Die sitzungspolizeiliche Verfügung eines Senatsvorsitzenden – und die Verfassungsbeschwerde

Vor dem Bundesverfassungsgericht blieb jetzt eine Verfassungsbeschwerde gegen die sitzungspolizeiliche Verfügung eines Bundesverfassungsgerichtsvorsitzenden wegen Verstoßes gegen das Subsidiaritätsprinzip ohne Erfolg, das Bundesverfassungsgericht nahm die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung an:

Die sitzungspolizeiliche Verfügung eines Senatsvorsitzenden – und die Verfassungsbeschwerde

Die Verfassungsbeschwerde richtet sich unmittelbar gegen folgende Anordnung des Bundesverfassungsgerichtsvorsitzenden in einem vor dem Oberlandesgericht Frankfurt am Main geführten Staatsschutzverfahren1:

Zuschauern ist das Mitschreiben in der Verhandlung grundsätzlich nicht gestattet. Sofern in Ausnahmefällen ein nachgewiesenes wissenschaftliches Interesse an der Mitschrift besteht, kann ein begründeter Antrag an das Bundesverfassungsgericht gestellt werden. Eine Mitschrift ist dann im Fall positiver Bescheidung zulässig.

Medienvertretern hingegen ist gestattet, sich mit internetfähigen Geräten im Offline-Modus Notizen zu machen.

Die Anordnung stützte das Bundesverfassungsgerichtsvorsitzende auf § 176 Abs. 1 GVG. Eine Begründung für die mit der Verfassungsbeschwerde angegriffene Regelung enthält die sitzungspolizeiliche Verfügung nicht.

Der Beschwerdeführer macht geltend, diese Regelung verletze ihn in seiner durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützten allgemeinen Handlungsfreiheit. Außerdem gebe es keinen Grund dafür, Medienvertreter und Personen, die ein wissenschaftliches Interesse daran geltend machen könnten, in der Verhandlung mitzuschreiben, ihm gegenüber zu privilegieren, weshalb auch ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG vorliege. Er führt aus, er besuche „nur ab und zu in [seiner] Freizeit Gerichtsprozesse und möchte auch an diesem [Prozess] teilnehmen und [sich] bei spannenden Sachen Notizen machen, […] den Eindruck des Gerichtsaales schriftlich festhalten und mitschreiben, wie so ein großer Gerichtsprozess [ablaufe]“. Seine Aufzeichnungen wolle er weder an andere Personen weitergeben noch sonst veröffentlichen.

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Es ist dem Beschwerdevortrag nicht zu entnehmen, ob der Beschwerdeführer vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht beantragt hat, ihm das Mitschreiben während der Verhandlung zu gestatten.

Die Verfassungsbeschwerde wurde nicht zur Entscheidung angenommen, denn die Annahmevoraussetzungen des § 93a Abs. 2 BVerfGG sind nicht erfüllt. Grundsätzliche Bedeutung kommt der Verfassungsbeschwerde nicht zu. Ihre Annahme ist auch nicht zur Durchsetzung der Rechte des Beschwerdeführers angezeigt, da sie unzulässig ist. Der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde steht der Subsidiaritätsgrundsatz entgegen.

Der aus § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG abgeleitete Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde fordert, dass ein Beschwerdeführer über das Gebot der Erschöpfung des Rechtswegs im engeren Sinne hinaus alle ihm zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten ergreift, um eine Korrektur der geltend gemachten Verfassungsverletzung zu erwirken oder eine Grundrechtsverletzung zu verhindern2. Die mit dem Grundsatz der Subsidiarität bezweckte vorrangige Anrufung der Fachgerichte soll eine umfassende Vorprüfung des Beschwerdevorbringens gewährleisten3. Dem Bundesverfassungsgericht soll vor seiner Entscheidung unter anderem ein – gegebenenfalls sogar in mehreren Instanzen – geprüftes Tatsachenmaterial unterbreitet und die Fallanschauung und Rechtsauffassung der Gerichte vermittelt werden4.

Der Grundsatz der materiellen Subsidiarität verpflichtet einen Beschwerdeführer zwar nicht, fachgerichtlichen Rechtsschutz zu suchen, wenn dieser offensichtlich aussichtslos wäre5. Er greift aber ein, wenn eine anderweitige Möglichkeit besteht, den geltend gemachten Grundrechtsverstoß zu beseitigen. Beruht ein Eingriffsakt auf einer grundrechtsverletzenden Regelung, die Ausnahmen vorsieht, muss der Beschwerdeführer deshalb vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde versuchen, die Beseitigung des Eingriffsakts unter Berufung auf die Ausnahmeregelung zu erwirken6.

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Diese Grundsätze hat der Beschwerdeführer nicht beachtet. Im Ansatz zutreffend erkennt er, dass ihm ein Rechtsbehelf gegen die sitzungspolizeiliche Verfügung eines Bundesverfassungsgerichtsvorsitzenden beim Oberlandesgericht nicht zusteht7. Er übersieht allerdings, dass ein Beschwerdeführer vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde gehalten ist, dem geltend gemachten Grundrechtsverstoß entgegenzuwirken, indem er unter Berufung auf Ausnahmeregelungen beantragt, eine ihm eine durch eine abstrakte Regelung präventiv untersagte Handlung in dem ihn betreffenden Einzelfall zu erlauben.

Ein solcher Antrag erwiese sich hier nicht von vornherein als offensichtlich aussichtslos, denn das Verbot, in der Verhandlung mitzuschreiben, gilt nach der angegriffenen sitzungspolizeilichen Verfügung nicht ausnahmslos. Das Oberlandesgericht behält sich vor, nach entsprechender Prüfung eines begründeten Antrags Ausnahmen vom Mitschreibeverbot zuzulassen. Zwar ist in der angegriffenen Verfügung ausdrücklich nur vorgesehen, Zuschauern das Mitschreiben bei dargelegtem wissenschaftlichen Interesse zu gestatten. Der Strafsenat ist aber gehalten, jedes grundrechtsrelevante Vorbringen zu erwägen und zu bescheiden, denn er hat die Aufgabe, zunächst als Fachgericht die für eine tragfähige verfassungsrechtliche Prüfung erforderliche Tatsachenbasis zu ermitteln und die Grundrechte des Beschwerdeführers zu wahren und durchzusetzen8.

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 26. Januar 2022 – 2 BvR 75/22

  1. OLG Frankfurt am Main, Zweite Sitzungspolizeiliche Verfügung vom 14.12.2021 – 5 – 3 StE 2/21-4 – 2/21[]
  2. vgl. BVerfGE 68, 384 <388 f.> 77, 381 <401> 81, 97 <102> 140, 229 <232 f. Rn. 10>[]
  3. vgl. BVerfGE 4, 193 <198> 16, 124 <127> 51, 386 <396> 72, 39 <43>[]
  4. vgl. BVerfGE 8, 222 <227> 9, 3 <7> 72, 39 <43> 140, 229 <232 f. Rn. 10>[]
  5. vgl. BVerfGE 16, 1 <2 f.> 55, 154 <157> 102, 197 <208> 150, 309 <327 f. Rn. 45>[]
  6. vgl. BVerfGE 78, 58 <69>[]
  7. vgl. BGH, Beschluss vom 13.10.2015 – StB 10/15, StB 11/15 3 ff.; vgl. auch BVerfGE 91, 125 <133> 103, 44 <58> 119, 309 <317> offenlassend BVerfG, Beschluss vom 08.07.2016 – 1 BvR 1534/16, Rn. 2; Beschluss vom 06.09.2016 – 1 BvR 2001/16, Rn. 2[]
  8. vgl. BVerfGE 107, 395 <414>[]
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