Diebstahl oder Unterschlagung – oder: Das auf der Flucht verlorene Mobiltelefon

Wird ein Gegenstand in einem öffentlichen, mithin für jede Person zugänglichen Bereich ohne Möglichkeit der weiteren Einwirkung auf die Sache liegen gelassen, liegt kein (gelockerter) Gewahrsam mehr vor.

Diebstahl oder Unterschlagung – oder: Das auf der Flucht verlorene Mobiltelefon

In dem hier vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fall hatte der Geschädigte nach einem Gerangel die Flucht ergriffen und dabei sein Mobiltelefon „verloren“. Dem Geschädigten war bei der Flucht klar, dass er Hab und Gut am Ereignisort zurückgelassen hatte und beschloss schon zu diesem Zeitpunkt, später zurückzukehren und die Sachen wieder an sich zu nehmen. Auch der Angeklagte und sein Begleiter setzten zunächst ihren Weg fort. Als sie auf ihrem Rückweg am Ort des Geschehens vorbeikamen, „fand“ der Angeklagte das Mobiltelefon des Geschädigten und entschloss sich, dieses an sich zu nehmen, um es für sich zu behalten.

Das Landgericht Dresden hat dieses Tatgeschehen als Diebstahl bewertet1. Es liege nicht lediglich eine Unterschlagung nach § 246 Abs. 1 StGB vor, da der Gewahrsam des Geschädigten nur gelockert gewesen sei. Denn dieser habe gewusst, dass er das Mobiltelefon am Tatort zurückgelassen hatte, und von vornherein beabsichtigt zurückzukehren und es wieder an sich zu nehmen. Dem widersprach nun der Bundesgerichtshof: Der Angeklagte hat bei der Ansichnahme des Mobiltelefons keinen für die Erfüllung des Diebstahltatbestandes vorausgesetzten fremden, auch keinen gelockerten Gewahrsam gebrochen.

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Gewahrsam ist die von einem Herrschaftswillen getragene tatsächliche Sachherrschaft. Ein einmal begründeter Gewahrsam besteht fort, solange der Gewahrsamsinhaber noch Einwirkungsmöglichkeiten auf die Sache hat. Entscheidend für die Frage des Wechsels der tatsächlichen Sachherrschaft ist, dass der Täter die Herrschaft über die Sache derart erlangt, dass er sie ohne Behinderung durch den alten Gewahrsamsinhaber ausüben kann2 und dieser über die Sache nicht mehr verfügen kann, ohne seinerseits die Verfügungsgewalt des Täters zu brechen. Ob die tatsächliche Sachvorherrschaft vorliegt bzw. wer sie innehat, bemisst sich nach den Umständen des Einzelfalls und den Anschauungen des täglichen Lebens3.

Gemessen daran hatte der Geschädigte hier zum Zeitpunkt der Mitnahme des Mobiltelefons durch den Angeklagten keinen Gewahrsam. Dieser war nicht am Ort des Geschehens und so tatsächlich nicht in der Lage, auf das im öffentlichen Raum liegende Mobiltelefon einzuwirken. Vielmehr konnte der Angeklagte ungehindert das Mobiltelefon an sich nehmen.

Zwar kann der Gewahrsam in gelockerter Form fortbestehen, etwa dann, wenn der Gewahrsamsinhaber durch eine Täuschung veranlasst scheinbar kurzfristig einen Gegenstand an den Täter übergibt4 oder eine räumliche Entfernung vorliegt, wenn beispielsweise ein Landwirt Geräte auf dem Feld zurücklässt5. Anderes gilt jedoch, wenn der Gegenstand – wie hier – in einem öffentlichen, mithin für jede Person zugänglichen Bereich liegt und der ortsabwesende Geschädigte nicht in der Lage ist, auf die Sache einzuwirken und so die Sachherrschaft gemäß seinem Willen auszuüben.

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Der Angeklagte hat sich daher nicht wegen eines Diebstahls, sondern wegen einer (Fund)Unterschlagung nach § 246 Abs. 1 StGB strafbar gemacht.

Bundesgerichtshof, Beschluss vom 14. April 2020 – 5 StR 10/20

  1. LG Dresden, Urteil vom 05.09.2019 931 Js 11813/19 15 KLs[]
  2. BGHSt 16, 271, 273; BGH, Urteil vom 06.03.2019 – 5 StR 593/18, NStZ 2019, 613, 614[]
  3. BGH, Beschluss vom 09.01.2019 – 2 StR 288/18 5; Beschluss vom 21.03.2019 – 3 StR 333/18, NStZ 2019, 726, 727[]
  4. vgl. BGH, Urteil vom 12.10.2016 – 1 StR 402/16, BGHR StGB § 242 Abs. 1, Wegnahme 16; BGH, Beschluss vom 24.04.2018 – 5 StR 606/17, juris; BGH, Beschluss vom 13.11.2019 – 3 StR 342/19[]
  5. BGHSt 16, 271, 273; vgl. auch Schönke/Schröder/Bosch, StGB, 30. Aufl., § 242 Rn. 26; SSWKudlich, StGB, 4. Aufl., § 242 Rn.19[]

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