Vor dem Bundesverfassungsgericht war die Verfassungsbeschwerde eines Strafgefangenen gegen seine Verlegung aus einer sozialtherapeutischer Anstalt wegen der verzögerten gerichtlichen Bearbeitung seines Eilrechtsschutzantrags erfolgreich.

In dem entschiedenen Fall wandte sich der Strafgefangene gegen die Verlegung aus der Sozialtherapeutischen Anstalt in den Regelvollzug der Justizvollzugsanstalt Tegel in Berlin. Am 12.10.2022 teilte die Leiterin derSozialtherapeutischen Anstalt dem Strafgefangenen mündlich mit, dass seine (Rück-)Verlegung in den Regelvollzug der Justizvollzugsanstalt Tegel geplant sei. Am 14.10.2022 beantragte der Strafgefangene bei der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Berlin fachgerichtlichen Eilrechtsschutz und Prozesskostenhilfe und begründete den Antrag. Mit Schriftsatz vom 31.10.2022, der beim Landgericht Berlin am selben Tag um 14:26 Uhr einging, nahm die Justizvollzugsanstalt Tegel dahingehend Stellung, dass der einstweilige Rechtsschutzantrag als unbegründet zurückzuweisen sei. Am 21.11.2022 notierte der zuständige Richter des Landgerichts in der fachgerichtlichen Akte des Eilverfahrens, dass er zwischen dem 1. und 17.11.2022 erkrankt gewesen sei. Seitdem sei er mit dem Abfassen von Urteilsgründen in einem anderen Verfahren befasst. Eine Bearbeitung der gegenständlichen Akte sei derzeit nicht möglich.
Mit Schreiben vom 25.11.2022 führte der Strafgefangene aus, dass er bereits am 14.10.2022 einen einstweiligen Rechtsschutzantrag gestellt habe. Dennoch sei er am 25.11.2022 in den Regelvollzug verlegt worden. Das Landgericht müsse feststellen, dass die Verlegung „widerrechtlich vollzogen“ werde. Mit gerichtlichem Schreiben vom 15.12.2022 wies das Landgericht darauf hin, dass mit der Verlegung aus derSozialtherapeutischen Anstalt in Bezug auf das einstweilige Rechtsschutzbegehren Erledigung eingetreten sei und angeregt werde, die Sache „kostenfrei wegzulegen“. Einer Stellungnahme werde binnen zehn Tagen entgegengesehen. Mit dem hier angegriffenem Beschluss vom 12.01.2023 wies das Landgericht Berlin den einstweiligen Rechtsschutzantrag als unzulässig und den Prozesskostenhilfeantrag mangels Erfolgsaussichten ab1. Der Strafgefangene sei bereits in den Regelvollzug verlegt worden. Sein Begehren im einstweiligen Rechtsschutzverfahren, den Vollzug der angefochtenen Verlegungsmaßnahme auszusetzen, könne nicht mehr erreicht werden. Auch die von ihm begehrte „Feststellung der Rechtswidrigkeit der mündlichen Eröffnung der geplanten Herausnahme“ aus derSozialtherapeutischen Anstalt könne mangels Eilbedürftigkeit nicht im Eilrechtsschutzverfahren durchgesetzt werden. Hiergegen richtete sich die Verfassungsbeschwerde des Strafgefangenen.
Das Bundesverfassungsgericht nahm die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte des Strafgefangenens angezeigt ist (vgl. § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG); die zulässige Verfassungsbeschwerde sei offensichtlich begründet (vgl. § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG), der angegriffene Beschluss des Landgerichts Berlin vom 12.01.2023 verletzt den Strafgefangenen in seinem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Art.19 Abs. 4 GG:
19 Abs. 4 GG gewährleistet nicht nur das formelle Recht und die theoretische Möglichkeit, die Gerichte anzurufen, sondern gibt dem Rechtsschutzsuchenden Anspruch auf eine tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle2. Aus dieser grundgesetzlichen Garantie folgt zugleich das Verfassungsgebot, soweit als möglich zu verhindern, dass durch die sofortige Vollziehung einer hoheitlichen Maßnahme Tatsachen geschaffen werden, die auch dann, wenn sich die Maßnahme bei richterlicher Prüfung als rechtswidrig erweist, nicht mehr rückgängig gemacht werden können3. Zwar gewährleistet Art.19 Abs. 4 GG die aufschiebende Wirkung von Rechtsbehelfen nicht schlechthin4. Somit ist es von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden, wenn der Gesetzgeber im Bereich des Strafvollzugs – im Gegensatz etwa zu der für die Anfechtung von Verwaltungsakten im Verwaltungsprozess geltenden Regelung (§ 80 Abs. 1 VwGO) – die sofortige Vollziehung als Regel und die Aussetzung des Vollzugs als Ausnahme vorsieht, weil er grundsätzlich den sofortigen Vollzug der angeordneten Maßnahmen aus Gründen des überwiegenden öffentlichen Interesses für geboten hält. Dabei muss jedoch gewährleistet sein, dass der Betroffene umgehend eine gerichtliche Entscheidung darüber herbeiführen kann, ob im konkreten Einzelfall das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung oder aber das Interesse des Einzelnen an der Aussetzung der Vollziehung bis zur Nachprüfung der Rechtmäßigkeit der Maßnahme überwiegt. Bei dieser Abwägung fällt der Rechtsschutzanspruch des Betroffenen umso stärker ins Gewicht, je schwerer die ihm auferlegte Belastung ist und je mehr die Maßnahme der Exekutive Unabänderliches bewirkt5.
Für die Gerichte ergeben sich aus der verfassungsrechtlichen Gewährleistung des effektiven Rechtsschutzes Anforderungen auch für den vorläufigen Rechtsschutz. Ein Gericht verletzt Art.19 Abs. 4 GG durch die Auslegung des Prozessrechts, wenn dadurch ein gesetzlich gegebener Rechtsbehelf ineffektiv wird6. Die Auslegung und Anwendung der jeweiligen gesetzlichen Bestimmungen muss darauf ausgerichtet sein, dass der Rechtsschutz sich auch im Eilverfahren nicht in der bloßen Möglichkeit der Anrufung eines Gerichts erschöpft, sondern zu einer wirksamen Kontrolle in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht führt7.
Die Garantie effektiven Rechtsschutzes nach Art.19 Abs. 4 GG beinhaltet dabei auch einen Anspruch auf einen zeitgerechten Rechtsschutz8. Insbesondere der vorläufige Rechtsschutz im Eilverfahren hat so weit wie möglich der Schaffung vollendeter Tatsachen zuvorzukommen, die nicht mehr rückgängig gemacht werden können, wenn sich eine Maßnahme bei endgültiger richterlicher Prüfung als rechtswidrig erweist3. Je gewichtiger die drohende Grundrechtsverletzung und je höher ihre Eintrittswahrscheinlichkeit ist, desto intensiver hat die tatsächliche und rechtliche Durchdringung der Sache bereits im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes zu erfolgen9. Allgemein gültige Zeitvorgaben lassen sich aus der Verfassung aber nicht ableiten. Wann von einer unangemessenen Verfahrensdauer auszugehen ist, ist vielmehr eine Frage der Abwägung im Einzelfall10. Die Angemessenheit der Dauer eines Verfahrens ist nach den besonderen Umständen des einzelnen Falles zu bestimmen11.
Auf Umstände, die innerhalb des staatlichen Verantwortungsbereichs liegen, wie etwa eine allgemein angespannte Personalsituation, kann sich der Staat zur Rechtfertigung der überlangen Dauer eines Verfahrens nicht berufen. Er muss vielmehr alle notwendigen Maßnahmen treffen, damit Gerichtsverfahren innerhalb angemessener Zeit beendet werden können12. Dies gilt auch für die Auswirkungen auf das gerichtliche Verfahren im Falle der Erkrankung des zuständigen Richters. Es obliegt dem Gericht und damit dem Staat, die erforderliche Vertretung eines erkrankten Richters sicherzustellen oder andere geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um Verzögerungen durch einen krankheitsbedingten Ausfall auf ein Maß zu reduzieren, das dem Anspruch auf Rechtsschutz in angemessener Zeit Rechnung trägt13.
Diesen Anforderungen ist das Landgericht in der angegriffenen Entscheidung im Eilrechtsschutzverfahren nicht gerecht geworden.
Die erst am 12.01.2023 getroffene Entscheidung des Landgerichtsüber den Eilrechtsschutzantrag des Strafgefangenens vom 14.10.2022 wird einer effektiven und den Anforderungen des Art.19 Abs. 4 GG genügenden Ausgestaltung des vorläufigen Rechtsschutzverfahrens nicht mehr gerecht. Unter Berücksichtigung der Dringlichkeit wäre eine zügige Bearbeitung des Eilrechtsschutzantrags geboten gewesen. Dies gilt umso mehr, als die bereits bei Antragstellung am 14.10.2022 angekündigte Verlegung erst sechs Wochen später, am 25.11.2022, vollzogen worden ist. Hinzu kommt, dass die Justizvollzugsanstalt dem Gericht mit Schriftsatz vom 31.10.2022 bereits mitgeteilt hatte, dass sich der Strafgefangene zwar aktuell noch in derSozialtherapeutischen Anstalt befinde, die Verlegung nunmehr aber im Eingliederungs- und Vollzugsplan vom 28.10.2022 beschlossen worden sei. Die Erkrankung des zuständigen Richters vom 01. bis zum 17.11.2022 oder die Notwendigkeit, Urteilsgründe in einem anderen anhängigen Verfahren abfassen zu müssen, vermögen die vorliegende verzögerte Bearbeitung des Eilverfahrens nach den dargelegten verfassungsrechtlichen Maßstäben nicht zu rechtfertigen. Zwar steht einem Gericht für die Bearbeitung anhängiger Verfahren grundsätzlich ein Ermessensspielraum zu, innerhalb dessen es aufgrund eigener Gewichtung Prioritäten setzen kann14. Eine solche Prioritätensetzung darf aber insbesondere in einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht dazu führen, dass Anträge wegen Zeitmangels nicht mehr zu einer wirksamen Kontrolle in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht führen beziehungsweise der Eintritt vollendeter Tatsachen durch das Gericht in Kauf genommen wird.
Die Auslegung und Anwendung des § 114 Abs. 2 StVollzG durch das Landgericht verfehlt zudem die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Gewährung effektiven Rechtsschutzes bei belastenden Maßnahmen. Das Gericht kann nach § 114 Abs. 2 StVollzG den Vollzug einer angefochtenen Maßnahme aussetzen, wenn die Gefahr besteht, dass die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert wird, und ein höher zu bewertendes Interesse an dem sofortigen Vollzug nicht entgegensteht. Begehrt ein Gefangener Eilrechtsschutz gegen eine (anstaltsinterne) Verlegung, so geht es um die vorläufige Aussetzung einer ihn belastenden Maßnahme gemäß § 114 Abs. 2 Satz 1 StVollzG. Dies gilt insbesondere auch dann, wenn die Verlegung bereits vollzogen wurde15 und der Antragsteller im Eilverfahren zugleich die Rückgängigmachung des Vollzugs dieser Maßnahme begehrt16.
Bei einem Eilrechtsschutzersuchen gegen eine anstaltsinterne Verlegung führt deren Vollzug deshalb als solcher grundsätzlich nicht zum Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses des Antragstellers. Die vorläufige Aussetzung des Vollzugs ist vielmehr, sofern die Voraussetzungen für eine stattgebende Eilentscheidung im Übrigen vorliegen, gerade der typische; vom Gesetzgeber vorgesehene Regelungsgehalt des gerichtlichen vorläufigen Rechtsschutzes gegen belastende Maßnahmen17. Entsprechend kann in diesen Fällen auch nicht davon ausgegangen werden, dass das Gericht bei einer stattgebenden Entscheidung im Eilrechtsschutzverfahren die Hauptsache vorwegnehmen würde18. Die Annahme des Landgerichts, dass mit dem Vollzug der Verlegung des Strafgefangenens von derSozialtherapeutischen Anstalt in den Regelvollzug Erledigung eingetreten sei und der Strafgefangene zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung sein Rechtsschutzziel im Eilrechtsschutzverfahren nicht mehr erreichen könne, ist daher mit den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Gewährung effektiven Rechtsschutzes nicht vereinbar.
Da der angegriffene Beschluss des Landgerichts schon wegen Verstoßes gegen das Recht auf effektiven Rechtsschutz verfassungswidrig ist, kann für das Bundesverfassungsgericht offenbleiben, ob dieser auch weitere Grundrechte oder grundrechtsgleiche Rechte des Strafgefangenens verletzt.
Nach § 93c Abs. 2, § 95 Abs. 2 BVerfGG war der angegriffene Beschluss des Landgerichts Berlin vom 12.01.2023 vom Bundesverfassungsgericht aufzuheben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Landgericht Berlin zurückzuverweisen.
Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 24. März 2023 – 2 BvR 116/23
- LG Berlin, Beschluss vom 12.01.2023 – 584 StVK 251/22 Vollz[↩]
- vgl. BVerfGE 35, 382 <401 f.> 37, 150 <153> 101, 397 <407> stRspr[↩]
- vgl. BVerfGE 37, 150 <153> 65, 1 <70>[↩][↩]
- vgl. BVerfGE 65, 1 <70>[↩]
- vgl. BVerfGE 37, 150 <153> 35, 382 <402>[↩]
- vgl. BVerfGE 40, 272 <274 f.> 54, 94 <96 f.> 78, 88 <96>[↩]
- vgl. BVerfGE 49, 220 <226> 77, 275 <284> BVerfGK 1, 201 <204 f.> 11, 54 <60>[↩]
- vgl. BVerfGE 55, 349 <369> 60, 253 <269> 88, 118 <124> 93, 1 <13> BVerfGK 5, 155 <158>[↩]
- vgl. BVerfGE 79, 69 <75> BVerfG, Beschluss vom 21.04.2021 – 1 BvR 683/21 und 1 BvQ 40/21, Rn. 4; Beschluss vom 25.05.2022 – 2 BvR 167/22, Rn.20, jeweils m.w.N.[↩]
- vgl. BVerfGE 55, 349 <369> BVerfGK 5, 155 <158>[↩]
- vgl. BVerfGE 55, 349 <369> 60, 253 <269>[↩]
- vgl. BVerfGE 36, 264 <274 f.> BVerfG, Beschluss vom 02.07.2003 – 2 BvR 273/03, Rn. 13; BVerfG, Beschluss vom 29.03.2005 – 2 BvR 1610/03, Rn. 13; BVerfG, Beschluss vom 10.01.2023 – 1 BvR 1346/22, 1 BvR 1349/22, Rn. 15[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 10.01.2023 – 1 BvR 1346/22, 1 BvR 1349/22, Rn. 15[↩]
- vgl. BVerfGE 55, 349 <369> BVerfG, Beschluss vom 29.03.2005 – 2 BvR 1610/03, Rn. 12; BVerfG, Beschluss vom 10.01.2023 – 1 BvR 1346/22, 1 BvR 1349/22, Rn. 12[↩]
- vgl. BVerfGK 8, 64 <65 f.> 11, 54 <61> BVerfG, Beschluss vom 25.07.1989 – 2 BvR 896/89, BeckRS 2016, 43311; BVerfG, Beschluss vom 29.05.2015 – 2 BvR 869/15, Rn. 16[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 20.04.2007 – 2 BvR 203/07, Rn. 24 f.[↩]
- vgl. BVerfGK 1, 201 <206> 7, 403 <409> 8, 64 <65 f.> 11, 54 <61> BVerfG, Beschlüsse vom 24.03.2009 – 2 BvR 2347/08, Rn. 12; und vom 03.05.2012 – 2 BvR 2355/10, 2 BvR 1443/11 13; Beschlüsse vom 20.04.2007 – 2 BvR 203/07, Rn. 26; und vom 29.05.2015 – 2 BvR 869/15, Rn. 17[↩]
- vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 20.04.2007 – 2 BvR 203/07, Rn. 26; und vom 29.05.2015 – 2 BvR 869/15, Rn. 17[↩]
Bildnachweis:
- Sozialtherapeutische Anstalt in der JVA Tegel: Rafael Galejew | CC BY-SA 4.0 International