den Umfang und die Schwierigkeit des Verfahrens kann es mithin nur ankommen, soweit diese Eigenschaften dazu führen, dass dessen zügige Durchführung ohne den (bzw. die beiden) weiteren Verteidiger gefährdet wäre3.
Unter dieser Prämisse kann für die Auslegung des § 144 Abs. 1 StPO im Übrigen auf die Rechtsprechung zurückgegriffen werden, die sich vor der Reform durch das Gesetz zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung vom 10.12.20194 zur Zulässigkeit der Beiordnung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers als Sicherungsverteidiger herausgebildet hatte. Danach ist eine solche Bestellung lediglich in eng begrenzten Ausnahmefällen in Betracht zu ziehen. Ein derartiger Fall ist nur anzunehmen, wenn hierfür – etwa wegen des besonderen Umfangs oder der besonderen Schwierigkeit der Sache – ein „unabweisbares Bedürfnis“ besteht, um eine sachgerechte Wahrnehmung der Rechte des Angeklagten und einen ordnungsgemäßen Verfahrensverlauf zu gewährleisten. So liegt es, wenn sich die Hauptverhandlung über einen längeren Zeitraum erstreckt und zu ihrer regulären Durchführung sichergestellt werden muss, dass auch bei dem vorübergehenden Ausfall eines Verteidigers weiterverhandelt werden kann, oder der Verfahrensstoff so außergewöhnlich umfangreich ist, dass er nur bei arbeitsteiligem Zusammenwirken zweier Verteidiger beherrscht werden kann5. Diese gerichtliche „Praxis“, an der in der Literatur Zweifel geäußert worden waren, hat der Gesetzgeber im Blick gehabt6, als er das Institut des zusätzlichen Pflichtverteidigers kodifiziert hat7.
Auf die sofortige Beschwerde gegen die Ablehnung der Bestellung eines weiteren Verteidigers prüft das Beschwerdegericht, ob der Vorsitzende des Erstgerichts die Grenzen seines Beurteilungsspielraums zu den tatbestandlichen Voraussetzungen des § 144 Abs. 1 StPO eingehalten und sein Entscheidungsermessen („können“) fehlerfrei ausgeübt hat.
Zwar gilt für das Rechtsmittel der (sofortigen) Beschwerde im Grundsatz, dass das Beschwerdegericht an die Stelle des Erstgerichts tritt und eine eigene Sachentscheidung trifft. Soweit seine Prüfungsbefugnis nicht auf die Gesetzwidrigkeit einer Anordnung beschränkt ist (§ 305a Abs. 1 Satz 2, § 453 Abs. 2 Satz 2 StPO, § 59 Abs. 2 Satz 2 JGG), nimmt das Beschwerdegericht – anders als das Revisionsgericht – eine eigene sachliche Beurteilung der gesetzlichen Anordnungsvoraussetzungen vor und übt selbst Ermessen aus8. Für die Prüfung der (Ablehnung der) Bestellung eines weiteren Verteidigers gilt jedoch Abweichendes:
Auf der Grundlage des – vor dem 13.12.2019 gültigen – alten Rechts war für die Beschwerde gegen die Entscheidung über die Beiordnung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers anerkannt, dass dem Vorsitzenden des Gerichts ein nicht voll überprüfbarer Beurteilungs- und Ermessensspielraum zusteht9. Es sind keine Gründe ersichtlich, die sofortige Beschwerde nach der reformierten Gesetzeslage anders zu behandeln10. Namentlich den Gesetzesmaterialien sind keine Anhaltspunkte dafür zu entnehmen, dass der Gesetzgeber von diesem allgemeinen Verständnis hat abweichen wollen11.
Ein sachlicher Grund für die – ausnahmsweise gebotene – Einschränkung der Prüfungsbefugnis ergibt sich vielmehr aus dem Sinn und Zweck des § 144 Abs. 1 StPO als maßgeblicher Ermächtigungsgrundlage12. Wie dargelegt, dient § 144 Abs. 1 StPO in erster Linie der zügigen Durchführung des Verfahrens. Die Vorbereitung und Leitung der Hauptverhandlung als Herzstück des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens obliegt im Grundsatz dem Vorsitzenden in eigener Zuständigkeit. Er hat sicherzustellen, dass der Anspruch des Angeklagten auf eine Verhandlung und ein Urteil innerhalb angemessener Frist (s. Art. 5 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2, Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK) gewahrt wird13. Dem trägt es Rechnung, dass er nach Anklageerhebung zur Entscheidung über die Beiordnung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers berufen ist (§ 142 Abs. 3 Nr. 3 StPO). Deshalb entspricht es dem gesetzlichen Kompetenzgefüge, wenn das Beschwerdegericht nicht seine Beurteilung, wie die Hauptverhandlung zu gestalten ist, damit sie dem Beschleunigungsgrundsatz genügt, an die Stelle derjenigen des Vorsitzenden setzt. Dessen Beurteilung, dass die Sicherung der zügigen Durchführung des Verfahrens die Beiordnung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers nicht erfordert, kann das Beschwerdegericht nur dann beanstanden, wenn sie sich nicht mehr im Rahmen des Vertretbaren hält; anderenfalls hat es sie hinzunehmen.
Bei Anwendung der aufgezeigten rechtlichen Vorgaben begegnen die in dem hier angefochtenen Beschluss – noch ausreichend – dargelegten Gründe, auf die der Oberlandesgerichtsvorsitzende die Ablehnung des Antrags auf die Bestellung des weiteren Verteidigers gestützt hat, keinen durchgreifenden Bedenken.
Wenngleich die Ausführungen nicht explizit auf die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 144 Abs. 1 StPO eingehen, ergibt sich aus ihnen hinreichend deutlich, dass der Vorsitzende schon ihr Vorliegen verneint und nicht erst sein Entscheidungsermessen dem Beiordnungsbegehren zuwider ausgeübt hat. Er hat weder in dem Umfang des Verfahrensstoffs noch in der voraussichtlichen Dauer der Hauptverhandlung einen Grund gesehen, der die Bestellung eines zweiten Verteidigers zum Zeitpunkt seiner Entscheidung erforderlich machte. Dabei hat er die Grenzen seines Beurteilungsspielraums nicht überschritten:
Der Angeklagte hat mit seinem Antrag zwar im Ausgangspunkt zutreffend darauf hingewiesen, dass sich der Verfahrensstoff als umfangreich darstellt. Die Akten der Generalsstaatsanwaltschaft umfassen sechs Bände Sachakten, sechs Beschuldigtenbände sowie 18 Sonderbände. Hinzu kommen eine Beiakte der Generalsstaatsanwaltschaft sowie als weitere Beiakten 102 Stehordner, die der Generalbundesanwalt in dem von ihm geführten Ermittlungsverfahren gegen mutmaßliche Mitglieder der terroristischen Vereinigung angelegt hat. Ohne dass dies zu beanstanden wäre, hat der Vorsitzende jedoch darauf abstellen dürfen, dass das Verfahren dem am 15.06.2018 bestellten Verteidiger „seit langem bekannt ist“ und „dieser schon umfangreich Akteneinsicht“ genommen hat. Ein „unabweisbares Bedürfnis“ für die Beiordnung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers hat er aus dem großen Aktenbestand nicht ableiten müssen. Anders läge es nur, wenn der Verfahrensstoff als so außergewöhnlich umfangreich zu beurteilen wäre, dass er überhaupt nur bei arbeitsteiligem Zusammenwirken zweier Verteidiger beherrscht werden könnte, und anderenfalls eine konkrete Gefahr für die zügige Durchführung des ordnungsgemäß betriebenen Verfahrens bestünde. Dass der Vorsitzende solches – entgegen dem Vorbringen im Antragsschriftsatz – nicht angenommen hat, ist unter den gegebenen Umständen jedenfalls vertretbar.
Anders als der Angeklagte mit seinem Antrag geltend gemacht hat, ist die rechtliche Beurteilung des angeklagten Sachverhalts nicht als außergewöhnlich schwierig zu beurteilen. Dafür, dass zu erwarten wäre, es stellten sich komplexe oder ungeklärte Rechtsfragen, besteht kein Anhalt. Deshalb ist es unschädlich, dass der angefochtene Beschluss hierauf nicht eingeht.
Die voraussichtliche Dauer der Hauptverhandlung gegen den Angeklagten und drei Mitangeklagte zwingt ebenso wenig zu der Bestellung eines zweiten Verteidigers. In Fällen einer außergewöhnlich langen Hauptverhandlung beruhte die Beiordnung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers als Sicherungsverteidiger nach bisheriger Rechtsprechung auf der Erfahrung, dass sich bei einer derartigen Dauer der Hauptverhandlung die Wahrscheinlichkeit erhöht, ein Verteidiger könnte durch Erkrankung für einen längeren Zeitraum als durch Unterbrechungen überbrückbar ausfallen14.
Vom Oberlandesgerichtsvorsitzenden ist geplant, dass sich die Hauptverhandlung auf vier Monate und drei Wochen erstreckt. Für diesen Zeitraum sind Termine bereits bestimmt. Dass insoweit tatsächlich die Gefahr existiert, der dem Angeklagten bestellte Verteidiger stehe nicht zur Verfügung, ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. In dem angefochtenen Beschluss ist beanstandungsfrei dargelegt, es sei derzeit nicht zu besorgen, dass eine Hauptverhandlung ohne einen zweiten Pflichtverteidiger „nicht mit der der gebotenen Terminsdichte durchgeführt werden könnte“.
Bundesgerichtshof, Beschluss vom 31. August 2020 – StB 23/20
- anders OLG Hamm, Beschluss vom 05.05.2020 – III‑4 Ws 94/20 3, das – auch mit Blick auf die Gesetzesmaterialien [s. BT-Drs.19/13829 S. 50] – hinsichtlich der Gesetzessystematik von einem gesetzgeberischen Redaktionsversehen ausgegangen ist und § 142 Abs. 7 Satz 1 StPO über die Verweisung gemäß § 144 Abs. 2 Satz 2 StPO angewendet hat; im Ergebnis ebenso BeckOK StPO/Krawczyk, 37. Ed., § 144 Rn. 11[↩]
- BT-Drs.19/13829 S. 49[↩]
- vgl. OLG Celle, Beschluss vom 11.05.2020 – 5 StS 1/20, StraFo 2020, 289 f.[↩]
- BGBl. I S. 2128[↩]
- vgl. etwa KG, Beschlüsse vom 06.07.2016 – 2 Ws 176/16, StraFo 2016, 414, 415; vom 06.08.2018 – 4 Ws 104/18 11; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 05.05.2009 – 2 Ws 160/09, StraFo 2009, 517; KK-Willnow, StPO, 8. Aufl., § 141 Rn. 9 mwN[↩]
- s. BT-Drs.19/13829 S. 49[↩]
- s. OLG Celle, Beschluss vom 11.05.2020 – 5 StS 1/20 15 [insoweit in StraFo 2020, 289 nicht abgedruckt][↩]
- s. BGH, Urteil vom 17.07.1997 – 1 StR 781/96, BGHSt 43, 153, 155; Beschluss vom 26.03.2009 – StB 20/08, BGHSt 53, 238, 243 f.; MünchKomm-StPO/Neuheuser, § 309 Rn. 12[↩]
- vgl. etwa KG, Beschluss vom 06.08.2018 – 4 Ws 104/18 13; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 18.09.2002 – 2 Ws 242/02, StV 2004, 62, 63; OLG Frankfurt, Beschluss vom 11.05.2007 – 3 Ws 470/07, NStZ-RR 2007, 244; OLG Hamm, Beschluss vom 26.10.2010 – 5 Ws 374/10, NStZ 2011, 235, 236; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 05.05.2009 – 2 Ws 160/09 6 [insoweit in StraFo 2009, 517 nicht abgedruckt]; ferner SSW-StPO/Beulke, 4. Aufl., § 141 Rn. 47; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl., § 140 Rn. 22, § 141 Rn. 9; KK-Willnow, StPO, 8. Aufl., § 141 Rn. 13[↩]
- im Ergebnis ebenso BeckOK StPO/Krawczyk, 37. Ed., § 142 Rn. 53; vgl. auch BGH, Beschluss vom 09.07.2020 – StB 21/20 4 f.[↩]
- vgl. insbesondere BT-Drs.19/13829 S. 43 f., 49 f.[↩]
- vgl. allgemein zu derartigen Ausnahmen MünchKomm-StPO/Neuheuser, § 309 Rn. 13 ff.[↩]
- vgl. etwa KK-Gmel, StPO, 8. Aufl., vor § 212 Rn. 4, § 213 Rn. 4a; KK-Schneider, StPO, 8. Aufl., § 238 Rn. 6, jew. mwN; ferner LR/Becker, StPO, 27. Aufl., § 238 Rn. 5[↩]
- s. OLG Celle, Beschluss vom 11.05.2020 – 5 StS 1/20 18 mwN [insoweit in StraFo 2020, 289 nicht abgedruckt][↩]