Wenn Gerichte über die Zulässigkeit eines im unionsrechtlich determinierten Rechtshilfeverkehr gestellten Auslieferungsersuchens befinden, haben sie Zweifelsfragen über die Anwendung und Auslegung von Unionsrecht dem Gerichtshof der Europäischen Union als gesetzlichem Richter vorzulegen.

Zwar ist nicht jeder Verstoß gegen die unionsrechtliche Vorlagepflicht ein Verstoß gegen die Gewährleistung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, aber der gesetzliche Richter ist entzogen, wenn ein Gericht bei einer unvollständigen Rechtsprechung des EuGH den ihm notwendig zukommenden Beurteilungsrahmen bei der Anwendung und Auslegung von Unionsrecht in unvertretbarer Weise überschreitet.
Der EuGH hat die Frage, welche Mindestanforderungen Art. 4 der Grundrechtecharta der Europäischen Union (GRCh) an Haftbedingungen konkret stellt und nach welchen Maßstäben Haftbedingungen unionsrechtlich zu bewerten sind, bislang nicht abschließend geklärt. Eine unvertretbare Überschreitung des fachgerichtlichen Beurteilungsrahmens liegt in einer solchen Konstellation jedenfalls vor, wenn das Gericht die mit Blick auf Art. 52 Abs. 3 GRCh einzubeziehende Rechtsprechung des EGMR lediglich selektiv auswertet, ihr weitere Gesichtspunkte hinzufügt und so das Unionsrecht eigenständig fortbildet.
Mit dieser Begründung hat jetzt das Bundesverfassungsgericht einer Verfassungsbeschwerde gegen die Beschlüsse des Hanseatischen Oberlandesgerichts Hamburg stattgegeben, mit denen dieses die Auslieferung des Beschwerdeführers nach Rumänien für zulässig erklärt hatte1, und die Sache an das Oberlandesgericht zurückverwiesen. Über die Frage, ob die Beschlüsse, wie durch den Beschwerdeführer gerügt, vor dem Hintergrund der Haftbedingungen in rumänischen Justizvollzugsanstalten einen Verstoß gegen die Garantie der Menschenwürde aus Artikel 1 Abs. 1 GG darstellen, war daher zum derzeitigen Verfahrensstand nicht zu entscheiden.
Der Ausgangssachverhalt
Gegen den Beschwerdeführer besteht ein Europäischer Haftbefehl, dem ein nationaler Haftbefehl eines Gerichts in Rumänien wegen des Verdachts der Begehung von Vermögens- und Urkundsdelikten in drei Fällen zugrunde liegt. Der Beschwerdeführer verbüßte wegen in Deutschland begangener Straftaten bis zum 24.09.2017 eine Freiheitsstrafe in Hamburg. Seither befindet er sich in Auslieferungshaft. Mit den angegriffenen Beschlüssen vom 03.01.2017 und 19.01.2017 erklärte das Oberlandesgericht die Auslieferung des Beschwerdeführers nach Rumänien für zulässig. Zur Begründung führte es insbesondere aus, nach der Rechtsprechung des EuGH sei klargestellt, dass die Mitgliedstaaten zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls verpflichtet seien. Eine Ausnahme hiervon sei nur unter außergewöhnlichen Umständen anzunehmen. Im Rahmen der vom EuGH geforderten zweistufigen Prüfung erkenne das Bundesverfassungsgericht zwar substantiierten Anhalt für das Vorliegen von systemischen Mängeln im rumänischen Strafvollzug. Die zweite Voraussetzung, eine „echte Gefahr“ unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung für den Beschwerdeführer, liege jedoch nicht vor. Insbesondere hätten die rumänischen Behörden zugesichert, dass dem Beschwerdeführer ein minimaler persönlicher Raum einschließlich der Möbel von 3 m² bei Vollstreckung in einem geschlossenen Regime und von 2 m² im halboffenen oder offenen Regime zur Verfügung stehen werde. Es sei mit Blick auf die Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege innerhalb der Europäischen Union zu bedenken, dass die in Rumänien begangenen Straftaten ungesühnt blieben, wenn die Bundesrepublik Deutschland die Auslieferung ablehne. Auch drohe die Schaffung eines „safe haven“ in Deutschland. Trotz der Verurteilungen Rumäniens durch den EGMR wegen Verstoßes gegen Art. 3 EMRK halte das Bundesverfassungsgericht eine Gesamtbetrachtung der Haftsituation in Rumänien für angezeigt, bei der allerdings der Haftraumgröße wesentliche indizielle Bedeutung zukomme. Seit 2014 hätten sich die Haftbedingungen in Rumänien durchgreifend verbessert, auch wenn die Überbelegungsquote immer noch bedenklich hoch sei und die von den rumänischen Behörden zugesicherte individuelle Haftraumgröße bei alleiniger Betrachtung der Quadratmeterzahl bei einer Vollstreckung jedenfalls in einem der offenen Vollzugsregime hinter den Maßgaben des EGMR zurückzubleiben scheine. Es sei allerdings auch zu berücksichtigen, dass die zum Teil insuffizienten Platzverhältnisse in der Zelle durch sehr weitgehende Aufschlusszeiten erheblich abgemildert würden. Überdies seien die baulichen Voraussetzungen für Freigänge geschaffen worden; ferner seien – neben der Verbesserung der baulichen Anlagen im Hinblick auf Heizung, sanitäre Anlagen und Hygiene – die Möglichkeiten für Hafturlaube, den Empfang von Besuch, das Waschen privater Wäsche und den Einkauf persönlicher Dinge verbessert worden.
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Insbesondere genügt sie – auch unter den erhöhten Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Identitätskontrolle – den aus § 23 Abs. 1 Satz 2 1. Halbsatz und § 92 BVerfGG folgenden Begründungsanforderungen. Danach muss im Einzelnen substantiiert dargelegt werden, inwieweit im konkreten Fall die durch Art. 1 Abs. 1 GG geschützte Garantie der Menschenwürde verletzt ist2. Der Beschwerdeführer setzt sich unter Bezugnahme auf Entscheidungen des EGMR und des EuGH eingehend mit der bisherigen verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zur Haftraumgröße auseinander und legt dar, dass und warum eine Verletzung der Menschenwürdegarantie durch die im Zielstaat konkret in Aussicht stehenden Haftbedingungen möglich erscheint.
Die Verfassungsbeschwerde ist begründet.
Die angegriffenen Entscheidungen verletzen das grundrechtsgleiche Recht des Beschwerdeführers auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG). Der Beschwerdeführer hat einen solchen Verfassungsverstoß zwar nicht ausdrücklich gerügt, dies hindert das Bundesverfassungsgericht jedoch nicht, im Rahmen einer zulässigen Verfassungsbeschwerde seine Prüfung hierauf zu erstrecken3.
Vorlagepflicht an den EuGH
Bei Zweifelsfragen über die Anwendung und Auslegung von Unionsrecht haben die Fachgerichte diese zunächst dem EuGH vorzulegen. Dieser ist gesetzlicher Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG4. Unter den Voraussetzungen des Art. 267 Abs. 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) sind die nationalen Gerichte von Amts wegen gehalten, den Gerichtshof anzurufen5. Kommt ein deutsches Gericht seiner Pflicht zur Anrufung im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens nicht nach oder stellt es ein Vorabentscheidungsersuchen, obwohl eine Zuständigkeit des EuGH nicht gegeben ist6, kann dem Rechtsschutzsuchenden des Ausgangsrechtsstreits der gesetzliche Richter entzogen sein7.
Nach der Rechtsprechung des EuGH8 muss ein nationales letztinstanzliches Gericht seiner Vorlagepflicht nachkommen, wenn sich in einem bei ihm schwebenden Verfahren eine Frage des Unionsrechts stellt, es sei denn, das Gericht hat festgestellt, dass diese Frage nicht entscheidungserheblich ist, dass die betreffende unionsrechtliche Bestimmung bereits Gegenstand einer Auslegung durch den EuGH war oder dass die richtige Anwendung des Unionsrechts derart offenkundig ist, dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt9.
Das Bundesverfassungsgericht beanstandet die Auslegung und Anwendung von Normen, die die gerichtliche Zuständigkeitsverteilung regeln, jedoch nur, wenn sie bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz bestimmenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheinen und offensichtlich unhaltbar sind10. Durch die grundrechtsähnliche Gewährleistung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG wird das Bundesverfassungsgericht nicht zu einem Kontrollorgan, das jeden einem Gericht unterlaufenen, die Zuständigkeit des Gerichts berührenden Verfahrensfehler korrigieren müsste. Vielmehr ist das Bundesverfassungsgericht gehalten, seinerseits die Kompetenzregeln zu beachten, die den Fachgerichten die Kontrolle über die Befolgung der Zuständigkeitsordnung übertragen11.
Diese Grundsätze gelten auch für die unionsrechtliche Zuständigkeitsvorschrift des Art. 267 Abs. 3 AEUV. Daher stellt nicht jede Verletzung der unionsrechtlichen Vorlagepflicht zugleich einen Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG dar12. Das Bundesverfassungsgericht überprüft nur, ob die Auslegung und Anwendung der Zuständigkeitsregel des Art. 267 Abs. 3 AEUV bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz bestimmenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist13. Durch die zurückgenommene verfassungsrechtliche Prüfung behalten die Fachgerichte bei der Auslegung und Anwendung von Unionsrecht einen Spielraum eigener Einschätzung und Beurteilung, der demjenigen bei der Handhabung einfachrechtlicher Bestimmungen der deutschen Rechtsordnung entspricht. Das Bundesverfassungsgericht wacht allein über die Einhaltung der Grenzen dieses Spielraums14. Ein „oberstes Vorlagenkontrollgericht“ ist es nicht15.
Die Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV wird in den Fällen offensichtlich unhaltbar gehandhabt, in denen ein letztinstanzliches Hauptsachegericht eine Vorlage trotz der – seiner Auffassung nach bestehenden – Entscheidungserheblichkeit der unionsrechtlichen Frage überhaupt nicht in Erwägung zieht, obwohl es selbst Zweifel hinsichtlich der richtigen Beantwortung der Frage hegt und das Unionsrecht somit eigenständig fortbildet16. Dies gilt erst recht, wenn sich das Gericht hinsichtlich des (materiellen) Unionsrechts nicht hinreichend kundig macht. Es verkennt dann regelmäßig die Bedingungen für die Vorlagepflicht17. Dies gilt auch, wenn es offenkundig einschlägige Rechtsprechung des EuGH nicht auswertet. Um eine Kontrolle am Maßstab des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG zu ermöglichen, hat es die Gründe für seine Entscheidung über die Vorlagepflicht anzugeben18.
Gleiches gilt in den Fällen, in denen das letztinstanzliche Hauptsachegericht in seiner Entscheidung bewusst von der Rechtsprechung des EuGH zu entscheidungserheblichen Fragen abweicht und gleichwohl nicht oder nicht neuerlich vorlegt19.
Liegt zu einer entscheidungserheblichen Frage des Unionsrechts einschlägige Rechtsprechung des EuGH hingegen noch nicht vor, hat die bestehende Rechtsprechung die entscheidungserhebliche Frage möglicherweise noch nicht erschöpfend beantwortet oder erscheint eine Fortentwicklung der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht nur als entfernte Möglichkeit20, wird Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt, wenn das letztinstanzliche Hauptsachegericht den ihm in solchen Fällen notwendig zukommenden Beurteilungsrahmen in unvertretbarer Weise überschreitet21. Das ist jedenfalls dann der Fall, wenn die Fachgerichte das Vorliegen eines „acte clair“ oder eines „acte éclairé“ willkürlich bejahen. Das Gericht muss sich daher hinsichtlich des materiellen Unionsrechts hinreichend kundig machen. Etwaige einschlägige Rechtsprechung des EuGH muss es auswerten und seine Entscheidung hieran orientieren22. Auf dieser Grundlage muss das Fachgericht unter Anwendung und Auslegung des materiellen Unionsrechts23 die vertretbare Überzeugung bilden, dass die Rechtslage entweder von vornherein eindeutig („acte clair“) oder durch Rechtsprechung in einer Weise geklärt ist, die keinen vernünftigen Zweifel offenlässt („acte éclairé“)24. Unvertretbar gehandhabt wird Art. 267 Abs. 3 AEUV im Falle der Unvollständigkeit der Rechtsprechung insbesondere dann, wenn das Fachgericht eine von vornherein eindeutige oder zweifelsfrei geklärte Rechtslage ohne sachliche Begründung bejaht25.
Vorlagepflicht im konkreten Fall
Die Voraussetzungen einer Vorlage an den EuGH lagen vor. Das Oberlandesgericht hat angesichts einer unvollständigen Rechtsprechung des EuGH mit der Nichtvorlage seinen Beurteilungsrahmen in unvertretbarer Weise überschritten und damit das grundrechtsgleiche Recht auf den gesetzlichen Richter verletzt.
Die Voraussetzungen eines Vorabentscheidungsverfahrens vor dem EuGH lagen vor.
Gemäß Art. 51 GRCh sind die Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Unionsrechts an die in der Charta niedergelegten Grundrechte gebunden. Fragen zu deren Inhalt und Reichweite können beziehungsweise müssen dem Gerichtshof der Europäischen Union vorgelegt werden26. Dies ist in dem unionsrechtlich determinierten Verfahren der Auslieferung im Anwendungsbereich des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl der Fall27.
Das Oberlandesgericht ist auch ein zur Vorlage verpflichtetes Gericht im Sinne von Art. 267 Abs. 3 AEUV, weil seine Entscheidungen im Auslieferungsverfahren nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können.
Der Schutzumfang der Unionsgrundrechte, insbesondere von Art. 4 GRCh, im unionsrechtlich determinierten Verfahren einer Auslieferung auf Grundlage eines Europäischen Haftbefehls und die Frage nach den unionsgrundrechtlich gebotenen Ausnahmen von der im Rahmenbeschluss angelegten Verpflichtung zur Befolgung eines Auslieferungsgesuchs sind angesichts defizitärer Haftbedingungen im Zielstaat auch entscheidungserheblich. Zu klären ist insbesondere, inwieweit Art. 4 GRCh unter Rückgriff auf die Rechtsprechung des EGMR auszulegen ist (vgl. Art. 52 Abs. 3 GRCh) und ob – wie durch das Oberlandesgericht ersichtlich angenommen – die Prüfung der Vereinbarkeit der Haftbedingungen mit Unionsgrundrechten eine Gesamtbetrachtung erfordert, in die alle vom Oberlandesgericht herangezogenen Gesichtspunkte einzubeziehen sind.
Angesichts der Unvollständigkeit der Rechtsprechung des EuGH sind auch keine Ausnahmen von der unionsrechtlichen Vorlagepflicht des Oberlandesgerichts ersichtlich, etwa weil die entscheidungserhebliche Frage bereits Gegenstand einer Auslegung durch den EuGH war oder die richtige Anwendung des Unionsrechts derart offenkundig ist, dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt28. Eine solche Ausnahme hat das Oberlandesgericht, das hierzu keine Ausführungen gemacht hat, auch nicht ausdrücklich, sondern allenfalls implizit bei seiner Entscheidung in der Sache vorausgesetzt. Die Gründe, aus denen das Gericht eine Ausnahme von der Vorlagepflicht anzunehmen scheint, sind daher nicht überprüfbar. Daraus folgt jedoch nicht, dass sie sich einer verfassungsrechtlichen Prüfung entzögen oder dass die Maßstäbe der Prüfung zu lockern wären. Vielmehr ist in einem solchen Fall eine Ausnahme von der Vorlagepflicht nicht anzunehmen, wenn Zweifel an dem Vorliegen von Ausnahmegründen bestehen29. Derartige Zweifel liegen angesichts der bisher weitgehend ungeklärten Maßstäbe von Art. 4 GRCh vor.
Die Rechtsprechung des EuGH zu der entscheidungserheblichen Frage ist nicht vollständig. Zwar hat der EuGH in seinem Urteil vom 05.04.2016 festgestellt, dass die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls nicht zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung der betroffenen Person im Zielstaat führen dürfe und dass eine Verpflichtung der vollstreckenden Justizbehörden bestehe, bei Vorliegen von Anhaltspunkten für systemische Mängel im Strafvollzug des Zielstaats zu prüfen, ob es unter den konkreten Umständen ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gebe, die betroffene Person werde im Anschluss an ihre Übergabe der echten Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung in diesem Mitgliedstaat ausgesetzt sein30. Könne das Vorliegen einer solchen Gefahr nach Anforderung zusätzlicher Informationen vom Zielstaat und Anordnung eines Aufschubs der Auslieferung nicht innerhalb einer angemessenen Frist ausgeschlossen werden, müsse die vollstreckende Justizbehörde darüber entscheiden, ob das Übergabeverfahren zu beenden sei31.
Der Gerichtshof hat jedoch die hier entscheidungserhebliche Frage, welche Mindestanforderungen an Haftbedingungen aus Art. 4 GRCh konkret abzuleiten sind und nach welchen Maßstäben Haftbedingungen unionsgrundrechtlich zu bewerten sind, bisher nicht abschließend geklärt. Zwar ist mit Blick auf Art. 52 Abs. 3 GRCh und dessen Zweck, ein Auseinanderlaufen der Gewährleistungen der Grundrechtecharta und der Europäischen Menschenrechtskonvention zu verhindern, davon auszugehen, dass die Rechtsprechung des EGMR zu Art. 3 EMRK bei der Bestimmung des Gewährleistungsgehalts von Art. 4 GRCh zu berücksichtigen ist. Der EuGH hat aber eine vollständige Übertragung dieser Rechtsprechung weder in seinem Urteil in den Sachen Aranyosi und Ca?lda?raru noch in vorangegangenen Entscheidungen explizit vorgenommen32. Auch nach dem Urteil des Gerichtshofs in den Sachen Aranyosi und Ca?lda?raru bleibt dessen Rechtsprechung hinsichtlich der Frage, welche Anforderungen Art. 4 GRCh an die Haftbedingungen im Zielstaat einer Auslieferung stellt, demnach unvollständig.
Das Oberlandesgericht hat den ihm zukommenden Beurteilungsrahmen im Hinblick auf seine Vorlagepflicht in unvertretbarer Weise überschritten und dadurch den Beschwerdeführer in seinem Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) verletzt. Es fehlt eine sachliche Begründung dafür, warum im Hinblick auf den Gewährleistungsgehalt von Art. 4 GRCh in Bezug auf konkrete Haftbedingungen eine von vornherein eindeutige oder zweifelsfrei geklärte Rechtslage vorliegt. Das Oberlandesgericht stellt grundrechtliche, unions-rechtliche und konventionsrechtliche Prüfungsmaßstäbe nebeneinander, ohne einen Zusammenhang mit den spezifischen Anforderungen von Art. 4 GRCh herzustellen. Ob und warum die sich aus Art. 4 GRCh ergebenden Mindestanforderungen an Haftbedingungen durch den EuGH abschließend geklärt oder so eindeutig sind, dass es einer Klärung durch den EuGH nicht bedarf, bleibt offen. Das Oberlandesgericht geht insbesondere nicht, jedenfalls nicht explizit, davon aus, dass die Reichweite von Art. 4 GRCh wegen Art. 52 Abs. 3 GRCh durch die Rechtsprechung des EGMR zu Art. 3 EMRK abschließend geklärt sei.
Das Oberlandesgericht hat sich zwar an die vom EuGH vorgegebene Struktur einer zweistufigen Prüfung gehalten. Es hat auf der ersten Stufe geprüft, ob systemische Mängel im Strafvollzug des Zielstaats vorliegen und solche Mängel im rumänischen Strafvollzug bejaht. Hinsichtlich der auf der zweiten Stufe zu prüfenden echten Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung des Beschwerdeführers im Sinne von Art. 4 GRCh hat es auch erkannt, dass die von Rumänien im Fall des Beschwerdeführers abgegebenen Zusicherungen hinter den räumlichen Anforderungen, die der EGMR an einen gemäß Art. 3 EMRK menschenrechtskonformen Strafvollzug stellt, zurückbleiben. Es hat eine unionsrechtlich relevante Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung durch die mangelhaften Haftbedingungen dennoch verneint, weil es die Rechtsprechung des EGMR zwar zugrunde gelegt, ihr aber im Rahmen einer Gesamtbetrachtung weitere Gesichtspunkte hinzugefügt hat, die seiner Ansicht nach geeignet sind, die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung des Beschwerdeführers zu widerlegen. Insoweit ist die Rechtsprechung des EGMR aber nicht eindeutig.
Nach der Rechtsprechung des EGMR, insbesondere nach der Entscheidung vom 20.10.201633, folgt aus einer Unterschreitung des persönlichen Raums von 3 m² pro Gefangenem in einem Gemeinschaftshaftraum die starke Vermutung einer Verletzung von Art. 3 EMRK. Diese kann normalerweise nur widerlegt werden, wenn es sich lediglich um eine kurze, gelegentliche und unerhebliche Reduzierung des persönlichen Raums handelt, ausreichende Bewegungsfreiheit und Aktivitäten außerhalb des Haftraums gewährleistet sind und die Strafe in einer geeigneten Haftanstalt vollzogen wird, wobei es keine die Haft erschwerenden Bedingungen geben darf34. Es deutet vieles darauf hin, dass die drei genannten Faktoren kumulativ vorliegen müssen, um das Unterschreiten eines persönlichen Raums von 3 m² aufzuwiegen35, zumal tendenziell ein noch strikterer Maßstab galt, bevor die Große Kammer die Rechtsprechung des EGMR in der Murši?, Entscheidung zusammengeführt hat. So hat der EGMR zuvor etwa eine Verletzung des Art. 3 EMRK angenommen, wenn auf einen Gefangenen ein persönlicher Raum von weniger als 3 m² Bodenfläche entfiel36. Von der Möglichkeit einer Entkräftung durch weitere Faktoren ist er in seiner älteren Rechtsprechung regelmäßig ebenso wenig ausgegangen wie davon, dass bei einem persönlichen Raum von lediglich 2 m² pro Gefangenem noch eine „Gesamtbetrachtung“ der Haftbedingungen vorgenommen werden könne.
Das Oberlandesgericht problematisiert in den angegriffenen Beschlüssen schon nicht, ob die durch Rumänien zugesicherten 2 m² persönlicher Raum, die im offenen und halboffenen Regime in einem mehrfachbelegten Haftraum auf den Beschwerdeführer entfallen würden, angesichts der deutlichen Unterschreitung von 3 m² noch eine unerhebliche (sowie kurze und gelegentliche) Reduzierung des persönlichen Raums darstellen würde. Dies wäre aber erforderlich gewesen, weil nach der neueren Rechtsprechung des EGMR nur eine solche unerhebliche Reduzierung sicher durch die oben genannten Faktoren hätte aufgewogen werden können37.
Darüber hinaus zieht das Oberlandesgericht im Rahmen einer Gesamtbetrachtung mit dem Verweis auf verbesserte Heizungsanlagen, sanitäre Anlagen und Hygienebedingungen Umstände heran, die vom Gerichtshof zwar als kompensatorische Faktoren angesehen werden, von denen aber unklar ist, inwieweit sie nach seiner neueren Rechtsprechung die starke Vermutung eines Konventionsverstoßes durch räumliche Beengtheit entkräften können35. Liegen diesbezüglich Mängel vor, so kann das selbst dann zur Annahme einer Verletzung von Art. 3 EMRK führen, wenn einem Gefangenen etwas mehr als 3 m² persönlicher Raum zustehen38.
Mit den verbesserten Möglichkeiten für Hafturlaube, den Empfang von Besuch, das Waschen privater Wäsche und den Einkauf persönlicher Dinge stellt das Oberlandesgericht zudem auf Umstände ab, die in der Rechtsprechung des EGMR für das Entkräften einer indizierten Verletzung des Art. 3 EMRK aufgrund zu beengter räumlicher Verhältnisse bisher nicht explizit herangezogen worden sind.
Über die Rechtsprechung des EGMR hinaus führt das Oberlandesgericht in den angegriffenen Entscheidungen schließlich Gesichtspunkte wie die Aufrechterhaltung des zwischenstaatlichen Rechtshilfeverkehrs, die Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege innerhalb der Europäischen Union sowie die Grundsätze der gegenseitigen Anerkennung und des gegenseitigen Vertrauens, die potentielle Straflosigkeit mutmaßlicher Straftäter bei Nichtauslieferung und die Schaffung eines „safe haven“ als entscheidungserhebliche Belange in die Prüfung ein, ob dem Beschwerdeführer eine echte Gefahr droht, in Rumänien unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung gemäß Art. 4 GRCh beziehungsweise Art. 3 EMRK ausgesetzt zu sein. Einige dieser Gesichtspunkte sind in der Rechtsprechung des EuGH zwar im Rahmen der Auslegung der mitgliedstaatlichen Pflichten, die aus dem Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl folgen, herangezogen worden. Die Frage, ob sie für die Bestimmung des Gewährleistungsumfangs von Art. 4 GRCh beziehungsweise Art. 3 EMRK angesichts deren absoluten Charakters39 überhaupt eine Rolle spielen können, ist bisher aber weder in der Rechtsprechung des EuGH noch des EGMR beantwortet worden.
Ob die angegriffenen Entscheidungen auch die Menschenwürdegarantie gemäß Art. 1 Abs. 1 GG verletzen, kann angesichts des festgestellten Verstoßes gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG derzeit dahinstehen.
Gemäß § 95 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG ist festzustellen, dass der Beschwerdeführer durch die Beschlüsse des Oberlandesgerichts vom 03.01.2017 – Ausl 81/16; und vom 19.01.2017 – Ausl 81/16 – in seinem Grundrecht aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt worden ist. Die Beschlüsse sind daher gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben; die Sache ist an das Oberlandesgericht zurückzuverweisen.
Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 19. Dezember 2017 – 2 BvR 424/17
- OLG Hamburg, Beschlüsse vom 03.01.2017 und 19.01.2017 – Ausl 81/16[↩]
- vgl. BVerfGE 140, 317, 341 f. Rn. 50[↩]
- vgl. BVerfGE 6, 376, 385; 17, 252, 258; 54, 117, 124; 58, 163, 167; 71, 202, 204[↩]
- vgl. BVerfGE 73, 339, 366 f.; 82, 159, 192; 126, 286, 315; 128, 157, 186 f.; 129, 78, 105; 135, 155, 230 Rn. 177; stRspr[↩]
- vgl. BVerfGE 82, 159, 192 f.; 128, 157, 187; 129, 78, 105; 135, 155, 230 f. Rn. 177; stRspr[↩]
- vgl. BVerfGE 133, 277, 316 Rn. 91[↩]
- vgl. BVerfGE 73, 339, 366 ff.; 126, 286, 315; 135, 155, 231 Rn. 177[↩]
- EuGH, Urteil vom 06.10.1982, C.I.L.F.I.T., – C-283/81, Slg. 1982, S. 3415 ff. Rn. 21[↩]
- vgl. BVerfGE 82, 159, 193; 128, 157, 187; 129, 78, 105 f.; 135, 155, 231 Rn. 178; 140, 317, 376 Rn. 125[↩]
- vgl. BVerfGE 29, 198, 207; 82, 159, 194; 126, 286, 315; 135, 155, 231 Rn. 179[↩]
- vgl. BVerfGE 82, 159, 194; 135, 155, 231 Rn. 179[↩]
- vgl. BVerfGE 29, 198, 207; 82, 159, 194; 126, 286, 315; 135, 155, 231 f. Rn. 180[↩]
- vgl. BVerfGE 126, 286, 315; 128, 157, 187; 129, 78, 106; 135, 155, 232 Rn. 180[↩]
- vgl. BVerfGE 126, 286, 316 m.w.N.[↩]
- vgl. BVerfGE 126, 286, 316; 135, 155, 232 Rn. 180[↩]
- grundsätzliche Verkennung der Vorlagepflicht; vgl. BVerfGE 82, 159, 195; 126, 286, 316; 128, 157, 187; 129, 78, 106; 135, 155, 232 Rn. 181[↩]
- vgl. BVerfGK 8, 401, 405; 11, 189, 199; 13, 303, 308; 17, 108, 112; Beschluss vom 06.10.2017 – 2 BvR 987/16 7[↩]
- BVerfG, Beschlüsse vom 10.12 2014 – 2 BvR 1549/07 21; und vom 19.07.2016 – 2 BvR 470/08 56; Beschluss vom 06.10.2017 – 2 BvR 987/16 7[↩]
- bewusstes Abweichen ohne Vorlagebereitschaft; vgl. BVerfGE 82, 159, 195; 126, 286, 316 f.; 128, 157, 187 f.; 129, 78, 106; 135, 155, 232 Rn. 182[↩]
- Unvollständigkeit der Rechtsprechung[↩]
- vgl. BVerfGE 82, 159, 195 f.; 126, 286, 317; 128, 157, 188; 129, 78, 106 f.; 135, 155, 232 f. Rn. 183[↩]
- vgl. BVerfGE 82, 159, 196; 128, 157, 189; 135, 155, 233 Rn. 184[↩]
- vgl. BVerfGE 135, 155, 233 Rn. 184[↩]
- vgl. BVerfGE 129, 78, 107; 135, 155, 233 Rn. 184[↩]
- vgl. BVerfGE 82, 159, 196; 135, 155, 233 Rn. 185[↩]
- vgl. Karpenstein, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Art. 267 AEUV Rn. 22, Mai 2013[↩]
- vgl. BVerfGE 140, 317, 343 Rn. 52[↩]
- vgl. EuGH, Urteil vom 06.10.1982, C.I.L.F.I.T., – C-283/81, Slg. 1982, S. 3415 ff. Rn. 21[↩]
- vgl. BVerfGE 50, 115, 124; 55, 205, 206[↩]
- EuGH, Urteil vom 05.04.2016, Aranyosi und Ca?lda?raru, – C-404/15 und – C-659/15 PPU, EU:C:2016:198, Rn. 88 ff.[↩]
- EuGH, Urteil vom 05.04.2016, Aranyosi und Ca?lda?raru, – C-404/15 und – C-659/15 PPU, EU:C:2016:198, Rn. 103 f.[↩]
- vgl. Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV-Kommentar, 5. Aufl.2016, Art. 52 GRCh Rn. 32 f.; Becker, in: Schwarze/Becker/Hatje/Schoo, EU-Kommentar, 3. Aufl.2012, Art. 52 GRCh Rn. 16[↩]
- Murši? v. Kroatien, Nr. 7334/13[↩]
- vgl. EGMR, Murši? v. Kroatien, Urteil vom 20.10.2016, Nr. 7334/13, §§ 124, 132 – 138[↩]
- vgl. EGMR, Murši? v. Kroatien, Urteil vom 20.10.2016, Nr. 7334/13, § 138[↩][↩]
- vgl. EGMR, Ananyev u.a. v. Russland, Urteil vom 10.01.2012, Nr. 42525/07 und 60800/08 [Piloturteil], §§ 145, 148[↩]
- vgl. dazu EGMR, Murši? v. Kroatien, Urteil vom 20.10.2016, Nr. 7334/13, §§ 130 ff. mit einer Zusammenfassung der bisherigen Rechtsprechung[↩]
- vgl. EGMR, Murši? v. Kroatien, Urteil vom 20.10.2016, Nr. 7334/13, § 139[↩]
- vgl. EuGH, Urteil vom 05.04.2016, Aranyosi und Ca?lda?raru, – C-404/15 und – C-659/15 PPU, EU:C:2016:198, Rn. 85 f., mit Verweis auf Art. 15 Abs. 2 EMRK[↩]