Die Versagung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei einer unvorhergesehener Erkrankung am letzten Tag einer Frist stellt eine Verletzung der Grundrechte aus Artikel 19 Absatz 4 und Artikel 103 Absatz 1 GG dar.

19 Abs. 4 GG garantiert die Möglichkeit effektiven Rechtsschutzes1. Davon umfasst ist zum einen das formelle Recht, überhaupt Gerichte einschalten zu können2. Zum anderen ist die Effektivität des Rechtsschutzes und der gerichtlichen Kontrolle selbst Teil des Gewährleistungsgehalts des Art.19 Abs. 4 GG3. Auch der Anspruch des Beschwerdeführers auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) wird durch die Versagung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand berührt. Dieses Rechtsinstitut dient der Wahrung des Anspruchs aus Art. 103 Abs. 1 GG4. Wird die Wiedereinsetzung versagt, so wird dem Beschwerdeführer die Möglichkeit, seine Einwände wirksam vorzubringen, genommen.
Das gerichtliche Verfahren und die Ausübung der Rechte aus Art.19 Abs. 4 und Art. 103 Abs. 1 GG bedürfen der Ausgestaltung durch den Gesetzgeber, die an dem Ziel, dem Betroffenen wirksamen Rechtsschutz und eine effektive Äußerungsmöglichkeit zu vermitteln, zu messen ist. Die Ausgestaltung muss zweckgerichtet, geeignet, erforderlich und zumutbar sein und darf keine unangemessenen prozessrechtlichen Hürden für den Zugang zu den Gerichten und die Gewährung rechtlichen Gehörs eröffnen5. Der Zugang zu einer gerichtlichen Entscheidung in der Sache darf daher – vorbehaltlich verfassungsunmittelbarer Schranken – in keinem Fall ausgeschlossen, faktisch unmöglich gemacht oder in unzumutbarer, durch Sachgründe nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden6.
Zulässig ist es, den Zugang zu den Gerichten von der Erfüllung formeller Voraussetzungen, insbesondere von der Einhaltung bestimmter Fristen, abhängig zu machen7. Die Anforderungen, die an den Rechtsschutzsuchenden dabei gestellt werden, dürfen jedoch nicht überspannt werden8. Prozessuale Fristen dürfen deshalb bis zu ihrer Grenze ausgenutzt werden9. Dass ein Betroffener bis zum letzten Tag der Frist abwartet, ehe er eine fristgebundene prozessrechtliche Erklärung abgibt, kann ihm daher grundsätzlich nicht vorgeworfen werden. Lediglich dann, wenn dem Betroffenen hinsichtlich der Fristversäumnis ein Verschulden zur Last gelegt werden kann, kann ihm die Säumnis vorgehalten werden mit der Folge, dass Wiedereinsetzung in den vorigen Stand verweigert werden kann. Der Betroffene hat beispielsweise den Aufwand zu kalkulieren, der zeitlich und organisatorisch erforderlich ist, um den rechtzeitigen Eingang seiner Prozesserklärung in der vorgeschriebenen Form zu ermöglichen10.
Der Beschluss des Amtsgerichts Diepholz vom 30.09.201911 wird diesem Maßstab nicht gerecht. Das Amtsgericht verkennt die verfassungsrechtlichen Anforderungen, die an die Handhabung des Rechtsinstituts der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu stellen sind:
Dies gilt zunächst für die Versäumnis der Einspruchsfrist aufgrund Krankheit. Das Amtsgericht stützt seine Entscheidung maßgeblich darauf, dass der Beschwerdeführer den letzten Tag der Einspruchsfrist abwartete, ohne darzulegen, warum ihm die Erkrankung, auf die er sich beruft, zum Vorwurf zu machen sein sollte. Es geht vorliegend gerade nicht darum, dass der Beschwerdeführer den für den rechtzeitigen Eingang des Einspruchs erforderlichen Aufwand falsch kalkulierte. Dies verkennt das Amtsgericht und verwehrt ihm damit das Ausschöpfen der Einspruchsfrist.
Auch die Anforderungen, die das Amtsgericht hilfsweise an die Nachholung der versäumten Prozesshandlung stellt, verkennen den oben dargestellten Maßstab. Nach § 52 Abs. 1 OWiG in Verbindung mit § 45 Abs. 1 Satz 1 StPO hat der Beschwerdeführer im Falle schuldloser Säumnis die fragliche Prozesshandlung innerhalb einer Woche nachzuholen. Auch diese Frist kann er nach dem dargestellten Maßstab ausschöpfen12. Der Vorwurf, er habe nicht unverzüglich nach Wegfall der Erkrankung gehandelt, kann daher nicht als verfassungsrechtlich tragfähig angesehen werden.
Die fachgerichtliche Entscheidung beruht auf diesem Verfassungsverstoß und kann daher nicht aufrecht erhalten bleiben. Das Amtsgericht Diepholz stützte sich allein auf diese verfassungsrechtlich unzulässigen Erwägungen.
Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 14. Februar 2023 – 2 BvR 653/20
- vgl. BVerfGE 35, 263 <274> 40, 272 <275> 67, 43 <58> 84, 34 <49> 143, 216 <224 Rn. 18>[↩]
- vgl. BVerfGE 35, 263 <274>[↩]
- vgl. BVerfGE 35, 263 <274> 40, 272 <275> 51, 268 <284> 61, 82 <110 f.> 67, 43 <58> 84, 34 <49>[↩]
- vgl. BVerfGE 25, 158 <166> 26, 315 <318> 77, 275 <285 f.>[↩]
- vgl. BVerfGE 60, 253 <268 f.> 84, 34 <49>[↩]
- vgl. BVerfGE 40, 272 <274 f.> 44, 302 <305 f.> 149, 346 <363 Rn. 34>[↩]
- vgl. BVerfGE 9, 194 <199 f.> 10, 264 <267 f.>[↩]
- vgl. BVerfGE 25, 158 <166> 26, 315 <318> 31, 388 <390>[↩]
- vgl. BVerfGE 40, 42 <44> 41, 323 <328> 52, 203 <207> 69, 381 <385>[↩]
- vgl. BGH, Beschluss vom 12.03.2014 – 1 StR 74/14 6[↩]
- AG Diepholz, Beschluss vom 30.09.2019 – 18 OWi 114/18[↩]
- vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 29.07.1998 – 2 Ws 385/98 4[↩]